Was war das für ein Ort, an dem sich am 1. September 1948 die Verfasser des Grundgesetzes nach nur kurzer Frist zusammenfanden? War Bonn tatsächlich, wie die Stadtspitze damals postulierte, "das Weimar des neuen Deutschland"? Waren die Bonner Bürgerinnen und Bürger bereit, kurz nach dem Krieg die knappen Ressourcen zu teilen und Privilegien der Untermieter zu tolerieren? Oder haben sie vielmehr, gut zwei Monate nach den Einschnitten der Währungsreform, in dem ausgewählten Kreis gebildeter älterer Herren und ihrem Tross von nicht unerheblicher Größe vornehmlich eine willkommene Einnahmequelle gesehen? Nahmen die Abgeordneten vielleicht während der neun Monate am Rhein ihr Umfeld gar nicht so stark wahr, weil sie nach konzentrierter Tagungsarbeit sofort in die heimatlichen Gefilde entschwanden?
Erst am 16. August 1948 wurde die Verständigung der westdeutschen Länderchefs auf Bonn als Tagungsort des Parlamentarischen Rates offiziell. Vorbereitende Sondierungen hatten eine Festlegung auf die Anfang der 1930er Jahre erbaute Pädagogische Akademie unmittelbar am Rhein ergeben, vor allem wegen ihrer "als hervorragende Tagungsstätte bekannten Aula". Mit der Hochschule wurde schnell eine Vereinbarung erzielt: Gegen das Zugeständnis einer Verschiebung des Semesterbeginns erhielt die Akademie eine kostenlose Renovierung wichtiger Gebäudeteile. Räume wurden frisch gestrichen, Decken verputzt, fehlende Verglasungen ergänzt ("damit die Bretterverschalungen an den Fenstern verschwinden"). Die Beleuchtung des Hauses erfuhr eine Überholung, in den Arbeitszimmern des Präsidenten und seines Stellvertreters brachte man Tapeten an. In nur wenigen Tagen nahm der künftige Plenarsaal des Parlamentarischen Rats Gestalt an: Präsidentensitz und Rednerpult wurden installiert, die Wand gegenüber der Fensterfront mit Gobelins aus städtischem Besitz aufgelockert. Eine gründliche Renovierung erfuhr der Mensaraum der Lehramtsstudenten. Als "gutes Restaurant mit erstklassiger Bedienung" wurde das wochentags für die Abgeordneten und ihre Gäste reservierte Kasino dem Hotel La Roche angegliedert.
Neben der Zielgruppe der Parlamentarier galt die besondere Fürsorge des 1946 gegründeten Landes Nordrhein-Westfalen den Ministerpräsidenten. Ihr gemeinsames Büro in Wiesbaden erhielt eine Außenstelle in Bad Godesberg, von wo aus die Arbeit des Parlamentarischen Rates verfolgt wurde und die Länderchefs schnell und umfassend informiert werden konnten. Zu ihrer Unterbringung anlässlich der Eröffnungsfeierlichkeiten wurde das Hotel Königshof, auch nach schweren Kriegszerstörungen mit stark verkleinerter Kapazität noch das beste Haus am Platz, "restlos geräumt"; für ihr "Gefolge (wurden) hervorragende Privatquartiere in unmittelbarer Nähe" gefunden. Verpflegt wurden alle im Königshof, der zu diesem Zweck vom Ernährungsamt Sonderzuweisungen von Lebensmitteln durch das Land Nordrhein-Westfalen erhielt. Schon bei der Ankunft musste im Hotel alles perfekt vorbereitet sein. Schließlich hatten die "Herren (...) ja eine lange Fahrt hinter sich": Bohnenkaffee und Rauchwaren sowie ein kleiner Imbiss standen für sie bereit. 1
Ein schweres Handicap war im Herbst 1949 die schlechte Erreichbarkeit des Tagungsorts. Die einzige Rheinbrücke war im März 1945 während des Rückzugs der Wehrmacht gesprengt worden; ihr Neubau zog sich bis in den November 1949 hin, sodass Fähren die Verbindung zwischen beiden Ufern aufrechterhielten - solange nicht Nebel, Eisgang, Hoch- oder Niedrigwasser ihren Betrieb behinderten. Unter diesen Umständen waren zumindest die vorhandenen zehn Zufahrtsstraßen zur Tagungsstätte schleunigst "in einen ordentlichen Zustand zu versetzen". Auch für den ruhenden Verkehr, die sichere Unterbringung der wertvollen Automobile, war gesorgt. Eine überdachte und abgeschlossene Abstellgelegenheit für 80 Kraftfahrzeuge mieteten die Organisatoren auf dem Gelände der Karosseriefabrik Miesen. Hier befand sich ebenfalls eine von der Landesregierung betriebene Tankstelle und ein Aufenthaltsraum für die Fahrer der Abgeordneten, ihrer Fraktionen oder der hochrangigen Besucher aus den Hauptstädten der Länder.
