Transnationale Räume entstehen durch die Knüpfung von Netzwerken zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Grenzüberschreitende Kontakte werden damit nicht ausschließlich von staatlichen internationalen Akteuren getragen. Die Sozialwissenschaft geht davon aus, dass die Bedeutung transnationaler Räume wächst. 1
Diese wachsende Relevanz ist plausibel, betrachtet man sowohl den grenzüberschreitenden Einsatz von Produktionsfaktoren (Kapital, Arbeit) und den Handel in Folge der fortschreitenden internationalen Arbeitsteilung als auch weitere Migrationsformen einschließlich des grenzüberschreitenden Tourismus. Hinzu kommt die rasante Entwicklung von Informationstechnologien, welche die Bedeutung räumlicher Entfernung für die Bildung von Netzwerken immer weiter reduzieren. Für das Ausmaß grenzüberschreitender Netzwerke ist von Bedeutung, wie ausgeprägt die Zivilgesellschaft ist.
Im Falle der Türkei und Deutschlands ist von einem ausgeprägten transnationalen Raum auszugehen: Die Arbeitsmigration aus der Türkei nach Deutschland, der daran anschließende Familiennachzug, Deutschland als lange Zeit wichtigster Handelspartner der Türkei, die Türkei als beliebtes Reiseziel der Deutschen - all dies deutet auf potenziell umfangreiche und differenzierte deutsch-türkische Netzwerke hin, die sich abseits der internationalen Beziehungen und jenseits politischer Steuerungsversuche entwickelt haben. Der vorliegende Artikel skizziert einige wichtige Netzwerke, die den deutsch-türkischen transnationalen Raum konstituieren und verweist auf deren Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit in der Türkei und in Deutschland.
Die Vergemeinschaftung jenseits des Staates - Formen freiwilligen, bürgerschaftlichen Engagements, der Zusammenschluss in Vereinen oder auch in Initiativen und anderen informellen Gruppen sind Bestandteile der Zivilgesellschaft eines Landes. In der klassischen Staatsphilosophie, in der über die unterschiedlichen Organisationsmöglichkeiten des Staates reflektiert wird, kommt die Zivilgesellschaft nicht vor. Insofern ist die Existenz differenzierter zivilgesellschaftlicher Strukturen theoretisch nicht unabdingbare Voraussetzung für Demokratie. Tatsächlich zeigt sich aber ein deutlicher empirischer Zusammenhang zwischen demokratischer Staatsform, gesellschaftlicher Pluralität und funktionierenden zivilgesellschaftlichen Strukturen. Autoritäre Staaten neigen dazu, Vergesellschaftungsprozessen außerhalb der staatlichen Strukturen mit Misstrauen zu begegnen, da der Anspruch besteht, den Prozess der Artikulation politischer Interessen zu kontrollieren und auf ein bestimmtes Ergebnis hin zu lenken. Die Existenz einer Zivilgesellschaft ist eine wichtige Voraussetzung für Demokratie; sie gewährleistet quasi deren Bodenhaftung und verhindert, dass Politik die Angelegenheit einer isolierten politischen Klasse wird. Für die Türkei ist die Frage nach der Zivilgesellschaft sehr bedeutend, da seit der Republikgründung von 1923 staatliche Stellen nichtstaatlichen Organisationen misstrauten - eben weil vermutet wurde, der Verzicht auf Steuerung der Interessenartikulation könnte zu unerwünschten Ergebnissen führen (Separation ethnisch-kultureller Gruppen, zuvorderst der Kurden; Re-Islamisierung der türkischen Gesellschaft). 