Die Geschichte der Moderne ist zugleich eine Geschichte der Kulturkritik der Moderne. 1 Denn es gab ein Übermaß an Versprechungen, die eine neue politische Ordnung der Gesellschaft einlösen sollte: "Fortschritt" und "Vernunft" waren die Leitkategorien. Und natürlich sollte die erneuerte eine friedliche und gerechte Gesellschaft sein. Kern dieser Versprechungen war das selbstbewusste autonome Individuum, das nunmehr selbst alle Entscheidungen über das eigene Leben treffen sollte, gleichgültig ob es sich um politische, religiöse, berufliche oder Aspekte der Liebesbeziehungen handelte. 2 Auch die Theorie des Kapitalismus, so wie sie der Moralphilosoph (!) Adam Smith in Schottland entwickelte, war eine gesellschaftliche Utopie, die auf ein friedliches Zusammenleben in Wohlstand zielte. Doch es herrschte ebenfalls von Anfang an große Skepsis, ob es einer Gesellschaft von Individuen wirklich möglich ist, ein solches Zusammenleben zu gestalten. Leitformeln einer solchen Skepsis waren etwa Entzweiung, Unbehagen oder Unbehaustheit. Diese Zweifel sind bis heute geblieben. Wenn es etwa in den 1980er und 1990er Jahren einen philosophischen Grundlagenstreit darüber gegeben hat, ob eher das Individuum oder eher die Gemeinschaft das Ursprünglichere bei der Konstitution von Gesellschaft sei - dies ist die berühmte Debatte zwischen Kommunitarismus und philosophischem Liberalismus 3 -, dann betraf dies genau dieses Problem: Wie ist Zusammenhalt (Kohärenz) in einer modernen Gesellschaft möglich, wie viel ist notwendig, wie kann er hergestellt werden, wenn er nicht im Selbstlauf entsteht?
Integration ist daher selbst dann ein Thema moderner Gesellschaften, wenn es nicht bloß um die Frage nach der Eingliederung von Menschen mit Migrationshintergrund geht. Als vor etwa zehn Jahren Wilhelm Heitmeyer zwei Bücher unter den programmatischen Titeln "Was hält die Gesellschaft zusammen?" bzw. "Was treibt die Gesellschaft auseinander?" herausgegeben hat, 4 war es sicherlich kein Zufall, dass das Buch über Desintegrationsprozesse um die Hälfte dicker war als das Buch über Zusammenhalt. Und bei genauerem Hinsehen befassten sich die Autoren auch dort eher mit Fragen der Desintegration, der Spaltung und Konkurrenz. Bei den verbleibenden 180 Seiten wurden dann gemeinsame Werte, Solidarität oder Kommunikation als mögliche Medien der Integration betrachtet. Interessant ist, dass es sich hierbei vorwiegend um kulturelle Prozesse handelt, also um Sinndiskurse und Wertefragen, auch: um individuelle Kompetenzen, die für die Herstellung von Zusammenhalt nötig sind.
Damit wären wir bei beidem angelangt: bei der Frage nach der nötigen Kompetenzstruktur des Einzelnen, also bei einer genuin pädagogischen Frage, und bei der Rolle der Kultur in diesem Prozess. Und damit sind zugleich die beiden entscheidenden Horizonte abgesteckt, wenn man kulturelle Bildung in ihrer Bedeutung für sozialen Zusammenhang betrachtet.