Vieles deutet darauf hin, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, obwohl sie über Freifahrkarten für die Eisenbahn verfügten, das bequeme Automobil allen anderen Transportmitteln vorzogen. Für die zahlreichen Fahrer hatte die Stadtverwaltung zunächst den siebenstöckigen Windeck-Bunker unmittelbar neben dem Stadthaus vorgesehen, ja regelrecht angepriesen ("saubere Betten mit weißer Wäsche", "Einzelkojen", Gelegenheit zum Kinobesuch). Mit 50 Pfennigen Übernachtungspreis sei eine "bessere und billigere Gelegenheit kaum zu finden". 2 Die Politiker haben ihren Chauffeuren dann doch etwas besseres gegönnt: Die Fahrer der SPD-Fraktion z.B. wohnten für 2,50 bis 3 DM privat oder im Doppelzimmer für 5 DM pro Nacht.
Am 21. August 1948 teilte die Landesregierung Nordrhein-Westfalens den 1. September als Datum der Arbeitsaufnahme des Parlamentarischen Rates in Bonn mit. Als Ort für die feierliche Auftaktveranstaltung erschien der Lichthof des zoologischen Museums Koenig geeignet zu sein. 500 gepolsterte Stühle wurden schnell gemietet. Auch die vor dem Gebäude zu hissenden Länderflaggen waren vor Ort nicht vorhanden. Einige gelangten auf dem Postweg nach Bonn, weitere wurden Lokomotivführern mitgegeben, der Rest in der örtlichen Fahnenfabrik hergestellt. 3 Mit Rücksicht auf den ungewohnt starken Autoverkehr fiel am 1. September zwischen 11 Uhr und 15.30 Uhr der Straßenbahnverkehr zwischen Markt und Gronau aus.
Prominent vorne in der Mitte des Saals platziert saßen die künftigen Verfasser des Grundgesetzes, umrahmt von zahlreichen Ehrengästen, unter ihnen alle Länderchefs, die Spitzen der Zweizonenverwaltung (Bizone) und alliierte Vertreter (nicht aber die drei Militärgouverneure), als NRW-Ministerpräsident Karl Arnold - Repräsentant des Gastgeberlandes - und sein hessischer Amtskollege Christian Stock als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz ihre Ansprachen hielten. Um 15 Uhr begann in der nur wenige hundert Meter entfernten Pädagogischen Akademie die feierliche Eröffnungssitzung des Parlamentarischen Rates, auf der Konrad Adenauer zum Präsidenten gewählt wurde. Für den Abendempfang hatte man sich die Bad Godesberger Redoute ausgeliehen. Es bedurfte der Unterstützung des britischen Stadtkommandanten Oberst Edward Brown und des Hinweises auf die Großzügigkeit, mit der die Franzosen den Ministerpräsidenten vom 8. bis 10. Juli "ihr" Hotel Rittersturz abgetreten hatten, um die belgische Besatzung zur Überlassung des unzerstörten Palais zu überreden. 4
Eine kritische Presse berichtete positiv. Selbst der "Spiegel" verzichtete auf Häme: "Der Tagungssaal in der Pädagogischen Akademie gibt ein Äußerstes an Licht, Klarheit und Zweckmäßigkeit her. Die rechte Seitenwand ist ein einziges großes Fenster mit Blick zum Rhein." Und die "vornehme und freizügige Atmosphäre des Hauses" schien "auf die Abgeordneten überzugehen": Die verfassunggebende Versammlung machte den "zuverlässigsten Eindruck seit Kriegsende". Das Urteil, alles sei "mustergültig und unauffällig organisiert", 5 lässt unerwähnt, welch erhebliche Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Veranstaltung, ihrer Teilnehmer und ihrer Besucher getroffen worden waren. Ausgewählte Polizeibeamte, "die in jeder Weise, in Bezug auf äußere Haltung und Figur, auf geistige Elastizität, Pflichtbewusstsein und Höflichkeit" den besonderen Anforderungen gewachsen sein mussten, übernahmen den Personen- und Objektschutz. Zu beiden Seiten des Eingangs zum Tagungsgebäude wurden Ehrenposten aufgestellt. Hausposten forderten in der Pädagogischen Akademie die Eintretenden höflich dazu auf, ihre Ausweise bereitzuhalten. Für nächtliche Streifengänge im Haus oder in der Umgebung des Gebäudes wurden Dienstpistolen ausgegeben. 6