2 Der Staat als allmächtiger und autoritärer Vater war lange eine politische Grundvorstellung in der Türkei - nicht nur in der osmanischen, sondern auch in der republikanischen Periode seit 1923. Diese Auffassung kam auch in dem Ehrennamen "Atatürk", "Vater der Türken", zum Ausdruck, der dem Gründer der Republik Mustafa Kemal verliehen wurde. Bis heute steht das Standbild Atatürks in allen türkischen Städten und sein Konterfei ziert die Briefmarken. Der Staat lenkte die Wirtschaft und beherrschte die meisten großen Unternehmen, die Armee griff regelmäßig in die türkische Politik ein (Militärputsche 1960, 1971 und 1980) und setzte Politiker ab, ordnete den Staat neu und berief sich dabei stets auf das Erbe des Staatsgründers. 3 Der Staat war monolithisch organisiert, mit nur einer legalen Sprache und einer Religion, die durch eine staatliche Behörde verwaltet und kontrolliert wurde. Bestimmte Aspekte der Vergangenheit waren tabu. Insgesamt beherrschte und durchdrang der Staat die Zivilgesellschaft in jeder Hinsicht, eine Vorstellung, die unter dem Begriff Etatismus zusammengefasst wird und Bestandteil der türkischen Staatsideologie des Kemalismus war. Dies weist auf die Notwendigkeit hin, nicht nur zwischen dem Vorhandensein und der Abwesenheit von Zivilgesellschaft zu unterscheiden, sondern vielmehr danach zu fragen, ob Zivilgesellschaft sich auch jenseits des Einflusses der herrschenden politischen Klasse konstituiert. 4
In den vergangenen Jahren hat ein grundlegender Wandel stattgefunden, der die Türkei demokratischer, pluralistischer, ziviler und freiheitlicher gemacht hat. Zum ersten Mal hat eine demokratisch gewählte Regierung Konflikte mit der Armee durchgestanden. Der von dieser dominierte Nationale Sicherheitsrat, eine Art Überregierung, wurde reformiert und der Einfluss des Militärs eingeschränkt. Mit dem laufenden "Ergenekon"-Prozess kommen zum ersten Mal kriminelle Aktivitäten von Offizieren und ehemaligen Offizieren vor Gericht, die sich bisher im Dunklen des sogenannten "tiefen Staates" abspielten und ungesühnt blieben. 5 Im vergangenen Jahr scheiterte ein kemalistischer "Justizputsch", so die regierungsnahe Lesart, als das türkische Verfassungsgericht den Antrag auf Verbot der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Tayyip Erdoğan ablehnte. Die kurdische Sprache, lange Zeit verboten und verfolgt, wird heute in einem staatlichen Fernsehkanal gesprochen. Es erscheinen Bücher über die Verfolgung und Ermordung der Armenier im Ersten Weltkrieg, was über all die Jahrzehnte unmöglich gewesen war. Journalisten, Schriftsteller, Professoren und viele andere Bürger äußern nonkonforme Meinungen, selbst wenn dies oft noch mit Gefahren verbunden ist, wie der Mord an dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink 2007 zeigt.
In Deutschland leben heute etwa 2,6 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Ausgangspunkt ihrer Migration nach Deutschland war das deutsch-türkische Abkommen über die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Jahr 1961. Mit dem Anwerbungsstopp 1973 und der anschließenden rechtlichen Regelung des Familiennachzugs folgten den meist männlichen Arbeitern ihre Frauen und Kinder. Heute leben in etwa so viele türkeistämmige Frauen wie Männer in Deutschland, mehr als jede/r dritte besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. 6 Die Einwanderungsbevölkerung hat sich stark ausdifferenziert und inzwischen gibt es nicht nur viele türkische Arbeiter, sondern auch eine Vielzahl von Unternehmern, Profifußballer, eine umfangreiche kulinarische Szene, türkeistämmige Abgeordnete und mit Cem Özdemir (Bündnis90/DieGrünen) auch einen deutschen Parteivorsitzenden. Türken sind die sichtbarste Einwanderungsgruppe in Deutschland.