Doch was versteht man überhaupt unter kultureller Bildung, die so etwas leisten könnte? Gibt es entsprechende Erfahrungen und Belege - oder gehört auch dies zu den unerfüllten Versprechungen der Moderne oder den "Versprechungen des Ästhetischen"? 5 Bevor ich diesen Fragen nachgehe, sei ein Aspekt hervorgehoben, der oben bereits angedeutet wurde. Gerade in Deutschland hat man sich in der Geschichte sehr schwer damit getan, die Frage nach sozialer und politischer Gestaltung unter dem Begriff der Gesellschaft abzuhandeln. "Gesellschaft" zielte auf einen eher rationalen Zusammenschluss, auf (auch ökonomische) Interessen sowie auf eine Moderne, in der etwa Religion und traditionelle Bindungen nur noch eine geringe Rolle spielen. Im 19. Jahrhundert brachte man diesen Gesellschaftsdiskurs mit England und Frankreich in Verbindung. Dagegen brachte man in Deutschland die Idee einer emotionsgebundenen Gemeinschaft ins Spiel und distanzierte sich zugleich von republikanisch-demokratischen Vorstellungen. Es war die Zeit, in der "Kultur" eine schicksalhafte Deutung erhielt, die man der bloß oberflächlichen "Zivilisation" der genannten Länder entgegenhielt. Helmut Plessner hat in seiner Analyse der geistigen Grundlagen des Faschismus auch hierin eine wesentliche Ursache für die "Verspätung" Deutschlands und den Faschismus gesehen. 6 Ein sprachlich glänzendes und politisch erschreckendes Dokument solchen Denkens sind Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" aus dem Jahr 1918. 7 Und hier ist es gerade die deutsche "Kultur", die zwar als Bindemittel innerhalb der Nationen, aber gleichzeitig als Trennungsgrund zwischen den Ländern gesehen wird. So viel lässt sich daher bereits jetzt feststellen: Vorbehaltlich weiterer Klärungen des Begriffs der kulturellen Bildung hat er offenbar mit Phänomenen zu tun, bei denen es zumindest strittig ist, ob sie zur Integration oder zur Spaltung beitragen.
Der Zusammenhang von Pädagogik und Politik ist nicht neu. Neu ist vielmehr, dass man heute glaubt, beides getrennt voneinander behandeln zu können. Es gehört zur Tradition der europäischen Geistesgeschichte, die Frage nach der gelingenden politischen Gestaltung des Gemeinwesens mit der Frage nach den dazu notwendigen individuellen Kompetenzen zu verbinden. Deshalb lassen sich etwa profunde Aussagen zur Bildung in bedeutenden staatstheoretischen Schriften finden.
Zwei Beispiele: Platon befasst sich in den Dialogen "Der Staat" und in den "Gesetzen" immer wieder mit pädagogischen Fragen, wobei als Bildungsmittel Musik und Gymnastik eine wichtige Rolle spielen. Über 2000 Jahre später schreibt Wilhelm von Humboldt seine "Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen", ein Grundbuch des politischen Liberalismus, und liefert hierbei die vielleicht bedeutendste Bestimmung des Bildungsbegriffs: "Der wahre Zweck des Menschen (...) ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. In dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedeutung." 8 Die Bildungsgüter, an denen dies geschehen soll, waren neben den alten Sprachen die Künste, hier in völliger Übereinstimmung mit seinem Freund Friedrich Schiller. Dieser hatte sein Konzept von "kultureller Bildung" bereits Anfang der 1790er Jahre in seinen "Briefen zur ästhetischen Erziehung" ausführlich erläutert. 9
Pädagogik, so ein erstes Zwischenfazit, kann nur in Verbindung mit Politik gedacht werden. "Bildung" als einer der Kernbegriffe der Pädagogik enthält bis heute das Humboldt'sche Versprechen auf Freiheit und Emanzipation in einer wohlgeordneten Gesellschaft. Daran ist gerade angesichts der schlechten PISA-Ergebnisse zu erinnern. Bildung kann ein Medium zur Herstellung von sozialem Zusammenhalt sein. Bildung, so der französische Soziologe Pierre Bourdieu in den 1960er Jahren, ist aber oft genug auch ein wirkungsvolles Instrument der Desintegration. 10
Doch was genau ist "Bildung"? Unter grober Vernachlässigung der gerade in Deutschland so reichen Tradition bildungsphilosophischer Erwägungen genügt es hier, Bildung als Lebenskompetenz zu verstehen. 11 "Bildung" meint hierbei die individuelle Disposition, sein Leben selbstständig, sinnerfüllt und kompetent gestalten zu können. Damit bezieht sich der hier bevorzugte Bildungsbegriff zum einen auf das erfüllte Leben in einer Gesellschaft, er erfasst zum anderen alle Dimensionen der Persönlichkeit, also das Denken, Fühlen und Handeln, Werte und Glücksansprüche. "Bildung" meint dann die von Humboldt bereits angesprochene "proportionirliche Bildung" aller Kräfte "zu einem Ganzen". Sie zielt aber auch darauf, den Einzelnen im Umgang mit der Wirtschaft, der Politik, dem Sozialen und der Kultur einer Gesellschaft kompetent zu machen.