In der Vorbereitungsphase war die für die Arbeit am Grundgesetz benötigte Zeit gröblich unterschätzt worden: Besonders optimistisch hatte sich Carlo Schmid mit seiner Hoffnung gezeigt, die Beratungen würden in spätestens zwei Monaten beendet sein. Theodor Heuss wollte am 4. November 1948 in Freiburg im Breisgau eine Rede halten und sagte zu, "in der Erwartung, dass Bonn dann erledigt ist". "Anfang November seien die Dinge hier geregelt", hatte er geglaubt, als er beim Rektor der TH Stuttgart um Verschiebung seiner Lehrveranstaltungen nachsuchte. Kurz vor Weihnachten musste er sie reumütig absagen: "Entweder soll ein Parlamentarier nicht Vorlesungen ankündigen, oder es soll ein Professor kein Parlamentarieramt übernehmen."
"Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates", urteilt Schmid in der Rückschau, "konnten mit den Arbeitsbedingungen in Bonn nicht sehr zufrieden sein. (...) Für jede Fraktion stand ein Klassenzimmer zur Verfügung; Büros für die einzelnen Abgeordneten gab es nicht, ebenso wenig einen wissenschaftlichen Apparat oder wissenschaftlich ausgebildete Assistenten für die Fraktionen. Ohne die Verwaltungsbeamten, welche diejenigen Landesminister, die dem Parlamentarischen Rat angehörten, zu ihrer und zur Unterstützung der Ausschüsse einsetzten, hätte der Parlamentarische Rat seine Arbeit nicht in so kurzer Zeit durchführen können." Ihm selbst als Vorsitzenden des Hauptausschusses standen ein "altgedienter Parteisekretär aus der Provinz" und eine Sekretärin zur Verfügung. 7
Für die anderen Ausschussvorsitzenden und die drei Mitglieder des Redaktionsausschusses hatten sich kleine Dachzimmer mit schrägen Wänden gefunden. Als Beispiel für die von Schmid erwähnten Abgeordneten mit eigenem Apparat ist Fritz Eberhard (SPD) zu nennen; dem württembergisch-badischen Staatssekretär ging das von ihm geleitete "Deutsche Büro für Friedensfragen" auch für die Arbeit in Bonn zur Hand. Sein Landsmann Theophil Kaufmann indes schaute neidisch auf die bayerische Vertretung in Bonn ("dort arbeitet eine komplette Kanzlei"). Heuss dagegen scheint mehr belastet zu haben, dass zu Hause in Stuttgart die Arbeit liegen blieb. Als auch noch seine Sekretärin erkrankte, waren für ihn "die Aufenthalte in der Heimat eine elende Schinderei". Sein Fazit: "Die politische Verantwortung hat mich versklavt (...), Berufs- und Privatleben gehen darüber flöten." 8
