URNENGANG
Die größte Demokratie der Welt wählt ab April ein neues Parlament. Über 50 Parteien kämpfen schon jetzt in Indien um über 700 Millionen Wähler
Es ist Wahlkampf in Indien und die ersten Verlierer stehen schon fest. Mit bunten Klarsichtmäppchen unter dem Arm warten sie geduldig vor der Zentrale der Kongress-Partei in der Akbar Road in Neu Delhi auf Einlass. Drinnen werden gerade die Delegierten für den bettelarmen Bundesstaat Bihar, im Norden Indiens bestimmt. Hunderte Möchtegern-Kandidaten aus Bihar haben sich auf den Weg in die Hauptstadt gemacht und warten hier nun jeden Tag von morgens um zehn bis tief in die Nacht auf ihre Chance. Es wäre ein Wunder, wenn auch nur einer von ihnen für einen Parlamentssitz kandidieren dürfte.
Indiens etwa 700 Millionen Stimmberechtigte sind aufgerufen, zwischen dem 14. April und 14. Mai ein neues Parlament zu wählen. Es ist die größte Übung in Demokratie weltweit, deren Version allerdings kaum mit westlichen Maßstäben zu fassen ist. Zur Wahl stehen neben Berufspolitikern auch Filmstars, Kriminelle, Großgrundbesitzer, Bauernfunktionäre, der Boss einer Fluggesellschaft, ehemalige Cricket-Spieler, eine Tänzerin und eine resolute Volksschullehrerin, die bei Parlamentsdebatten schon mal Kontrahenten am Kragen packt. Über 50 Parteien treten an. In der vergangenen Legislaturperiode hatte die Lokh Sabha, wie das Unterhaus des indischen Parlaments genannt wird, 545 Mitglieder. Fast alle Sitze werden nach dem Mehrheitswahlrecht direkt für fünf Jahre gewählt. Nach dem britischen Modell "First win the post, then win the poll" muss eine Partei zuerst den Wahlkreis gewinnen, um bei der Abstimmung zu siegen. Bei einem Land mit über 1,1 Milliarden Einwohnern haben die Stimmbezirke erhebliche Dimensionen.
Etwa 1,3 Millionen Stimmberechtigte leben im Wahlkreis Sitamahri in Bihar an der Grenze zu Nepal. Für ihn will Shashi Shekhar von der Kongress-Partei ein Ticket ergattern. Seit einer Woche steht der 50-Jährige vor dem Tor der Parteizentrale in Neu Delhi. 22 Stunden Zugfahrt hat er auf sich genommen. Zu jeder Wahl versucht Shekar es von Neuem, bislang ohne Erfolg. "Ich bete zu Gott", sagt er. In seinem blauem Mäppchen finden sich neben einem groß gedruckten Lebenslauf auch Dokumente, die beweisen sollen, wie nahe Shekhar zur Gandhi-Familie steht, die seit der Unabhängigkeit Indiens die Geschicke der Kongress-Partei bestimmt. Stolz zeigt er ein handgeschriebenes Empfehlungsschreiben des verstorbenen Premierministers Rajiv Gandhi für seinen Neffen. Das vergilbte Papier ist 19 Jahre alt.
Vor zwei Jahrzehnten war die indische Demokratie noch hauptsächlich eine Einparteienveranstaltung. Die Kongress-Partei regierte, die Ansprüche der Wähler waren gering. Doch seit Ende der 1980er Jahre wandelt sich das Bild. Immer mehr kleine Parteien erkämpfen sich einen Platz im Parlament - wie in Bihar, wo seit Jahren die Rashtriya Janata Dal (RJD) die Politik bestimmt und die Kongress-Partei meist nur Sitze holen konnte, wenn sie vorher Wahlabsprachen mit der RJD traf. Indiens Politik gleicht so immer mehr einem Pilaw, dem safrangelben Reisgericht, in das alles hineinkommt, was es in der indischen Küche gibt.
Der Erfolg der Regionalparteien beruht auf einem einfachen Mechanismus. Weil in Indien Wahlkreise und nicht Stimmprozente gewonnen werden müssen, entscheiden an der Basis meist Alltagsprobleme und nicht die große Politik. Die Terror-Anschläge in der Finanzmetropole Mumbai im November 2008 interessieren im armen Bihar kaum jemanden, wo es an Strom, Wasser, Straßen und Arbeit mangelt. Über 70 Prozent der indischen Bevölkerung leben auf dem Lande abgekoppelt vom glitzernden Indien der Call-Center und IT-Firmen. Kein Wunder, dass die Wähler als unberechenbar gelten. Die Menschen wählten etwa 1996 die Regierung von Narasimha Rao gnadenlos ab, obwohl sie das Wunder vollbrachte, den Staat vom drohenden Bankrott zu jährlichen Wachstumsraten von über sechs Prozent zu führen.