Doch was meint dann "kulturelle Bildung", wenn "Bildung" bereits auf Kultur bezogen ist? Mit diesem Begriff soll offenbar ein besonderer Akzent auf ein bestimmtes gesellschaftliches Feld gelegt werden, auch wenn die entsprechenden Kompetenzen und Dispositionen bereits im Bildungsbegriff enthalten sind. Zudem geht möglicherweise nicht jeder von einem sozial sensiblen Bildungsbegriff aus, so dass der Hinweis darauf, dass eine politische, soziale, ökonomische und kulturelle Handlungsfähigkeit zur gebildeten Persönlichkeit gehören, nicht unwichtig ist. 12
In einem ersten Anlauf ist kulturelle Bildung ein Sammelbegriff für alle pädagogischen Umgangsweisen mit den Künsten, mit den Medien, mit Spiel. Dieser Begriff ist offen für neue Entwicklungen. So werden inzwischen Zirkuspädagogik oder die Arbeit mit Kindermuseen dazugezählt. Viele sehen in dem Attribut "kulturell" zudem einen klaren Bezug zur "Gesellschaft". Dabei schwingen durchaus verschiedene Kulturbegriffe mit: Ein anthropologischer Kulturbegriff, der unter "Kultur" die Gemachtheit der menschlichen Welt (einschließlich des Menschen selbst) versteht; ein soziologischer Kulturbegriff, der als gesellschaftliches Subsystem die Bereiche der Künste, der Wissenschaften, der Sprache und der Religion versteht und auf die Wertebasis einer Gesellschaft zielt; ein ethnologischer Kulturbegriff, der die Gesamtheit aller Lebensäußerungen einer Gesellschaft erfasst; und schließlich ein enger Kulturbegriff, der Kultur mit der ästhetischen Kultur und hier vor allem mit den Künsten gleichsetzt. Das einflussreiche Kulturkonzept der UNESCO versucht, alle genannten Dimensionen zu integrieren. 13 Hinsichtlich des Konzeptes der kulturellen Bildung ergeben alle Kulturkonzepte Sinn: • Der anthropologische Kulturbegriff ist quasi die Grundlage einer philosophischen Grundlegung des Bildungsbegriffs: Bildung als subjektive Seite der Kultur, Kultur als objektive Seite von Bildung. • Der ethnologische Kulturbegriff ordnet Bildung in die Gesamtheit der Lebensvollzüge ein. • Der soziologische Kulturbegriff orientiert die individuelle Handlungsfähigkeit auf bestimmte Gesellschaftsfelder (Religion, Künste etc.; "Enkulturation"). • Der enge Kulturbegriff erfasst den Kernbereich der kulturellen Bildung: den produktiven Umgang mit den Künsten.
Je nach Verständnis von "Kultur" ist also die systematische Verbindung von kultureller Bildung und sozialem Zusammenhalt offensichtlich. Vielleicht irritiert der soziale und politische Bezug bei den Künsten am meisten. Daher im Folgenden einige Anmerkungen dazu.
