Terrorismus
Gilles Kepel über die Fehleinschätzungen der Dschihadisten und ihrer Gegner
Gilles Kepel ist dem deutschen Leser bestens bekannt: bislang veröffentlichte er hierzulande sieben Bücher über Islamismus und Terrorismus. Zum Standard seiner Publikationen gehört die intensive Analyse der arabischen Quellen - ein Qualitätsmerkmal, das Kepels Bücher trefflich von den vielen oberflächlichen Arbeiten sogenannter "Terrorismus-Experten" unterscheidet.
Mit seiner neuen Studie hat sich der französische Islam-Kenner viel vorgenommen: Er will die Ereignisse vom 11. September 2001 sowie die Terrorakte in London und den Niederlanden und die Aufstände in den Pariser Vorstädten miteinander in Beziehung setzen. Kepel arbeitet zwei "Große Erzählungen" heraus: die eine handelt vom "Terror", die andere vom "Martyrium". Die eine "Erzählung" steht für die Visionen der Politiker, die andere für das Programm der Terroristen.
Vernichtend fällt die Kritik Kepels an Ex-Präsident George W. Bush aus, der mit seiner "Vision" vom "Krieg gegen der Terror" den Nahen und Mittleren Osten demokratisieren wollte und dazu zwei Kriege in Afghanistan und im Irak führte. In der Theorie sollten diese "Demokratien" allein durch ihre Existenz den Sturz des Regimes im Iran beschleunigen und den Dschihad stoppen. Das Gegenteil trat ein: Die in "think tanks" ersonnenen Szenarien hatten zur Folge, dass der Irak im Bürgerkrieg versank und im Iran der radikalere Kandidat, Mahmud Ahmadinedschad, die Präsidentschaftswahl gewann. Auch das Streben Teherans nach Atomwaffen geht ursächlich auf den "Krieg gegen den Terror" zurück. Denn die A-Bomben sollen das Überleben des Regimes garantieren und die Spannungen in der Subregion vertiefen.
Auch die zweite "Große Erzählung" von Osama bin Laden und dem "weltweiten Martyrium der Moslems" gilt als gescheitert: Tatsächlich förderte der 11. September die Frustration in der Umma weit stärker als vom Terror-Paten erwartet. Obwohl in der Folge zu allem entschlossene Terroristen in die islamischen Organisationen strömten und eine Welle brutaler Anschläge von sich reden machten - insgesamt kommt die Bilanz dieses blutigen Dschihads gegen "Ungläubige und Kreuzritter" einer Niederlage gleich. Zu Recht weist Kepel darauf hin, dass es Osama bin Laden nicht gelang, die eine Milliarde Moslems von seinem "Heiligen Krieg" zu überzeugen. Nimmt man allein die Zahl der bei Terrorakten ermordeten Menschen, stellt man fest, dass das angestrebte Märtyrertum zu einem innerislamischen Krieg führte: Schiiten kämpfen gegen Sunniten und radikale Islamisten gehen gegen gemäßigte Moslems vor. Auch die Terroranschläge in Europa konnten bislang nur wenige Muslime und Konvertiten für das "Heilige Chalifat" mobilisieren. Überzeugend widerlegt Kepel die Begründungen der "Multikulturalisten" für die Attentate in Großbritannien und in den Niederlanden. Allerdings ist nicht nachvollziehbar, warum er meint, ausgerechnet London sei "am schlimmsten von islamischen Anschlägen getroffen". Bekanntlich starben in den Madrider Vorortzügen viel mehr Menschen.
Aufschlussreich sind die Ausführungen des Autors in Bezug auf Frankreich: Kenntnisreich vermag er zu begründen, warum die "Grande Nation" von der Welle des Dschihads verschont blieb, obwohl im Lande fünf Millionen Muslime leben, während es in Großbritannien nur bis zu zwei Millionen sind. Mit Blick auf den algerischen Terrorismus Mitte der 1990er Jahre habe sich Paris viel früher auf diese Herausforderungen eingestellt. Unterdessen hätten die Al-Qaida-Ideologen in "Londonistan" ungehindert für den "Heiligen Krieg" geworben.
Am Ende offenbart der Autor seine eigene "Große Erzählung": Die Europäer fordert er auf, sich zusammen mit dem islamischen Mittelmeerraum - die Region reicht bis zu Levante und Golfregion - den Herausforderungen dieser Kultur zu stellen. Nur so könne der gemeinsame Untergang verhindert werden.
Die Spirale des Terrors. Der Weg des Islamismus vom 11. September bis in unsere Vorstädte.
Piper Verlag, München 2009; 360 S., 22,95 ¤