In der pluralen deutschen Gesellschaft bildeten die Einwanderer rasch zivilgesellschaftliche Organisationen, wobei die Rahmenbedingungen ambivalent waren: Einerseits ermöglichte die grundsätzliche Assoziationsfreiheit in Deutschland die unkomplizierte Etablierung von Organisationen, andererseits wurde deren Arbeit weder aktiv gefördert noch wies man ihnen eine Rolle im politischen Willensbildungsprozess zu. So ist eine komplementäre Organisationslandschaft der türkeistämmigen Bevölkerung entstanden, die deutsche Angebote ergänzt und speziell in die Lebensbereiche hineinwirkt, die sich der Assimilierung widersetzt haben. So werden zuvorderst die Komplexe Religion und Kulturpflege durch eigenethnische türkische Organisationen in Deutschland abgedeckt. 7 Potentiell handelt es sich hierbei um transnationale Phänomene mit häufigen intensiven Kontakten in die Türkei, 8 wobei eine differenzierte Betrachtung angebracht ist. So erfolgt die deutschlandorientierte Integrationsarbeit der Organisationen erwartungsgemäß unabhängig von transnationalen Netzwerken, 9 während politische Aktivitäten angesichts fehlender Beteiligungsmöglichkeiten hierzulande oft eine grenzüberschreitende Orientierung aufweisen. 10 Bei Gruppen, die ihre Ziele einfacher in der Diaspora verfolgen können, ergibt sich eine Ausstrahlung aus Europa in die Türkei (zu denken wäre etwa an Kurden und Aleviten oder den fundamentalistischen Islam). Analog erklärt sich die fehlende gesellschaftspolitische Integration des Islams in Deutschland auch teilweise durch die Orientierung auf die Türkei.
Allerdings ist nicht ausgemacht, ob die eingangs angesprochene fortschreitende Transnationalisierung auch eine Stärkung der aus Arbeitsmigration nach 1961 hervorgegangenen Selbstorganisationen und ihrer grenzüberschreitenden Kontakte bedeutet. Mit dem Heranwachsen der zweiten und dritten Generation von Migrantinnen und Migranten und fortschreitenden Integrationsprozessen verlieren klassische herkunftslandorientierte Organisationen möglicherweise nicht nur zugunsten deutscher Vergemeinschaftungsalternativen an Attraktivität, sondern auch zugunsten von Migrantenorganisationen, die unterschiedliche Herkünfte umspannen. 11 In der türkischen Community in Deutschland sind damit zwei gleichzeitige, dennoch gegenläufige Trends bedeutsam. Einer fortschreitenden Transnationalisierung vieler Lebensbereiche und dem Heranrücken der Türkei an Deutschland durch Verkehr, Medien und Informationstechnologien steht ein zu erwartender Bedeutungsverlust der Herkunftslandorientierung gegenüber, die noch auf die Gastarbeitermigration zurückgeht. Das heißt, dass der deutsch-türkische transnationale Raum in Zukunft nicht unbedingt expandieren wird. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass er sich wandeln und neue Akteure und Netzwerke hervorbringen wird. Der oben erwähnte Wandel der Bedingungen für die Zivilgesellschaft in der Türkei kann einer solchen Entwicklung einen wichtigen Schub geben, etwa indem sich in der Türkei Organisationen bilden, die Beziehungen zu Gruppen herstellen, die sich in Folge von Unterdrückung in der Türkei primär in der Diaspora etabliert haben (hier wäre beispielsweise an die alevitischen Organisationen zu denken). Zudem könnten zuvor staatlich dominierte grenzüberschreitende Kontakte von nichtstaatlichen Akteuren weitergeführt werden. So handelt es sich beim momentan wichtigsten in Deutschland tätigen Moscheeverband DITIB nicht um eine zivile, sondern um eine staatliche transnationale Organisation. Ihr dominanter Partner auf türkischer Seite ist das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, das an das Amt des Ministerpräsidenten angegliedert ist. Mit der Anerkennung auch nicht staatlich kontrollierter Religion in der Türkei könnte sich diese Situation mittelfristig ändern.
Mit der sich wandelnden Identität der Migrantinnen und Migranten mit türkischem Hintergrund in Deutschland verändert sich auch der deutsch-türkische transnationale Raum. Die Etablierung solch neuer Identitäten vollzieht sich in der Regel im Zuge intergenerativen Wandels, nicht im Rahmen individueller Biographien. 12 Betrachtet man die jüngeren Türkeistämmigen in Deutschland, so fällt auf, dass sich der Wandel hin zu transnationalen Identitäten eher langsam vollzieht.