Mit 350 DM monatlich, dazu 30 DM Tagegeld für jeden Sitzungstag, wurden die Schöpfer der Verfassung nicht gerade üppig besoldet. Gegenüber Vertretern der Länderfinanzministerien führten sie am 19. Oktober 1948 ins Feld, "die hohen örtlichen Kosten für Wohnung, Verpflegung und dergleichen in Bonn" hätten "auch die Bemessung der Sätze für die Aufwandsentschädigungen maßgeblich bestimmt". Heuss war sich vier Tage nach Sitzungsbeginn noch nicht sicher, ob das Geld für teure Autofahrten ausreichen würde: "Ob Bonn immer mit dem Wagen gemacht wird, ist noch offen: Es kommt auf die Diäten an." 9 Ein weiteres Indiz für finanzielle Engpässe war, dass vor der am Tagungsort eingerichteten Kasse bereits kurze Zeit nach Sitzungsbeginn die ersten Abgeordneten gesichtet wurden. Aus diesem Kreis kamen vermutlich die immer wieder geäußerten Klagen über angebliche Wuchermieten in der Universitätsstadt.
Die wenigen guten Hotels in Bonn waren in der Tat nicht billig, und so hat sich die Mehrzahl der Abgeordneten sehr bald ein preisgünstiges möbliertes Zimmer gesucht, meist in den unzerstörten bürgerlichen Vierteln der Stadt, seltener auch im benachbarten Bad Godesberg. Nach Ausweis der überlieferten Quartierlisten 10 wohnten jeweils 40 bis 45 Abgeordnete privat. Einige waren zwischenzeitlich in ein Hotel oder eine Pension umgezogen, andere hatten eine solche Unterkunft gegen ein möbliertes Verhältnis eingetauscht, mindestens sechs Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten ihr Privatquartier bis zum Frühjahr 1949 einmal gewechselt. Ausgesprochen konspirativ gaben sich die kommunistischen Verfassungsväter. Bis zu seinem Ausscheiden am 6. Oktober 1948 gab Hugo Paul als Kontaktadresse die Landesleitung seiner Partei in Düsseldorf an. Auch Nachfolger Heinz Renner sowie der Abgeordnete Max Reimann wollten in Bonn anonym bleiben. "Keine Bonner Adresse. Zu erreichen über KPD-Parteivorstand Frankfurt", heißt es in den Übersichten.
Die Suche nach Gründen für den unvorhergesehen langen Weg zum Grundgesetz beschränkt sich meist auf politische Ursachen und ignoriert das Ausmaß, in dem der Parlamentarische Rat konstruktionsbedingt eben ein Teilzeitparlament war. "Sämtliche Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten auch zu Hause Berufspflichten zu erfüllen", vermerkte ein später ausgefertigter Rechenschaftsbericht zu diesem heiklen Thema. 11 Allein zwölf Abgeordnete waren gleichzeitig Mitglieder einer Landesregierung. Um ihnen allen die Erfüllung politischer, parlamentarischer oder allgemein-beruflicher Aufgaben möglich zu machen, erfuhr das Wochenende eine erhebliche Verlängerung. Eine ungefähre Vorstellung von der Anwesenheit am Tagungsort bieten - auch wenn im September 1948 sicherlich vieles erst anlief - die Mietaufstellungen für die privat untergebrachten Abgeordneten. Die Mehrzahl von ihnen erreichte gerade einmal die vereinbarte Mindestquote von 15 Übernachtungen oder blieb darunter. Selbst Adenauer war kein gutes Vorbild. Gut zwei Monate nach Konstituierung des Parlamentarischen Rates deutete der Leiter des britischen Verbindungsstabes in Bonn die rastlose Reisetätigkeit des Präsidenten ("continual wanderings over the continent") als mangelndes Interesse an der Verfassungsarbeit. Statt am Rhein Plenarsitzungen zu leiten, verfolge der CDU-Politiker seine eigenen Ziele und versuche, seine Partei für die Wahl zum ersten Bundestag zu positionieren. 12 Die tabellarischen Übersichten über die Frequentierung der Sitzungen in der einschlägigen Aktenedition bestätigen die sehr unterschiedliche Intensität der Teilnahme und die unregelmäßige Anwesenheit der prominenteren Mitglieder.
