Im Dezember 2004 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzuleiten. Damit honorierten sie die enormen Reformanstrengungen, die das Land in den Jahren zuvor unternommen hatte, um die Beitrittskriterien zu erfüllen. Der Schwung jener Jahre scheint jedoch verflogen. Zum einen haben äußere Faktoren wie die ungelöste Zypern-Frage und die ablehnende Haltung des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy und der Bundeskanzlerin Angela Merkel gegenüber einem türkischen EU-Beitritt die Verhandlungen stocken lassen. Zum anderen sind innertürkische Konflikte und die Reformmüdigkeit der türkischen Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdoğan (AKP) verantwortlich.
Nach der Gründung der Republik Türkei 1923 hatte ihr erster Präsident Mustafa Kemal "Atatürk" konsequent einen Verwestlichungs- und Modernisierungskurs verfolgt. Der Islam wurde als Staatsreligion abgeschafft und aus dem öffentlichen Raum verbannt. Durch die jüngste politische Entwicklung sind althergebrachte Vorstellungen über das Verhältnis von Religion und Moderne ins Wanken geraten. Denn nicht die säkularen, kemalistischen Kräfte, die sich als Bewahrer der Prinzipien "Atatürks" sehen, steuern das Land in Richtung EU, sondern die konservativ-religiöse AKP, die aus dem Reformflügel einer verbotenen islamistischen Partei hervorgegangen ist.
Die alte kemalistische Elite, die über Jahrzehnte die Politik bestimmte, ist in der Defensive. Im Zuge der Reformen wurde der Einfluss des Militärs beschränkt. Im "Ergenekon"-Prozess sind neben Staatsbeamten, Journalisten und Unternehmern erstmals auch ehemalige hochrangige Militärs angeklagt, als Mitglieder der nationalistischen Organisation einen Putsch vorbereitet zu haben. Die gesellschaftlichen Umwälzungen, die in der Türkei stattfinden, werden indes Bestand haben - unabhängig davon, wie sich der EU-Beitrittsprozess entwickelt.