Den 16- bis 29-jährigen türkeistämmigen Teilnehmern einer deutschlandweiten repräsentativen Befragung gelingt es nur selten, deutsche und türkische Identität so zu vereinen, dass sie sich tatsächlich als "Deutsch-Türken" bezeichnen (7Prozent). Weitere 25Prozent weisen mit der Angabe, sie seien halb Deutsche und halb Türken, eine Art "Patchwork-Identität" auf. Im Vergleich zur Gruppe der Türkeistämmigen ab 30 Jahren sind damit unter den jungen Befragten die Identitäten deutlich häufiger, die nicht durch eine Nation bestimmt sind. Allerdings bleibt die allein türkische Identität für immerhin noch 59Prozent unter ihnen bestimmend. Zu beachten ist hier, dass für die kulturelle Identität nicht nur das Lebensalter, sondern auch die Aufenthaltsdauer bestimmend ist. Auch unter den jungen Türkeistämmigen in Deutschland finden sich viele Heiratsmigranten mit eher geringer Deutschlandbindung. 13 Die nationale Herkunft bleibt damit für die Identitäten der Mehrheit auch der Jüngeren bestimmend, echt transnationale Identitäten sind (noch) die Ausnahme.
Für die Türkeistämmigen in Deutschland gehörten muttersprachliche Medienangebote fast von Anfang an zum Alltag. Aus der Türkei importierte Zeitungen werden seit Ende der 1960er Jahre angeboten, 1972 produzierte die größte türkische Zeitung "Hürriyet" erstmals Europa-Seiten, welche die Belange der Migrantinnen und Migranten in den Fokus nehmen. Weitere Zeitungen folgten diesem Beispiel. An Funkmedien standen den Zugewanderten bis Ende der 1980er Jahre nur die seit 1964 von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten produzierten muttersprachlichen Sendungen zur Verfügung. Diese sollten als Brücke in die Heimat fungieren. Ende der 1960er Jahre wurden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erste Formate entwickelt, die auch Integrationsziele verfolgten. Mit der Ausbreitung des Satellitenfernsehens schließlich kam es zu einer weiteren Entgrenzung der medialen Räume. 14 Große Bedeutung kommt in diesem Prozess dem Internet zu. Möglicherweise begünstigt es speziell mit Blick auf das von den Nutzern selbst gestaltete Web 2.0 eine neue Qualität transnationaler Medien und Mediennutzung, da Medienangebote eben in einem von vorn herein entgrenzten Raum entstehen und die Differenzierung zwischen Aufnahme- und Herkunftsland kaum von Belang ist. Beispielhaft sind hier Portale wie bizimalem.de, jurblog.de, vaybee.de oder turkdunya.de. 15
Studien zur Mediennutzung unter den Türkeistämmigen haben ergeben, dass mit fortschreitender Integration, einschließlich des Erwerbs von Sprache und höherer (formaler) Bildung, auch in der jüngeren Generation keine Abkehr von türkischen Medienangeboten feststellbar ist, sondern türkische und deutsche Medienangebote vielmehr komplementär genutzt werden. 16 Dies deutet auf eine große Bedeutung transnationaler medialer Räume für die Lebenswirklichkeit von Migrantinnen und Migranten hin. Der türkische Staat ist hier über das Staatsfernsehen ein wichtiger Akteur. Das Mediennutzungsverhalten korrespondiert mit der oben skizzierten "Patchwork-Identität". Das weitgehende Fehlen nicht nur grenzüberschreitender, sondern tatsächlich entgrenzter Medienangebote (wie sie im Internet allerdings inzwischen entstehen) überlässt die Synthese der grenzüberschreitenden Medienrezeption den Migrantinnen und Migranten, die dann mehr oder weniger bruchlos gelingen kann.
Reformen in der Türkei nach dem Militärputsch von 1980 in Richtung einer Abkehr vom etatistischen Wirtschaftsmodell und einer Öffnung zum Weltmarkt ermöglichten nicht zuletzt ein rasches Wachstum des Tourismussektors. Heute ist der Tourismus in der Türkei eine der wichtigsten Dienstleistungsbranchen. Rund 20 Millionen Touristen besuchen jedes Jahr die Türkei, womit sie zu den zehn weltweit bedeutendsten Reisezielen gehört. Die Deutschen stellen unter diesen mit rund vier Millionen Gästen die größte Gruppe.