Allen Seiten einigermaßen gerecht zu werden, wenn auch um den Preis zunehmender körperlicher Erschöpfung, versuchte Theodor Heuss. "Bonn wird ganz interessant werden", schrieb der am 31. August zum Fraktionschef gewählte FDP-Politiker optimistisch. Doch während er in der Anfangsphase noch recht großzügig seine Verpflichtungen als Verfassungsvater mit seinen sonstigen Aktivitäten zu vereinbaren vermochte, unterwarf er sich später dem Zwang, "für die Entscheidungen und die interfraktionellen Verhandlungen dauernd zur Verfügung stehen" zu müssen, und spielte auch im württembergischen Landtag nur noch eine Gastrolle. "Ich stecke jetzt fast dauernd in Bonn", klagte er. 13
Obwohl Bonner Vermieter und Hoteliers auf eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Gästen zurückblicken konnten und die Stadt ja gerade wegen der vergleichsweise entspannten Unterbringungssituation den Zuschlag als Veranstaltungsort erhalten hatte, kam im Herbst 1948 doch unerwartet viel Konfliktpotential zusammen. Zimmer in erreichbarer Nähe der Tagungsstätte waren knapp. Größer als erwartet stellte sich die Nachfrage durch periodisch anreisende Landespolitiker und den Unterkunftsbedarf der Mitarbeiter dar. Viele Vermieter sind offensichtlich der Versuchung erlegen, nach wirtschaftlich rabenschwarzen Jahren die günstige Marktkonstellation auszunutzen. Sieben Wochen nach der Eröffnung des Parlamentarischen Rates sah sich die Stadtverwaltung als Folge zahlreicher Klagen genötigt, den Vermietern noch einmal ins Gewissen zu reden. Schließlich würden die Politiker bis zum Jahresende in Bonn bleiben. Das Argument der Kurzzeitvermietung fiele damit als Rechtfertigung für geforderte Höchstpreise weg. Aber auch die Gäste waren nicht alle Engel: Besonders in der Phase der Erstunterbringung wurde viel mehr reserviert als tatsächlich benutzt und bezahlt.
Die Vorzugsbehandlung der Abgeordneten blieb nicht unbeachtet, und am stärksten manifestierte sich der Unmut unmittelbar nach den Hungerjahren beim Thema Essen: "Man ist chockiert über alles, was den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates das Leben in Bonn angenehm und begehrenswert macht, man kritisiert die Höhe ihrer Diäten und beneidet sie um die Güte der Gaststätte, die nur ihnen zugänglich ist. Dem politischen Spießer leuchtet's nun endlich ein, weshalb sich die Arbeit des parlamentarischen Rats so in die Länge zieht! Er weiß nun, wo seine Steuergroschen bleiben und schimpft auf die Demokratie, die ihm das kostspielige Parlament bescherte." Die Privilegierten sahen dies nicht so, einige beschwerten sich ausdrücklich über die hohen Preise in ihrem exklusiven Restaurant. 14
Wiederholt unternahmen städtische Dienststellen Anläufe, die Interessen der eingesessenen Bewerber am "Brennpunkt des Wohnbedarfs" Bonn zu verteidigen. Noch existierten 2677 "Notwohnungen" in Bunkern oder Trümmerhäusern. Doch als das Wohnungsamt das Zimmer eines Fahrers der bayerischen Delegation für einen vorgemerkten Bewerber reklamierte, kam umgehend Widerspruch: Bonn "möge von einer anderweitigen Verwendung des (...) Zimmers wenigstens so lange Abstand nehmen, als der Parlamentarische Rat in Bonn tätig" war. Wiederholt gingen Besprechungen "bis tief in die Nacht". Der betreffende Fahrer werde dann "zur Rückfahrt der Herren Abgeordneten" benötigt. Auch das personell verstärkte Sekretariat setzte außergewöhnliche Arbeitszeiten als Argument zur Verteidigung eroberten Wohnraums ein. Da war es zwei Angestellten "nach längerem Bemühen gelungen, in unmittelbarer Nähe des Parlamentarischen Rates (...) eine angemessene Unterkunft zu finden". Nun versuchte das Wohnungsamt, "dieses Zimmer zu Gunsten von irgendwelchen Wohnungssuchenden zu beschlagnahmen". Es wurde "von Seiten des Parlamentarischen Rates gesteigerter Wert darauf gelegt", das Zimmer für die Sekretariatsangehörigen zu erhalten, "da diese praktisch Tag und Nacht aus dienstlichen Gründen erreichbar sein" mussten. 15
