TEIL-AMneSTIE
Die kolumbianische Jusitz geht gegen die Verantwortlichen des Bürgerkriegs vor
Auf den ersten Blick ist Mario Iguarán keiner, dem man zutraut, ein ganzes Land aufzuwühlen und selbst den Präsidenten in Bedrängnis zu bringen. Der kolumbianische Spitzenjurist besticht durch ausgesuchte Höflichkeit und freundlichen Blick. Ende Juli schied er turnusgemäß aus dem Amt des Generalstaatsanwalts aus. Iguarán spricht leise und sanft, ganz so, als könne er dadurch den unter seiner Leitung aufgedeckten Greueltaten den Schrecken nehmen. "Es sind Verbrechen ans Licht gekommen, von denen wir keine Ahnung hatten", sagt Iguarán und berichtet von Paramilitärs, die ihre Opfer bei lebendigem Leib mit der Motorsäge zerstückelten und mit den Köpfen der Leichen Fußball spielten.
Unter Iguarán startete Kolumbiens Justiz vor drei Jahren eine Großoffensive, die bis heute andauert und das Land erschüttert. Staatsanwälte und Richter des Landes wollen den seit Jahrzehnten andauernden Bürgerkrieg erstmals juristisch aufrollen. Das Vorhaben ist gewaltig. Paramilitärische Milizen, Guerillas und auch die staatlichen Sicherheitskräfte haben Tausende von Morden und unzählige Massaker verübt, dazu Millionen von Menschen vertrieben und gewaltsam enteignet. Aktenkundig wurden bisher die Aussagen von 600 Tätern, mehrheitlich ehemalige Paramilitärs. Sie gestanden oder denunzierten bisher mehr als 22.000 Morde. Möglich wurde die Aufklärung dank des Gesetzes 975, besser bekannt unter seinem Titel "Gerechtigkeit und Frieden". Es gewährt demobilisierten Kämpfern der illegalen bewaffneten Gruppen seit 2006 eine reduzierte Strafe von acht Jahren Gefängnis. Voraussetzung sind ein lückenloses Geständnis und Entschädigung der Opfer. Offen steht die Teil-Amnestie sowohl den in den 1980er Jahren von Großgrundbesitzern und Politikern gegründeten paramilitärischen Milizen als auch der seit 45 Jahren bestehenden, marxistisch inspirierten Guerilla.
"Es ist ein erfolgreiches Gesetz", zeigt sich Iguarán überzeugt und spricht von einem "neuartigen und außergewöhnlichen Instrument, um Versöhnung und Frieden zu erreichen". Doch die Teil-Amnestie, auf die sich auch Massenmörder berufen haben, ist in Kolumbien umstritten. Vehement bekämpft wird sie vom Menschenrechtsexperten Gustavo Gallón, Direktor der vom Staat unabhängigen kolumbianischen Juristenkommission (CCJ). "Dieses Gesetz schafft Ungerechtigkeit und ignoriert die Rechte der Opfer. Das ist kein Friedensprozess und auch kein Prozess der Gerechtigkeit."
Zwiespältig zeigt sich Javier Ciurlizza, Lateinamerika-Direktor des "Internationalen Zentrums für Übergangsjustiz" in Bogotá. Der Jurist führte und beriet Wahrheitskommissionen und ähnliche Institutionen in Peru, Paraguay, Kenia, Indonesien und Liberia. All diese Länder arbeiteten ihre internen Konflikte erst juristisch auf, als sie bereits beendet waren. Anders sei dies in Kolumbien, erläutert Ciurlizza. Hier geht die Justiz den bewaffneten Konflikt an, während er tobt - ein weltweit einmaliges Vorhaben.
Rein zahlenmäßig ist das bisherige Ergebnis enttäuschend. Unter Berufung auf die Teil-Amnestie stellten sich bisher etwa 3.000 Paramilitärs und 300 Guerillakämpfer. Viele von ihnen sind mittlerweile wieder abgetaucht, viele konnte die Justiz noch nicht ausführlich befragen. Ein Verfahren eröffnete sie erst gegen 320 Geständige, von denen wiederum erst einer verurteilt wurde Er gilt allerdings als kleiner Fisch im Gefüge der kolumbianischen Paramilitärs.
Justizberater Ciurlizza räumt ein: "Wir waren viel zu optimistisch. Vor drei Jahren dachten wir noch, dass es in Kolumbien bis heute 2.000 Verurteilte geben würde und 80 Prozent der Opfer entschädigt sein würden." Dass die Täter ihr gesamtes Vermögen abgeben, um die Opfer zu entschädigen, funtioniert bisher nur teilweise.