Bei der Betrachtung der deutsch-türkischen Beziehungen steht in der Regel die Bundesrepublik als Migrationsziel für Menschen aus der Türkei im Vordergrund. Dabei wird oft übersehen, dass die intensiven bilateralen, wirtschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen beider Länder auch dazu geführt haben, dass sich schätzungsweise zwischen 44 000 und 52 000 Deutsche dauerhaft in der Türkei niedergelassen haben. Die Anwesenheit des Großteils der heute in der Türkei lebenden Deutschen steht im Zusammenhang mit zwei deutsch-türkischen Entwicklungen: Zum einen hat das rasante Wachstum des Türkeitourismus das Land in den vergangenen Jahren auch für langfristige Aufenthalte insbesondere für Seniorinnen und Senioren interessant gemacht hat. Zum anderen hat die türkische Migration nach Deutschland mittelbar stark begünstigend auf die deutsch-türkischen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen gewirkt und zusätzliche deutsche Geschäftsleute in die Türkei gelockt. Weiterhin haben im Rahmen binationaler Ehen deutsche Ehegatten in einigen Fällen die Remigration des Partners in die Türkei mit vollzogen. Aus diesen Gruppen rekrutieren sich die heute dauerhaft in der Türkei lebenden deutschen Residenten. Darüber hinaus lassen sich immer mehr Rentnerinnen und Rentner zeitweilig in der Türkei nieder; schätzungsweise 150 000 Deutsche überwintern jedes Jahr dort.
Die Ausübung der christlichen Religion war für die Deutschen in der Türkei lange schwierig, da der türkische Staat unabhängigen Glaubensgemeinschaften keinen Rechtsstatus zubilligt. Gleichwohl haben sich in Istanbul eine evangelische sowie eine katholische Kirchengemeinde gegründet, deren Einzugsbereich sich auf die gesamte Türkei erstreckt. Sie finanzieren sich weitgehend aus Spenden und Beiträgen. In den Räumen Izmir, Ankara und Antalya/Alanya arbeiten weitere deutsche Pfarrer. Eine Stärkung nichtstaatlicher Religionsgemeinschaften, die sich in der Türkei momentan abzeichnet, wird auch zu einer Verbreiterung des transnationalen Raums Deutschland-Türkei führen, indem dieser dann auch die christlichen Kirchen einbezieht.
Seit 1996 hat sich das bilaterale Handelsvolumen zwischen Deutschland und der Türkei fast verdreifacht und betrug 2007 24,8 Milliarden Euro. Zwischenzeitliche wirtschaftliche Krisen in der Türkei wie 1999 und 2001 konnten den langfristigen Wachstumstrend dabei nur kurzzeitig dämpfen. Zugleich hat die Türkei ihre wirtschaftlichen Beziehungen diversifiziert und Kontakte sowohl nach Europa, aber auch in den Nahen Osten und in die Nachfolgestaaten der Sowjetunion geknüpft. Wirtschaftlich ist die Türkei nicht mehr von Europa und von den Überweisungen der türkeistämmigen Auswanderer in Deutschland und anderen EU-Länder abhängig, wie dies noch in den 1960er und 1970er Jahren der Fall war. Unterdessen haben in Deutschland Türkeistämmige zahlreiche Unternehmen gegründet. Für 2004 wurde ihre Zahl mit 60 500 angeben. Seit dem Beginn der 1990er Jahre hat sich ihre Zahl verdoppelt. Diesem sprunghaften Anstieg der Selbständigenquote steht eine deutlich gesunkene Beschäftigungsquote der Gruppe gegenüber. 17 Die Gründung des eigenen Unternehmens ist offenbar für viele eine Strategie, die Folgen der Strukturkrise derjenigen Industrien zu bewältigen, für die in den 1960er und 1970er Jahren Arbeitskräfte angeworben worden waren. Für diese Gründungen sprachen die Marktnische der eigenen Landsleute als sicherer Kundenstamm, aber auch die Beziehungen zum Heimatland, die als soziales und kulturelles Kapital aktiviert werden konnten. Aus der Türkei bezogen die Unternehmer zudem ihre Waren. Inzwischen haben sich die türkischen Unternehmer in Deutschland in den drei Interessensverbänden ATIAD, MÜSIAD und TIDAF zusammengeschlossen.