An der nicht zu übersehenden bayerischen Präsenz am Tagungsort scheinen sich einige Gemüter gerieben zu haben. Kein anderes Bundesland trieb einen solchen Aufwand. Zusätzlich zum gemeinsamen Büro der Ministerpräsidenten in Bad Godesberg unterhielt die Münchener Staatskanzlei eine eigene Dienststelle in Bonn; sie hatte "keinerlei Funktionen gegenüber dem Parlamentarischen Rat", wie es beschwichtigend hieß, "lediglich die Aufgabe, die bayerischen Abgeordneten zu betreuen". 16 Untergebracht war sie in der Landwirtschaftskammer, einem der imposantesten unter den unzerstörten Gebäuden im Stadtkreis. Die von Regierungsdirektor Hans Wutzlhofer geleitete Dienststelle stand, ebenso wie seine großzügig bemessenen Repräsentationsräume, den bayerischen Abgeordneten aller Fraktionen offen. Daneben wurde Schreibpersonal vorgehalten, vor allem reichlich Kraftfahrzeuge und Chauffeure für Fahrten zwischen verschiedenen Wohn-, Dienst- und Besprechungsorten. Im noblen Ambiente der Poppelsdorfer Allee traf auch Ministerpräsident Hans Ehard, der ausgesprochen häufig in Bonn war, viele seiner Gesprächspartner. 17
Bei einer dieser nächtlichen Gelegenheiten, als Politik und Geselligkeit nicht mehr zu trennen waren, müssen es die Bayern wohl etwas zu toll getrieben haben. Am 25. November 1948 gegen 22 Uhr fühlte sich ein Nachbar auf dem Rückweg zu seiner Wohnung durch das Spektakel provoziert: Fünf große, elegante Pkw parkten vor der Hausnummer 79 unbeleuchtet im Schatten der Bäume, zwei von ihnen waren rücksichtslos auf dem Gehweg abgestellt. "Bei den Wagen standen mehrerer Chauffeure und eine Dame mit einer Zigarette im Mund." Sie wehrte die Fragen unwirsch, mit wegwerfender Handbewegung ab. Der Anwohner wartete vergeblich zwanzig Minuten ab, dass die Wagen fortfuhren, klingelte dann, traf als erstes einen Diener, der mit einem Korb voller Weinflaschen ("den er mit beiden Händen tragen musste") aus dem Keller kam, bevor er sich mit dem Hausherrn Wutzlhofer ein hitziges Wortgefecht lieferte. Die ganze Szene habe in ihm "zunächst den Eindruck erweckt, es handelte sich um ein geselliges Zusammensein wohlhabender, aber nicht sehr rücksichtsvoller Leute". Was wiederum den aufgebrachten Wutzlhofer erzürnte, war die Tatsache, dass sich unter den fröhlichen Zechern sein Ministerpräsident befand, angeblich in eine Besprechung mit den bayerischen Abgeordneten vertieft. Und dann erdreistete sich der Anwohner noch, demokratische Prinzipien zu zitieren: "Auch für den Ministerpräsidenten gelten die Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung." 18
Am 11. Oktober 1948, also vierzig Tage nach Arbeitsaufnahme des Parlamentarischen Rates am Rhein, wurde im Landeskabinett in Düsseldorf zum ersten Mal über eine mögliche Weiterverwendung Bonns als provisorische Bundeshauptstadt gesprochen. Da zunächst die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates über den Ort befinden würden, an dem die Bundesorgane erstmalig zusammentreten sollten, bemühte sich Bonn um ihre Gunst.