Die aktuelle Regierung unter Premierminister Manmohan Singh kann auf solche Erfolge nicht zurückblicken: Die Kongress-Partei hatte in den vergangenen fünf Jahren eine Minderheitsregierung aus zuletzt zehn Parteien geführt, die von einer linken Front aus vier Parteien und von einzelnen Abgeordneten weiterer Parteien plus unabhängigen Kandidaten gestützt wurde - eine mehr als wacklige Konstruktion. Hinzu kommen jetzt die Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Sie trifft das Land offenbar härter, als man lange wahrhaben wollte: Das Wirtschaftswachstum geht zurück, die Arbeitslosigkeit steigt.
Kongress-Spitzenkandidat Singh ist inzwischen 76 Jahre alt und hat gerade seine zweite Bypass-Operation hinter sich. Die starke Frau im Hintergrund ist vielmehr Parteichefin Sonia Gandhi, die Witwe des früheren Premierministers Rajiv Gandhi. Weil sie als gebürtige Italienerin und Katholikin immer wieder heftigen Angriffen ausgesetzt ist, hat sie Singh als Frontmann vorgeschickt. Die 60-Jährige führt die Polit-Dynastie zunächst weiter, um das Zepter bald an ihren Sohn, Rahul Gandhi, abzugeben. Auf dem 38-jährigen Kronprinzen ruhen die Hoffnungen der Partei. "Die Kongress-Partei geht davon aus, dass das nächste Parlament wegen seiner fragmentierten Zusammensetzung nicht lange halten wird und bereitet schon den Boden für die übernächste Wahl vor", urteilt der Politikanalyst Pankaj Vohra in der "Hindustan Times".
Ähnliche Überlegungen scheinen auch bei der größten Oppositionpartei, der hindu-nationalistischen BJP, zu herrschen. Ihr Spitzenkandidat, Lal Krishna Advani, ist 81 Jahre alt. Auch er ist ein Kompromiss. Viele hoffen, dass er bald der neuen Garde Platz macht, die mit Rajendra Modi, dem Ministerpräsidenten des Bundesstaates Gujaratin, bereits in den Startlöchern steht.
"Für keine Partei gibt es einen sicheren Weg zum Sieg", prophezeit Indiens bekanntester Wahlanalytiker Yogendra Yada bereits. Kein einzelner Kandidat könne auf nationaler Ebene die Parlamentswahl entscheiden. Laut einer Umfrage des indischen Fernsehsenders CNN-IBN erreicht kein Politiker einen Zuspruchswert von mehr als 20 Prozent. Indiens Wähler entscheiden nach Persönlichkeiten. Doch die fehlen in diesem Wahlkampf.
Varun Gandhi, der Sohn der abtrünnigen Schwägerin von Sonia Gandhi, die vor Jahren schon zur BJP übergelaufen ist, hat gerade mit einer Hassrede gegen indische Muslime Schlagzeilen gemacht. Für seine Ausfälle gegen die religiöse Minderheit ließ der 29-Jährige sich publikumswirksam in Haft nehmen. Varun kämpft für die BJP um seinen Wahlkreis in Uttar Pradesh, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat Indiens. Doch auch sein Wahlerfolg hängt an einem seidenen Faden. Weil für diese Wahl erstmals seit 33 Jahren die Wahlkreise neu gezogen wurden, hat sich die Wählerschaft stark verändert. Um überhaupt eine Chance zu haben, spielt Varun jetzt die hindu-nationalistische-Karte, weil er praktisch alle Hindus in seinem Stimmbezirk auf seine Seite ziehen muss, um den Sitz in der Lokh Sabha zu gewinnen.
Eine Schlüsselrolle könnte Kumari Mayawati, der Regierungschefin von Uttar Pradesh, zukommen. Die Frau aus der Kaste der früheren sogenannten "Unberührbaren", den Dalits, möchte Premierministerin Indiens werden und hofft darauf, dass ihre Bahujan Samaj Party (BSP) zusammen mit verschiedenen Linksparteien eine dritte Front bilden kann. Doch Mayawati hat so viele glühende Anhänger wie sie erbitterte Feinde hat: Zwei Drittel aller Inder würden die Dalit-Politikerin nicht einmal zum Essen einladen. Ein Sieg Mayawatis würde das politische System Indiens weiter polarisieren. Doch ein anderer Anker, der das Gebilde stabilisieren könnte, ist nicht in Sicht.