pogrom
Jüdische Emigranten berichten über den 9. November 1938
Nie mehr zurück in dieses Land, wenn wir es erst einmal lebend verlassen haben", notierte die Berliner Ärztin Hertha Nathorff. Zusammen mit mehr als 250 aus Deutschland geflohenen Juden hatte sie an einem Schreib-Wettbewerb der Harvard Universität teilgenommen. Am 7. August 1939 hatte die "New York Times" über den mit 1.000 US-Dollar dotierten "Prize for Nazi stories" berichtet: Augenzeugen wurden aufgefordert, ihr "Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933" zu schildern. Die Ausschreibung erfolgte auch auf Deutsch und wurde an jüdische Informationsbüros und Hilfswerke weltweit verschickt.
Die Berichte konnten bis zu 80 Schreibmaschinenseiten lang sein und sollten "möglichst einfach, unmittelbar, vollständig und anschaulich gehalten" sein. Die Wissenschaftler mahnten die Autoren, "wirkliche Vorkommnisse" zu beschreiben, die "ein gutes Gedächtnis, scharfe Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis" voraussetzen. Erwartet wurden zudem Zitate aus Briefen, Notizbüchern und sonstigen persönlichen Schriftstücken, um den Texten die erforderliche Authentizität zu verleihen. Fast alle Flüchtlinge berichteten von ihren Leiden während der Novemberpogrome, die neun Monate zuvor stattgefunden hatten.
Eine Auswahl von 21 Texten liegt nun erstmals in einer deutschen Ausgabe vor. Die Sammlung mit persönlichen Erinnerungen an die sogenannte "Reichskristallnacht" ergänzt die bereits von der Wiener Library (London) veröffentlichten Berichte. Für die Zeitzeugen stellten die Novemberpogrome den Gipfel der Nazi-Barbarei dar, tatsächlich waren sie nur "ein mattes Vorspiel" dessen, was den Juden in Deutschland und im besetzten Europa noch widerfahren sollte, bemerkt Saul Friedländer in seinem Vorwort. Einer der beiden Herausgeber des Bandes, Thomas Karlauf, fügt hinzu, allen Texten liege die Gewissheit zu Grunde, dass das jüdische Leben in Deutschland mit den Pogromen sein Ende gefunden habe. Zwar bemühten sich die jüdischen Autoren wie verlangt um Sachlichkeit, dennoch brachen ihre Empfindungen im Nacherleben der schrecklichen Erlebnisse immer wieder durch. Das Gefühl der Trauer und das ungläubige Staunen über das Erlebte ziehen sich wie ein roter Faden durch ihre Erinnerungen.
Die Initiatoren des Harvard-Wettbewerbs waren der Psychologe Gordon Allport, der auf deutsche Geschichte spezialisierte Historiker, Sydney Fay, und sein Schwiegersohn, der Soziologe Edward Hartshorne -der jüngste der drei und die Seele des Projektes. Edward Hartshorne, der sich schon als Student für Deutschland interessiert hatte, beschäftigte sich in seiner Doktorarbeit mit den Universitäten in der Nazizeit. In seinem Buch, das bis heute zu den Standardwerken gehört, schildert er die Zerschlagung der deutschen Traditionsuniversitäten. Auch in seiner späteren wissenschaftlichen Tätigkeit stand das Unterdrückungssystem der Nationalsozialisten im Mittelpunkt seiner Arbeit: Nach den Novemberpogromen 1938 war er davon überzeugt, dass die Regierungsmacht in Deutschland in den Händen von Verbrechern lag. Bevor Hartshorne 1941 zum neu gegründeten Nachrichtendienst Office of Strategic Services (OSS) wechselte, verfasste er noch einen Aufsatz über die Hingabe der Deutschen an ihren charismatischen Führer. Aus psychologischer Sicht beschrieb er damals den "Führerkomplex".
Nachdrücklich würdigt Uta Gerhard Hartshornes Engagement im Nachkriegsdeutschland. Als Besatzungsoffizier für "Reeducation" leitete er die Entnazifizierungsverfahren an den Universitäten Marburg, Frankfurt, bei der "Kölnischen Zeitung" sowie in Bayern. Am 28. August 1946 wurde Hartshorne mit einem Kopfschuss auf der Autobahn hinter Nürnberg liquidiert. Seine Schwester vermutet, dass er die geheime Fluchtroute der Nazi-Verbrecher nach Lateinamerika an die Sowjetunion "verraten" wollte.
Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938.
Propyläen Verlag, Berlin 2009; 363 S., 22,90 ¤