So hat man, wie das Beispiel der bayerischen Ansprüche zeigt, manche Kröte geschluckt, um die Abgeordneten bei Laune zu halten. Denn bereits kleine Pannen am Tagungsort wurden sehr ernst genommen. Nur in einem solchen Klima ist nachvollziehbar, dass der örtliche Verwaltungschef einen Bonner Bürger vermittels seines Arbeitgebers nötigen konnte, gegen die eigene Überzeugung den Bayern einen Entschuldigungsbesuch abzustatten. Doch dem Oberstadtdirektor saß die Landeskanzlei im Nacken. Sie verlangte kategorisch eine Bereinigung, da "derartige Vorkommnisse, so lächerlich sie im einzelnen sein mögen, dazu geeignet sein können, eine Missstimmung gerade in den Kreisen der CSU hervorzurufen, die wir uns im Augenblick im Hinblick auf das Projekt Bonn nicht erlauben können".
Nicht alle Politiker waren so empfindlich. Nach heutigen Maßstäben kleine Gesten riefen viel Anerkennung hervor, so das Ringbuch, das zur Jahreswende 1948/49 jede und jeder Abgeordnete von der Stadt Bonn, zusammen mit einer Freifahrkarte für die städtischen Straßenbahnen, überreicht bekam. Dem Dank hierfür fügte Georg Diederichs seine Bewunderung hinzu, wie Bonn "unbeschadet aller heutigen Schwierigkeiten die Fragen der Unterbringung gelöst" habe. "Viele Aufmerksamkeiten und Freundlichkeiten", welche die Abgeordneten "fortlaufend durch die Stadt Bonn" erfuhren, erwähnte sein Kollege Adolf Blomeyer. Schließlich "war es nicht abzusehen, dass die Arbeit des Rates infolge der politischen Notlage (...) eine so lange Zeit in Anspruch nehmen würde", schrieb Paul de Chapeaurouge. Auf die nicht vorhergesehene zeitliche Ausdehnung der Beratungen spielte auch Gerhard Katz an. Seinem Dank für die Freifahrkarte fügte er hinzu: "Wenn auch zu hoffen ist, dass wir sie nicht bis zum Jahresende 1949 benötigen werden."
1 Vgl. Otto
Schumacher-Hellmold, Wenn es die PÄDA nicht gegeben
hätte. Der Parlamentarische Rat tagt in Bonn - und Bonn wird
Hauptstadt, in: Rudolf Pörtner (Hrsg.), Kinderjahre der
Bundesrepublik. Von der Trümmerzeit zum Wirtschaftswunder,
Düsseldorf 1989, S. 16 - 47, bes.S. 25; Bonn 1945 - 1950.
Fünf Jahre Stadtverwaltung, Bonn 1951, S. 30; Stadtarchiv Bonn
(StAB) SN 172/23, N 80/26; vgl. auch Dietrich Höroldt, 25
Jahre Bundeshauptstadt Bonn. Eine Dokumentation, in: Bonner
Geschichtsblätter, 26 (1974), S. 9 - 131, bes.S. 26f.
2 Kommissionsbericht über den
Haushaltsentwurf für die Zeit 1.9.-31.12. 1948,
Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD) NW 53 - 742;
Prüfbericht Landesrechnungshof NRW 13.10. 1952, StAB, SN
172/23.
3 Vgl. Klaus Dreher, Ein Kampf um Bonn,
München 1979, S. 46.
