DEN HAAG
Der erste ständige Internationale Strafgerichtshof hat 2002 mit seiner Arbeit begonnen
Sie kamen am 29. September 2007 nach Sonnenuntergang. Rund eintausend Männer fielen in das kleine Dorf Haskanita in der sudanesischen Krisenregion Darfur ein. Ein Dorf, das unter dem Schutz einer Friedenstruppe der Afrikanischen Union stand und in das sich mehrere tausend Menschen geflüchtet hatten. Die Männer töteten mehr als 100 Menschen, darunter zwölf Soldaten der Friedenstruppe, und vertrieben mehr als zehntausend. Dann setzten sie die Häuser in Brand und ließen so gut wie keinen Stein auf dem anderen. Aber wer waren die Täter? Und wer gab ihnen den Befehl, das Dorf Haskanita zu überfallen? Die von Omar Hassan Ahmad al-Bashir geführte Zentralregierung des Sudan bestreitet ebenso Drahtzieher zu sein, wie die sie bekämpfenden Rebellen.
4.800 Kilometer entfernt in Den Haag soll jetzt geklärt werden, wer verantwortlich ist. Genauer: ob Bahar Idriss Abu Garda verantwortlich ist - einer von drei Rebellenführern, gegen die die Beweise im Haskanita-Fall ausreichten, um Haftbefehle oder eine Vorladung gegen sie zu beantragen. Vorwurf der Anklage: Mord, Plünderungen und Angriffen auf internationale Friedenstruppen. So sieht es zumindest der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), der Argentinier Luis Moreno-Ocampo. Zwei der Rebellenführer sind noch nicht gefasst. Abu Garda erschien im Mai 2009 auf Vorladung in Den Haag vor Gericht. Freiwillig. Eine Premiere beim Internationalen Strafgerichtshof, der 2002 seine Arbeit in der niederländischen Hauptstadt aufgenommen hat. Es ist die Stadt, die sich unbescheiden "Stadt des Friedens und des Rechts" nennt und mit drei internationalen Gerichtshöfen für sich wirbt. Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen, 1945 gegründet, regelt Angelegenheiten zwischen Staaten. Vor dem Internationalen Strafgerichtshof und dem Tribunal für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY) wird gegen Einzelpersonen verhandelt, denen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen vorgeworfen wird.
So wie Abu Garda. Gemeinsam mit seinem Team von Verteidigern will er verhindern, dass es überhaupt zu einem Prozess kommt. "Dies ist kein Prozess, kein Mini-Prozess und kein Prozess vor dem eigentlichen Prozess", betont die Vorsitzende Richterin Sylvia Steiner. Es gehe darum, zu erkennen, ob gegen den Beschuldigten überhaupt verhandelt wird oder nicht.
Die Besuchergalerie 1, vom Verhandlungssaal durch eine Panzerglasscheibe getrennt, ist beinahe voll besetzt. Die rund 80 Journalisten und Gäste sitzen den Richtern gegenüber. Links, vier Meter von den Besuchern entfernt, der Angeklagte Abu Garda in hellgrauem Anzug, weißem Hemd und schwarz-weiß gestreifter Krawatte. Das schmale Goldgestell seiner Brille sitzt ganz vorne auf der Nase, während er konzentriert ein Papier liest, das ihm sein Verteidiger Karim Asad Ahmad Khan gerade gegeben hat. Rechts im Saal hat die Anklägerin Fatou Bensouda mit ihrem zehnköpfigen Team Platz genommen. Die Beweislast, damit es zum Prozess kommt, liegt bei ihr. Neben der Anklage sitzen vier weitere Anwälte, die die Opfer und ihre Angehörigen vertreten.
Ob er in guter Verfassung sei und fähig, dem Prozess zu folgen, fragt die Richterin den Beschuldigten zu Beginn der Anhörung. Abu Garda, über den es auf der Internetseite des Gerichts heißt, sein Alter werde auf "in den 40ern" geschätzt, bejaht in gutem Englisch. Während er nur Sicherheitsauflagen unterliegt, weil er freiwillig nach Den Haag kam, sind die anderen Angeklagten des Internationalen Strafgerichtshofs im Untersuchungsgefängnis im nahegelegenen Seebad Scheveningen untergebracht. Zellen mit Meerblick gibt es in dem Backsteinkomplex nicht. Aber prominente Mithäftlinge: Auch die Angeklagten des anderen Strafgerichtshofs, des UN-Jugoslawien-Tribunals, warten in den 15 Quadratmeter großen Zellen auf ihren Prozess - oder darauf, ihn zu torpedieren, wie Radovan Karadzic.
Der ehemalige Präsident der bosnischen Serben, unter anderem wegen der Ermordung von mehr als 8.000 muslimischen Jungen und Männern im Jahr 1995 in Srebrenica angeklagt, war Ende Juli 2008 nach mehr als 13 Jahren Versteckspiel in Belgrad gefasst und nach Den Haag überstellt worden. "Ich stelle fest, dass Herr Karadzic nicht anwesend ist", sagte der Vorsitzende Richter O-Gon Kwon beim Prozessauftakt am 26. Oktober. Ein Problem, da Karadzic sich selbst verteidigen wollte. Nach dem vierten Verhandlungstag entschied das Gericht, Karadzic einen Pflichtverteidiger zur Seite zu stellen. Der muss sich einarbeiten, der Prozess ist deshalb auf den 1. März 2010 vertagt. 300 Stunden erhält die Anklage dann, um die Schuld des Angeklagten in den zwölf ihm zur Last gelegten Punkten zu beweisen. Die gleiche Zeit steht für Karadzics Verteidigung zur Verfügung.
