VON NICOLE TEPASSE
Ben du Toit will sich nicht abfinden mit der offiziellen Version. Er glaubt nicht daran, dass der schwarze Hausmeister Gordon sich in Polizeigewahrsam das Leben genommen hat. Er will, dass ein Gericht herausfindet, was wirklich passiert ist. Er will Gerechtigkeit. Der Protagonist in Andre Brinks Anti-Apartheids-Roman "Die Weiße Zeit der Dürre" von 1984 bittet einen Johannesburger Anwalt um Hilfe. Der entgegnet: "Gerechtigkeit und Recht, vielleicht kann man sie als entfernte Verwandte bezeichnen, aber hier in Südafrika sprechen sie überhaupt nicht mehr miteinander."
Inzwischen reden die beiden Verwandten auch in Südafrika wieder miteinander, aber von einer innigen Beziehung kann man nach wie vor nicht sprechen. Das gilt nicht nur für Südafrika, sondern auch für andere Regionen der Welt, in denen Recht und Gerechtigkeit nach Unrecht und Konflikten oft weit auseinander liegen. Oder lagen, wie auch in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch wenn Deutschland heute bei der Aufarbeitung der Vergangenheit vielen als vorbildlich gilt, stellte sich das nach Kriegsende längst nicht allen so dar: Die Nürnberger Prozesse empfanden nicht wenige Bürger als ungerechte Siegerjustiz; andererseits wurden erste verurteilte NS-Täter bereits Ende 1949 per Gesetz amnestiert.
Diese Themenausgabe zeigt, was Gerechtigkeit nach Konflikten heißt, und nimmt dazu den Umgang mit der Vergangenheit in verschiedenen Regionen der Welt in den Blick. Dabei geht es - unter dem Begriff "Transitional Justice" - selten allein und isoliert um die strafrechtliche Dimension - folgt doch der Umgang mit der Vergangenheit einem Baukastenprinzip, das mehr einschließt als die Bestrafung der Täter. Eine bedeutende Rolle nimmt sie dennoch ein, wie die Entwicklung von den Nürnberger Prozessen bis zur Etablierung des ersten ständigen Internationalen Strafgerichshof in Den Haag zeigt.
Die Schicksale einer Mutter von Srebrenica und eines Überlebenden des kambodanischen Folterlagers Tuol Sleng machen deutlich, dass Strafgerichtsbarkeit allein den Opfern kein Gefühl von Gerechtigkeit verschafft. Davon weiß auch der Völkerrechtler Richard Goldstone zu berichten: Wenn Opfer "öffentlich schildern können, was ihnen angetan wurde, ist das wichtig für ihren Heilungs- und Verarbeitungsprozess", sagt der erste Chefankläger des UN-Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, der jüngst für die Vereinten Nationen die Geschehnisse im Gaza-Krieg Ende 2008/Anfang 2009 untersucht hat.
Die Frage nach Gerechtigkeit führt in dieser Ausgabe auch zu den südamerikanischen Wahrheitskommissionen. Sie waren lange Zeit die einzige Art der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Militärdikaturen der 1970er und 1980er Jahre. Schließlich widmen sich die Autoren versöhnenden Ansätzen: Auch wenn die Projekte in Ruanda sowie in Israel und Palästina Einzelbeispiele sind, machen sie dennoch Hoffnung.