Wie erinnern wir uns an die Entstehung des Grundgesetzes vor 60 Jahren? Welche Geschichten der Verfassung erzählen wir uns? Wie erkennen wir die deutsche Nachkriegsgeschichte im vielfach veränderten Text unserer Verfassung wieder?
Für eine zunehmend heterogene Gesellschaft ist die Besinnung auf die Verfassung und ihre Geschichte eine Chance. Die Bindungskraft religiöser Bekenntnisse und sozialer Herkünfte sowie die Verbindlichkeit bürgerlicher Moralvorstellungen nehmen ab. Umso mehr bietet das Gespräch über das Grundgesetz die Möglichkeit einer Verständigung über Grundlagen des Gemeinwesens, die über den reinen Normtext hinausweist. Das Potenzial einer in diesem Sinne verstandenen Verfassungsgeschichtsschreibung haben sowohl Juristen als auch Historiker bisher kaum erschlossen. Die Staatsrechtslehre konzentrierte ihren Blick in der Vergangenheit vor allem auf rechtsdogmatische Fragestellungen und die formalen Veränderungen des Grundgesetzes. In der zeitgeschichtlichen Historiographie blieb das Grundgesetz meist ein Randthema. Sechzig Jahre nach seiner Verabschiedung geht es deshalb darum, Verfassungsnarrative zu entwickeln: Formen des Erzählens, in denen erkennbar wird, wie sich die Nachkriegsgeschichte der Deutschen im Grundgesetz spiegelt, das von Beginn an als Verfassung aller Deutschen angelegt war.
Das Grundgesetz stand dabei in einem Spannungsfeld, das es zu einer unvollkommenen, damit aber notwendigerweise in unterschiedliche Richtungen offenen Verfassung machte. Wer war eigentlich mit den "Deutschen" gemeint, für die das Grundgesetz seine Geltung beanspruchte und in Aussicht stellte? Welche Vorstellungen von der deutschen Nation waren für das Grundgesetz und den Umgang mit ihm prägend? Jahrzehntelang konkurrierten in der Bundesrepublik noch Konzepte einer aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart fortwirkenden "Reichsnation" sowie teilweise rassistisch geprägte Ideen der "Volksnation" mit dem modernen Verständnis einer Staatsbürgernation, die sich durch die staatsbürgerlichen Rechte der Mitglieder des Staatsangehörigenverbandes definiert.
Die Deutschen haben sich das Grundgesetz in diesem Sinne als eine Verfassung zu eigen gemacht, die nicht allein den formalen Bauplan für den Staat und das Funktionieren seiner Organe liefert, sondern jedem Einzelnen fundamentale Rechte gewährleistet. Die Grundrechteverfassung hatte ihre Gründerzeit in den 1950er Jahren, als das skandalös-neuartige Bundesverfassungsgericht in einem zähen Machtkampf mit einer bis an die Spitze von einstigen Nationalsozialisten durchsetzten Justiz die Deutungshoheit über das Grundgesetz erkämpfte. Nun konnten Bürgerinnen und Bürger auf mühsamen Rechtswegen bis nach Karlsruhe für ihre neuen Rechte streiten. Staatsrechtler wie Rudolf Smend halfen ihnen, indem sie den obrigkeitsstaatlichen Traditionen ein offenes, plurales und demokratisches Staatsverständnis entgegensetzten.
Der Tag, an dem das Grundgesetz verkündet wurde, der 23. Mai 1949, rückte als historische Zäsur erst im Rückblick ins Bewusstsein der Deutschen. In den Trümmerlandschaften der Städte waren die Menschen zu dieser Zeit noch mit dem Kampf ums tägliche Überleben beschäftigt. Hunderttausende von Vätern, Söhnen und Brüdern waren noch nicht aus dem Krieg zu ihren Familien heimgekehrt. Die Frauen führten die Geschäfte. Die verfassunggebende Versammlung spiegelte die Gesellschaft nur verzerrt wider: Von den 65 Mitgliedern des Parlamentarischen Rates waren nur vier Frauen. Die Fragen der Staatsorganisation und Machtaufteilung, welche die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes bewegten, hatten mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen unmittelbar nach dem Krieg nur wenig zu tun. Nur einmal regte sich das in der Mehrheit weibliche Volk: Als es darum ging, die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Grundgesetz festzuschreiben, organisierte die sozialdemokratische Abgeordnete Elisabeth Selbert die erste Bürgerinnenbewegung der Nachkriegszeit. In Briefen und Resolutionen wehrten sich Frauen aus dem ganzen Land dagegen, dass ihnen Gleichberechtigung nur mit Einschränkungen und unter Vorbehalten gewährt werden sollte. Eine der Unterschriftenlisten, in denen die Frauen volle Gleichberechtigung verlangten, war von 60 000 Stahlarbeiterinnen unterzeichnet. Die Männer gaben nach. Deshalb heißt es in Artikel 3 des Grundgesetzes schlicht und einfach: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt."