Ein Grund für die langsame Aufarbeitung ist die Komplexität der Fälle. "Für die Staatsanwälte ist das eine teuflisch vertrackte Aufgabe", sagt Ciurlizza und erklärt freimütig: "Es ist praktisch unmöglich, der Fährte einer Person zu folgen, die während 20 Jahren in illegalen Strukturen gelebt hat. Es wird immer Dinge geben, die wir nie wissen werden."
Behindert wird die Aufklärung auch von Präsident Álvaro Uribe, der sich ursprünglich für eine bedingungslose Generalamnestie der Paramilitärs stark gemacht hatte. 2008 ließ er überraschend geständige Paramilitärs der obersten Führungsebene über Nacht in die USA ausliefern. Darunter Salvatore Mancuso. Der Kommandant der "Selbstverteidungseinheiten Kolumbiens" (AUC) hatte zuvor die Verantwortung für 5.000 Morde eingeräumt. Und er war dabei, über die Verbindungen zwischen Politik und Paramilitärs auszusagen. Weitere eilige Auslieferungen folgten, bis heute insgesamt 16. "Das sind die Chefs. Das sind die einzigen, die wissen, was alles passiert ist", kritisiert der erfahrene Jurist die Aktion.
In den USA erwarten die Paramilitärs zwar hohe Haftstrafen wegen Drogenhandels. Doch der Anreiz, mit Kolumbiens Staatsanwälten bei der Aufklärung der Bürgerkriegsverbrechen zusammenzuarbeiten, entfalle, sagt Ciurlizza. "Die Auslieferungen waren gegen den Sinn des Gesetzes und behindern den Prozess ,Gerechtigkeit und Frieden'." So bleibt das Land weit entfernt vom Frieden.
Im vergangenen Jahr wurden 380.000 Menschen gewaltsam von ihrem Land und aus ihren Häusern vertrieben, 24 Prozent mehr als 2007, wie "amnesty international" im Juli beklagte. Die Menschenrechtsorganisation schätzt die Gesamtzahl der seit Uribes Machtantritt 2002 landesintern Vertriebenen auf mehr als drei Millionen. Verantwortlich dafür seien Paramilitärs, Guerillas und Armee. In einem Bericht der Organisation heißt es: "Die herrschende schwierige humanitäre Lage in Kolumbien Kolumbien ist eine der derzeit größten versteckten Tragödien und widerlegt die Behauptung der Regierung, dass das Land seine turbulente Vergangenheit überwunden habe."
Dennoch sieht Javier Ciurlizza "substanzielle Fortschritte" in Kolumbien, dessen Justiz sich so bissig zeigt wie sonst nirgends in Lateinamerika und auch Konfrontationen mit dem eigenen Präsidenten nicht scheut. Dazu beigetragen hätten die Geständnisse reumütiger Täter. Sie hätten bei Kolumbiens Strafjuristen "den Effekt eines Wetteiferns" gehabt. "Es gibt heute viele engagierte Staatsanwälte."
Gelobt wird Kolumbiens Teil-Amnestie darum auch vom Göttinger Strafrechtsprofessor Kai Ambos, der gerade in Bogotá eine Studie darüber präsentiert hat: "Der kolumbianische Weg ist ein sehr innovativer Weg. Es gibt kein anderes Land, das diesen Weg beschritten hat", sagt Ambos. Zum Vergleich führt er die Aufarbeitung des Apartheidsregimes in Südafrika an. Dort habe es genügt, glaubwürdig Reue vor der Wahrheitskommission zu zeigen, um amnestiert zu werden. Im Gegensatz dazu habe Kolumbien ein "hochkomplexes Gesetz" geschaffen, dass die Justiz zu aktiven Ermittlungen zwinge. "Der Prozess hat Substanz. Das ist keine Show", zeigt sich der Kenner des Konflikts überzeugt. Für ein abschließendes Urteil sei es jedoch zu früh.
Pragmatischer formuliert es da der deutsche Strafverteidiger Andreas Forer. Seit drei Jahren leitet er in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá ein inzwischen 15-köpfiges Expertenteam, das Kolumbiens Justiz berät. Finanziert wird es vom Auswärtigen Amt, für das Kolumbiens Friedensprozess ein Prestigeprojekt ist.
Auf die Frage, ob Kolumbien mit der Teil-Amnestie dem Frieden näher gekommen sei, reagiert Forer mit langem Nachdenken. Dann sagt er: "Man muss in dieser Situation pragmatisch sein. Besser das Gesetz ,Gerechtigkeit und Frieden' als überhaupt nichts."
Der Autor arbeitet als freier
Journalist in Lateinamerika.