Grob überschlagen, heißt das: Ein Jahr haben beide Parteien Zeit. Ein Urteil wird nicht vor Mitte 2012 fallen. Nach aktuellem Stand der Dinge ist der Karadzic-Prozess der letzte, der vor dem ICTY verhandelt wird. Nach dem Willen des UN-Sicherheitsrates muss das Gericht danach seine Arbeit beenden: Das sieht die Completion Strategy, die Bewältigungsstrategie vor. Was passiert, wenn danach die beiden letzten vom ICTY gesuchten Kriegsverbrecher, Ratko Mladic und Goran Hadzic, auftauchen, ist nicht endgültig geklärt: Nationale Gerichte könnten die beiden anklagen. Eine andere Variante wäre, das ICTY auf Standby zu halten, für den Fall, dass sie gefasst werden. "Das letzte Wort hat der UN-Sicherheitsrat", erklärt Nerma Jelacic, Sprecherin des ICTY.
Der nur sieben Kilometer entfernte Internationale Strafgerichtshof kann die Fälle nicht übernehmen. Er darf nur Verbrechen verhandeln, die nach dem 1. Juli 2002 begangen wurden. An diesem Tag trat das Römische Statut in Kraft, der internationale Völkerrechtsvertrag, der dem Gericht zugrunde liegt. Nötig waren dazu 60 Staaten, die das Statut ratifizierten. Mittlerweile sind es 110.
"Es ist vollkommen klar, dass wir auf die Täter hinter den Tätern, auf die, die die Befehle geben, abzielen", erklärt der erste deutsche Richter und Vizepräsident des Internationalen Strafgerichtshofs, Hans-Peter Kaul, den Auftrag. "Internationale Strafgerichtsbarkeit ist eine unvorstellbar komplexe, aufwendige und teure Sache. Sie lohnt sich nur für die Hitlers, Saddams Husseins und Pol Pots von morgen. Und die Warlords, die ihnen gleichkommen, weil sie in einer bestimmten Region eine Schreckensherrschaft errichtet haben." Kaul führte für Deutschland die Verhandlungen zur Entwicklung des Statuts. Er ist stolz auf "das erste ständige Gericht, das auf dem freien Willen der Staatengemeinschaft beruht, das zukunftsgerichtet ist und dem Grundsatz folgt ,Gleichheit vor dem Recht - Gleiches Recht für alle'". Er sei ein Bewfürworter des Rechts in den internationalen Beziehungen. "Dafür steht das Gericht", sagt er. Auch wenn Staaten wie die USA, China, Russland und Israel es nicht anerkennen? "Der größte Feind des Gerichts ist kein bestimmter Staat oder eine Regierung - wie früher - die Bush-Administration. Seine größten Feinde sind Ignoranz oder Gleichgültigkeit", entgegnet Kaul.
Der Internationale Strafgerichtshof mit mehr als 650 Mitarbeitern aus über 85 Staaten ist eine "Reserve-, eine Notfallinstitution", formuliert Kaul. Und so legt es auch das Römische Statut fest: Das Gericht wird nur tätig, wenn die nationale Gerichtsbarkeit eines Staates nicht willens oder in der Lage ist, Verantwortliche vor Gericht zu stellen. Wie im Fall der Demokratischen Republik Kongo, der Zentralafrikanischen Republik und Uganda - alle Vertragsstaaten des Gerichts. Sie forderten die Hilfe des Gerichts an, weil sie sich nicht imstande sahen, die mutmaßlich Verantwortlichen für schwerste Menschenrechtsverbrechen vor nationale Gerichte zu stellen. Im Abu Garda-Fall, dem ersten, der sich mit Kriegsverbrechen im Sudan beschäftigt, ist das anders. Der Sudan hat das Römische Statut nicht ratifiziert. Das Gericht kann dennoch ermitteln; der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat ihm den Fall Sudan überwiesen.
Der Vorwurf an das Gericht, es ermittle einseitig und sei vor allem ein Gericht gegen Afrika, trifft damit den falschen. Von sich aus kann der Strafgerichtshof nur gegen Bürger aus Vertragsstaaten ermitteln. Im Fall des Gaza-Kriegs ist der Strafgerichtshof beispielsweise darauf angewiesen, dass der UN-Sicherheitsrat den Fall an ihn weiterleitet. Weder Israel noch Palästina sind Vertragsstaaten.
Auch der sudanesische Beschuldigte Abu Garda hält das Gericht nicht für einseitig. Er betont zwar: "Ich glaube nicht, dass ich hierhin gehöre. Ich habe nichts getan." Fügt allerdings hinzu: "Aber ich bin freiwillig hierher gekommen, weil ich an Gerechtigkeit, an Rechtsstaatlichkeit und die Rechtmäßigkeit des Gerichts glaube."
Mittlerweile ermittelt der Internationale Strafgerichtshof in 14 Fällen, auch gegen den sudanesischen Staatschef al-Bashir. Gegen vier inhaftierte Angeklagte wird derzeit verhandelt. Nur oder schon vier? "Das Gericht darf nicht an der Zahl seiner Fälle gemessen werden", sagt Richter Kaul. "Es muss gemessen werden an seiner standardsetzenden und wertevermittelnden Funktion, daran, dass schwerste Menschenrechtsverbrechen nicht mehr automatisch straflos bleiben."