Demgegenüber stellt Deutschland aber auch die größte Zahl der ausländischen Firmen, die in der Türkei Direktinvestitionen getätigt haben. Die Zahl deutscher Unternehmen bzw. türkischer Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung ist in den vergangenen Jahren nach Auskunft des Auswärtigen Amtes auf über 3100 gestiegen. Diese Aktivitäten werden dadurch begünstigt, dass die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland als eine Brücke zum türkischen Markt fungiert und deutschen Unternehmen den Zugang erleichtert.
Der transnationale Raum Deutschland-Türkei ist so facettenreich wie widersprüchlich. Die Frage nach seiner zukünftigen Ausgestaltung und den Auswirkungen auf die deutsch-türkische Lebenswirklichkeit ist entsprechend schwer zu beantworten. Im Kern geht es darum, inwieweit Bedingungen des Nationalstaates das Leben auch zukünftig prägen werden. So wurde auf den expandierenden deutsch-türkischen Wirtschaftsraum hingewiesen, der auch die Push- und Pull-Faktoren von Migration verändert. Umfragen zeigen, dass rund ein Drittel der Türkeistämmigen in Deutschland "Rückkehrabsichten" hegt und ihre Zahl in den vergangenen Jahren sogar leicht gestiegen ist. 18 Dies bedeutet aber nicht, dass diese Pläne tatsächlich umgesetzt werden. Es verbleiben beträchtliche rechtliche Hürden mit Blick auf Niederlassungs- und Aufenthaltsbestimmungen und die Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen. Die "ethnische Ökonomie" in Deutschland ist indessen nicht nur eine Erfolgsgeschichte, sondern wirft auch Fragen nach der Nachhaltigkeit von Unternehmensgründungen auf. In vielen Fällen dürften Gründungen weniger durch die Chancen im transnationalen deutsch-türkischen Raum als vielmehr durch den Mangel von Erwerbsalternativen in Deutschland zu erklären sein. 19
Die Bewertung transnationaler Erwerbsbiographien ist ebenfalls ambivalent: Die deutsche Gesellschaft verliert einerseits wichtige Potentiale, wenn junge, qualifizierte Menschen Deutschland verlassen, weil sie sich hier vergleichsweise chancen- und perspektivlos sehen. Zugleich kann dieses Mobilitätspotenzial aber transnationale Kontakte und Wirtschaftsbeziehungen schaffen und vorantreiben. 20
Die Identitäten türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten in Deutschland sind vermehrt als Patchwork aus Deutschland- und Türkeiorientierung zu begreifen, nur selten aber als wirklich transnationale Identitäten. Anlog dazu ist auch die Entwicklung der deutsch-türkischen zivilgesellschaftlichen Organisationen uneindeutig: Der Erleichterung grenzüberschreitender Kontakte und einem fortdauernden Familiennachzug steht die Akkulturation der zweiten und dritten Migrantengeneration entgegen, mit unklaren Folgen für die zivilgesellschaftlichen deutsch-türkischen Netzwerke.
Identitäre Fremd- und Selbstzuschreibungen und funktionale Bezüge sind oft diskrepant; dabei spielen die Rückkehrillusion und die verspätete Wende in der deutschen Einbürgerungspolitik eine große Rolle. 21 Sicher ist aber: Mit fortschreitender Globalisierung und Migration als einem der wichtigsten Elemente dieser Entwicklung, infolgedessen Aufenthalte nicht immer stetig sind, Pendelmigration auftritt und mediale Netzwerke immer weiter geknüpft werden, greifen Vorstellungen zu kurz, die Herkunftslandorientierung als integrationshemmend beschreiben. Nicht nur Offenheit gegenüber westlichen Ländern, sondern auch Offenheit gegenüber der Türkei kann wirtschaftlich und kulturell bereichernd sein. Die Deutschtürken sind dabei zunehmend eine dynamische Verbindungsgruppe.
1 Siehe zu diesen
Themen Ludger Pries, Die Transnationalisierung der sozialen Welt,
Frankfurt/M. 2008; Thomas Faist, The Volume and Dynamics of
International Migration and Transnational Social Spaces, Oxford
2000.
2 Zur Evolution der
Zivilgesellschaftsdiskussion in der Türkei vgl. Gazi
Çağlar, Staat und Zivilgesellschaft in der Türkei
und im Osmanischen Reich, Frankfurt/M. 2000, S. 21 - 147.