Die erfolgreiche Intervention der ersten Frauenbewegung der Bundesrepublik in die Entstehung des Grundgesetzes blieb eine Ausnahmeerscheinung. Der Nachdruck der westlichen Siegermächte und das Engagement jener überschaubaren Elite der neuen Demokratie, die sich im Parlamentarischen Rat versammelt hatte, legte den Deutschen die demokratische Verfassung in den Schoß. Der Anfang der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik muss deshalb als Glücksgeschichte erzählt werden. Erst allmählich eignet sie sich als Narrativ einer Erfolgsgeschichte, in der Bürger, Politiker, Rechtswissenschaftler und Richter als selbstbewusste Akteure der Verfassungsentwicklung auftreten. In den 1960er und 1970er Jahren konnten gegen erhebliche Widerstände Selbstbestimmungsrechte, eine erweiterte Teilhabe der Öffentlichkeit am politischen Prozess und die Akzeptanz vielfältiger Interessen in einer pluralen Gesellschaft durchgesetzt werden.
Einem fundamentalen Wandel war damit vor allem das Staatsverständnis der Deutschen unterworfen: Die in der Staatsrechtslehre tief verwurzelte Vorstellung, dass der Staat dem Recht vorausgehe und in der Verfassung lediglich seine Form erhalte, die er im Prinzip wie ein Gewand wechseln oder abwerfen könne, rückte zunehmend in den Hintergrund. Auch unter dem Eindruck der terroristischen Bedrohung entzog sich der Staat nicht seinen verfassungsrechtlichen Bindungen, obwohl die Verführungen eines dezisionistischen Ausnahmezustands im Bonner Krisenstabsregime während der Schleyer-Entführung im Herbst 1977 mit Händen zu greifen waren.
Als krönenden Höhepunkt bildet die Wiedervereinigung durch den Beitritt der neuen ostdeutschen Bundesländer zum Grundgesetz - und nicht auf dem Weg einer neuen Verfassungsgebung nach Artikel 146 GG - den vorläufigen Abschluss der Erfolgsgeschichtserzählung der alten Bundesrepublik.
Seitdem wird das Grundgesetz in einer neuen Weise zum Gegenstand eines Krisennarrativs, wenn nicht sogar einer Niedergangserzählung. Die Klage über die Erosion des Verfassungsstaates ist zum festen Topos rechtswissenschaftlicher und verfassungspolitischer Debatten geworden. Die Verflechtungen und Verkrustungen des Föderalismus werden von den einen als Hemmnisse für überfällige Reformen kritisiert, von den anderen werden Einschränkungen von Asyl- und Datenschutzrechten als alarmierende Symptome eines bedrohlichen Grundrechteabbaus angeprangert.
Leben wir heute - 60 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes - noch in guter, vielleicht sogar in bester Verfassung? Diese Frage stellt sich in einer Zeit, in der nationale Verfassungen dramatisch an Regelungsmacht verlieren. Längst hat sich eine neue, europäische Verfassungsordnung über das Grundgesetz gewölbt. Das nationale Recht leitet sich in weiten Teilen aus EU-Richtlinien und Verordnungen ab. Auch der Schutz der Grundrechte wird in Teilen schon mehr durch den Europäischen Gerichtshof gewährleistet als durch das Bundesverfassungsgericht. Die Weiterentwicklung des Gleichberechtigungsgedankens etwa wurde in den vergangenen zwanzig Jahren vor allem von der Rechtsprechung und Rechtsetzung der Europäischen Union geprägt.
Konkurrenz bekommen nationale Rechts- und Verfassungsordnungen aber auch zunehmend auf einer globalen Ebene. Dort entstehen neuartige Normensysteme fernab der traditionellen staatlichen und zwischenstaatlichen Institutionen. Internationale Anwaltskanzleien haben eigene Rechtsstandards - eine moderne Lex Mercatoria - für den weltweiten Warenverkehr und die Geschäftsbeziehungen von Firmen gesetzt. Bei Streitigkeiten werden nicht mehr staatliche Gerichte angerufen, sondern spezialisierte Anwaltskanzleien für Schlichtungsverhandlungen eingeschaltet. Eigene Rechtsstandards haben auch internationale Akteure wie die Welthandelsorganisation WTO entwickelt. Normen, die weltweit Menschen und Unternehmen binden, werden hier nicht mehr allein von Regierungen und Parlamenten, sondern von einer globalisierten Expertokratie definiert.
In der gegenwärtigen globalen Finanzkrise ist viel von der "Rückkehr des Staates" als rettende und ordnende Kraft die Rede. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass nationale Staaten und Verfassungsordnungen im vergangenen Vierteljahrhundert einen Kompetenz- und Souveränitätsverlust hinnehmen mussten wie nie zuvor in der Geschichte.
Müssen wir uns im Jubiläumsjahr 2009 deshalb mit dem Gedanken an den Abschied vom Grundgesetz gewöhnen? Dazu gibt es keinen Anlass. Das Grundgesetz war von Beginn an eine offene Verfassung. Nach 1945 konnten die Deutschen stets nur in dem Maße Handlungsspielräume gewinnen, in dem sie ihren Anspruch auf nationalstaatliche Souveränität preiszugeben bereit waren. Diese historische Erfahrung prägte die Offenheit des Grundgesetzes für die Integration der Bundesrepublik in die Europäische Union.
Wenn die Feiern zum Jubiläum des Grundgesetzes in diesem Frühjahr vorüber sein werden, wird das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über den Vertrag von Lissabon sprechen. Dieser soll die dringend notwendigen institutionellen Reformen sowie eine auch von den Karlsruher Richtern in ihrem Maastricht-Urteil geforderte Parlamentarisierung und Demokratisierung der EU voranbringen. Ein Scheitern des Vertrages ausgerechnet an den Klippen des deutschen Verfassungsrechts wäre das Letzte, was sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes hätten vorstellen oder wünschen können.