DIE SONSTIGEN
21 kleinere Parteien sind zur Wahl angetreten und haben zusammen 6 Prozent der Stimmen bekommen. Ein beachtliches Ergebnis - und eine Gefahr für die Großen?
Würden sie sich zu einer Partei, zu den "Sonstigen", zusammentun, hätten sie am 27. September den Sprung in den Bundestag geschafft: Die 21 Klein- und Kleinstparteien auf den Stimmzetteln - in den Wahlergebnissen fast nie erwähnt - haben bei der Bundestagswahl 6 Prozent aller Zweitstimmen eingefahren. Sieht man von der ersten Bundestagswahl 1949 ab, ist das bundesdeutscher Rekord. Vor 60 Jahren kamen 11 sonstige Parteien auf insgesamt 27,8 Prozent der Stimmen, doch das ist seither unerreicht. Meist bewegen sich die sonstigen Parteien zwischen 0,9 (1972) und 4,2 Prozent (1990). Nur 1998 war ihr Ergebnis mit 5,9 Prozent ähnlich hoch wie jetzt.
Die Bundestagswahl 2009 hat gezeigt, dass zumindest Teile der "Sonstigen" durchaus mehr Wähler mobilisieren können. Zugleich wächst ihre Zahl seit Jahren. Standen in den Anfangsjahren der Republik neben den im Bundestag vertretenen Kräften nie mehr als 15 weitere Parteien auf dem Stimmzettel, sind es seit 1990 meist zwischen 20 und 30. Überhaupt gab es noch nie so viele Parteien in der Bundesrepublik wie heute:114 Parteien und politische Vereinigungen sind derzeit beim Bundeswahlleiter registriert; für Parteienforscher wie dem Berliner Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer "Ausdruck einer zunehmenden Differenzierung in der Gesellschaft". Die Volksparteien hätten immer größere Schwierigkeiten, ihre heterogene Klientel an sich zu binden. Für Kleinstparteien wird es leichter, Wähler zu gewinnen.
Und so gibt es mittlerweile für fast jede Zielgruppe eine Partei: für Familien, Rentner, Tierschützer, Bayern, Marxisten. Unter den "Sonstigen" sind Parteien wie "Die Violetten", die für eine "spirituelle Politik" eintreten, ebenso wie die Bayernpartei, die ein von der Bundesrepublik "unabhängiges Land Bayern" fordert. Auch radikale Positionen sind darunter: So zielt die Deutsche Kommunistische Partei auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung ab. Die "Partei Bibeltreuer Christen" propagiert "den Ausstieg aus der Homosexualität". Und mit NPD, DVU und den Republikanern stellten sich diesmal wieder drei rechtsextreme Parteien zur Wahl. Die NPD erzielte unter den sonstigen Parteien mit 1,5 Prozent (635.437 Stimmen) sogar das zweitbeste Ergebnis. Meist erhalten die kleinen Parteien nur zwischen 1.000 und 100.000 Stimmen, also kaum mehr als 0,0 bis 0,1 Prozent der Zweitstimmen. Die Fünf-Prozent-Hürde liegt für sie in weiter Ferne.
Dass die "Sonstigen" diesmal so gut abschnitten, liegt vor allem an einer Partei: den Piraten. Sie nahmen das erste Mal an einer Bundestagswahl teil und holten aus dem Stand 2 Prozent (845.904 Stimmen). Ein beachtliches Ergebnis für die junge, erst im September 2006 gegründete Partei. Sie zählt schon heute mehr als 9.000 Mitglieder und besitzt Landesverbände in allen 16 Bundesländern. Viel bemühte Politiker-Vokabeln wie Wachstum und Arbeitsplätze kommen im Wahlprogramm der Piratenpartei nicht vor. Stattdessen setzt sie auf die Themen Datenschutz und Internet. 13 Prozent der männlichen Erstwähler honorierten das mit ihrem Kreuz. Mit Hilfe der Wahlkampfkostenerstattung werden sich die Piraten jetzt noch besser organisieren können. Anspruch hat jede Partei, die mindestens 0,5 Prozent der Stimmen erreicht hat. 0,85 Euro pro Stimme gibt es bis zu einer Gesamtzahl von 4 Millionen Stimmen, 0,70 Euro für alle darüber hinaus erzielten.
Könnten die Piraten so bald den größeren Parteien Konkurrenz machen? Parteienforscher Niedermayer glaubt das nicht. Er sieht weder die Piraten noch eine andere Partei im nächsten Bundestag: "Ich erkenne im Moment keine große neue Konfliktlinie in der Gesellschaft, die nach einem politischen Ausdruck schreit und die von den traditionellen Parteien nicht genauso organisiert werden könnte." Auch das Thema Datenschutz, wenngleich zuletzt heiß diskutiert, hält Niedermayer nicht für ein "Katalysatorthema", das den Piraten den Weg ins Parlament ebnen könnte. "Das Thema ist bei den Grünen am sinnvollsten aufgehoben. Sie haben es zwar bisher versäumt, sich darum zu kümmern, aber sie werden es nachholen." Will heißen: Sobald ein Thema gesellschaftlich relevant wird, greifen es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die größeren Parteien auf. Die Ein-Themen-Partei, insofern ein wirksames "Frühwarnsystem" für die "Großen", verliert ihre Bedeutung und damit den Großteil ihrer Wähler.
Doch es hat in den zurückliegenden Jahrzehnten auch Ausnahmen von diesem Prinzip gegeben: Die Grünen, Die Linke, aber auch die rechtsextremen Parteien haben gesellschaftliche Konflikte mit Erfolg aufgegriffen. Sie haben sich - wenn auch auf unterschiedlichem Niveau - im deutschen Parteiensystem etabliert: die Grünen zu Beginn der 1980er Jahre aufgrund ihrer Umwelt- und Friedenspolitik, die rechten Parteien im selben Jahrzehnt wegen des Streits um die Zuwanderung und Die Linke, als Vertreterin ostdeutscher Interessen und Verfechterin des Sozialstaats.
Der Berliner Soziologe Dieter Rucht glaubt durchaus, dass sich solche Erfolge in naher Zukunft wiederholen könnten - und dass vielleicht bald eine sechste oder siebte Partei im Parlament sitzen wird. "Sobald die besser informierten Wechselwähler den Eindruck haben, dass die Unterschiede zwischen den Parteien nicht groß genug sind, schauen sie sich nach neuen Akteuren um", sagt Rucht und gibt zu Bedenken: "Wenn das Wählerpotenzial der Volksparteien weiter abschmilzt, ist auch mehr Platz für kleinere Parteien."