4 StAB, SN 172/23, N 80/26; vgl. Michel
F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 - 1949. Die Entstehung
des Grundgesetzes, Göttingen 1998, S. 53.
5 Zur Geschäftsordnung, in: Der
Spiegel vom 4.9. 1948, S. 3.
6 Vgl. Sonderbefehl für den
polizeilichen Einsatz anlässlich der Tagung des
Parlamentarischen Rates in Bonn (hektographiert) vom 26.8. 1948,
StAB N 80/26.
7 Theodor Heuss am 4.9. 1948, in: Ernst
Wolfgang Becker (Hrsg. u. Bearb.), Theodor Heuss. Erzieher zur
Demokratie. Briefe 1945 - 1949, München 2007, Nr. 145 (S.
402); 17.12. 1949, Nr. 167 (S. 444f.). Vgl. auch Petra Weber, Carlo
Schmid 1896 - 1979. Eine Biographie, München 1996, S. 351, S.
354.
8 Jürgen Michael Schulz, "Bonn
braucht sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen". Fritz
Eberhards Arbeit im Parlamentarischen Rat, in: Bernd Sösemann
(Hrsg.), Fritz Eberhard. Rückblicke auf Biographie und Werk
(Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 9), Stuttgart 2001, S.
213 - 237, bes.S. 218; Peter Jakob Kock, Bayerns Weg in die
Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1983, S. 295; Heuss am 22.12.
1948, in: Briefe (Anm. 7), Nr. 170 (S. 448); 1.4. 1949, Nr. 193 (S.
482); 30.4. 1949, Nr. 199 (S. 493).
9 Aufzeichnung Boldt vom 24.8. 1949,
Bundesarchiv Koblenz (BA) Z 5/3; Heuss 4.9. 1948, in: Briefe (Anm.
7), Nr. 145 (S. 403).
10 Umfangreiches Material in: StAB N
80/26 u. SN 172/23.
11 Rechenschaftsbericht vom 7. 3. 1951
über die Tätigkeit und Finanzgebahrung [sic!] des
Parlamentarischen Rates, HStAD NW 53 - 742.
12 Bericht vom 6. 11. 1948 an
Christopher Steel, abgedruckt in: Birgit Ramscheid, Herbert
Blankenhorn (1904 - 1991). Adenauers politischer Berater
(Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 49), Düsseldorf
2006, S. 101, Anm. 143.
13 Theodor Heuss 17.12. 1948, in:
Briefe (Anm. 7), Nr. 167 (S. 445); 22.1. 1949, Nr. 178 (S.
462).
14 Stimmungsbericht des
Oberkreisdirektors Bonn-Land an die Militärregierung 20.1.
1949, abgedruckt in: Helmut Vogt, Das Bild der
"Katastrophengesellschaft" in den Berichten des Bonner
Oberkreisdirektors an die Militärregierung von 1946 bis 1949,
in: Manfred van Rey/Norbert Schloßmacher (Hrsg.), Bonn und
das Rheinland. Beiträge zur Geschichte und Kultur einer
Region. Festschrift Dietrich Höroldt (Veröffentlichungen
des Stadtarchivs Bonn 52), Bonn 1992, S. 623 - 647, Zitat S. 646.
Vgl. In diesem hohen Hause, in: Der Spiegel vom 11.9. 1948, S.
5.
15 StAB N 80/26.
16 Notiz Boldt vom 7.9. 1948, BA Z
5/5.
17 Vgl. Der Parlamentarische Rat 1948 -
1949, Akten und Protokolle, Bd. 8: Die Beziehungen des
Parlamentarischen Rates zu den Militärregierungen, bearbeitet
von Michael F. Feldkamp, Boppard am Rhein 1995, Einleitung, S.
XXIIIf.; Karl-Ulrich Gelberg, Hans Ehard. Die föderalistische
Politik des bayerischen Ministerpräsidenten 1946 - 1954,
Düsseldorf 1992, S. 195 - 199; P. J. Kock (Anm. 8), S.
295f.
18 Wie die folgenden Zitate: StAB N
80/26.