3 Zum historischen Hintergrund und zu
den traditionellen Strukturen vgl. Dietrich Thränhardt, Die
Türkei. Eine militärische Republik, in: PVS-Literatur,
(1982) 2, S. 159 - 166 und (1983) 1, S. 6 - 25.
4 Vgl. G. Caglar (Anm. 2), S. 554.
5 Siehe zur Rolle des türkischen
Militärs den Aufsatz von S, ahin Alpay in dieser
Ausgabe.
6 Vgl. Statistisches Bundesamt,
Bevölkerung und Erwerbstätigkeit - Einbürgerung
2007, Wiesbaden 2008.
7 Vgl. Dirk Halm/Martina Sauer,
Bürgerschaftliches Engagement von Türkinnen und
Türken in Deutschland, Wiesbaden 2007, S. 69.
8 Siehe zu den transnationalen Kontakten
wichtiger türkischer Organisationen in Deutschland Anna
Amelina/Thomas Faist, Turkish Migrant Associations in Germany:
Between Integration Pressure and Transnational Linkages, in: Revue
Européenne des Migrations Internationales, (2008) 2, S. 67 -
90.
9 Vgl. ebd., S. 89.
10 Vgl. Ruud Koopmans/Paul Statham, How
national citizenship shapes transnationalism: A comparative
analysis of migrant claims-making in Germany, Great Britain and the
Netherlands, Oxford 2001.
11 Vgl. Claudia Diehl, Die
Partizipationsmuster türkischer Migranten in Deutschland.
Ergebnisse einer Gemeindestudie, in: Zeitschrift für
Ausländerrecht und Ausländerpolitik, (2001) 1, S. 29 -
35.
12 Vgl. Frank Kalter/Nadia Granato,
Sozialer Wandel und strukturelle Assimilation in der
Bundesrepublik. Empirische Befunde mit Mikrodaten der amtlichen
Statistik, in: IMIS-Beiträge, (2004) 2, S. 80.
13 Vgl. Dirk Halm, Freizeit, Medien und
kulturelle Orientierungen türkischstämmiger Jugendlicher,
in: Hans-Jürgen von Wensierski/Claudia Lübcke (Hrsg.),
Junge Muslime in Deutschland, Opladen 2007, S. 105f.
14 Siehe dazu ausführlich Sonja
Weber-Menges, Die Entwicklung der Ethnomedien in Deutschland, in:
Rainer Geißler/Horst Pöttker (Hrsg.), Integration durch
Massenmedien. Medien und Migration im internationalen Vergleich,
Bielefeld 2006, S. 121 - 145.
15 Vgl. Kathrin Kissau/Uwe Hunger,
Politische Sphären von Migranten im Internet, Baden-Baden
2009.
16 Vgl. Dirk Halm, Die Medien der
türkischen Bevölkerung in Deutschland. Berichterstattung,
Nutzung und Funktion, in: R. Geißler/H. Pöttker (Anm.
14), S. 90ff.
17 Vgl. Institut für
Mittelstandsforschung, Die Bedeutung der ethnischen Ökonomie
in Deutschland. Push- und Pull-Faktoren für
Unternehmensgründungen ausländischer und
ausländischstämmiger Mitbürger (Kurzfassung),
Mannheim 2005, S. 5ff.
18 Vgl. Martina Sauer, Perspektiven des
Zusammenlebens: Die Integration türkischstämmiger
Migrantinnen und Migranten in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse der
achten Mehrthemenbefragung, Essen 2007, S. 96.
19 Vgl. Institut für
Mittelstandsforschung (Anm. 17), S. 7.
20 Siehe zu dieser Diskussion auch
Dietrich Thränhardt, Entwicklung durch Migration. Ein neuer
Forschungs- und Politikansatz, in: ders. (Hrsg.), Entwicklung und
Migration. Jahrbuch Migration - Yearbook Migration 2006/2007,
Münster 2008, S. 102 - 128.
21 Vgl. ders., Einbürgerung.
Rahmenbedingungen, Motive und Perspektiven des Erwerbs der
deutschen Staatsangehörigkeit, Bonn 2008.