Gerade in Deutschland führt die in der Überschrift genannte Frage immer wieder zu heftigen Debatten. Sehr schnell wird von der "Autonomie der Kunst" gesprochen. Das Problem hierbei ist, dass es vermutlich kaum einen anderen Topos in der deutschen Sprache gibt, der in ähnlicher Weise ideologisch so aufgeladen ist wie jener von der Kunstautonomie. Dass ästhetische Prozesse wesentlicher Teil der Menschwerdung sind und hierbei - auch als Motoren der Entwicklung - eine wichtige Rolle gespielt haben, ist unstrittig. 14 Die Rede von einer "autonomen Kunst" ergibt daher für den überwiegenden Teil der Weltgeschichte und auch heute noch in dem größten Teil der Welt keinen Sinn. Entwickelt hat ihn Immanuel Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" (1790). Viele heute noch verwendete Redewendungen wie "Zweckmäßigkeit ohne Zweck" oder das "Gefallen ohne Interesse" gehen auf ihn zurück, haben sich aber inzwischen diskursiv verselbstständigt.
Schiller übernahm diese Grundidee von Kant, wendete sie jedoch gleich ins Politische: Künste seien in der Tat ein Feld, in dem der Mensch Freiheit in der Gestaltung erleben könne. Sie seien quasi eine Oase, in der man entlastet sei von den Anforderungen des Alltags. Diesen Genuss an Freiheit - zunächst nur in dem abgegrenzten Bereich der Künste - erwecke im Menschen den Wunsch, Freiheit auch in anderen Gesellschaftsfeldern durchzusetzen. Die Dialektik Schillers besteht also darin, dass gerade eine zweckfreie "autonome" Kunst für einen politischen Zweck nützlich ist.
Der weitere Verlauf im 19. Jahrhundert war allerdings frustrierend. Alle Hoffnungen auf eine ähnliche politische Entwicklung wie in anderen Ländern scheiterten spätestens mit der misslungenen Revolution von 1848. Daher suchte sich das (Bildungs-)Bürgertum ein anderes Feld der Identitätsentwicklung. So entstand eine reichhaltige Theaterlandschaft, wurden Museen, Konzert- und Opernhäuser gebaut. 15 All dies, was uns heute im Hinblick auf die Finanzierung und Erhaltung in der Kulturpolitik umtreibt, kann also nur vor dem Hintergrund der spezifischen politischen Entwicklungsgeschichte Deutschlands verstanden werden. Die "autonomen Künste" waren also sowohl bei Schiller, dann aber auch in der Realgeschichte alles andere als unpolitisch, wobei sie das eine Mal emanzipatorisch, das zweite Mal in konservativer und sogar reaktionärer Weise genutzt wurden.
Heute muss man davon ausgehen, dass es in dem Arbeitsfeld "kulturelle Bildung" eine ganze Reihe von Bezeichnungen gibt, die nebeneinander verwendet werden, abhängig von den Traditionen der Anbieter: musische und musisch-kulturelle Bildung, Soziokultur, ästhetische und künstlerische Bildung, (Jugend-) Kulturarbeit etc. Gelegentlich werden dabei durchaus vergleichbare Angebote mit unterschiedlichen Begriffen, gelegentlich aber auch sehr verschiedene Praxen mit dem gleichen Begriff bezeichnet. Insgesamt dürfte die ideologiekritische Phase der späten 1960er Jahre an keiner Einrichtung wirkungslos vorübergegangen sein, so dass eine soziale und oft genug auch eine politische Dimension von Kulturarbeit mitgedacht wurde. Kulturelle Bildungsarbeit findet - im Hinblick auf Kinder und Jugendliche - in zumindest drei Politikbereichen statt: in der Jugend-, der Schul- und Bildungs- und in der Kulturpolitik.
In der Jugendpolitik bilden das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), die entsprechenden Ausführungsgesetze auf Länderebene und die sich hierauf stützenden Förderprogramme die maßgebliche Grundlage. Die Berücksichtigung der sozialen Dimension und insbesondere des sozialen Zusammenhalts ist eine klare Leitlinie in diesem Feld, die bereits im ersten Paragraphen des KJHG zum Ausdruck kommt: Dort geht es nicht um den isolierten Einzelnen und seine Fähigkeiten, sondern um eine "gemeinschaftsfähige Persönlichkeit". In der Praxis ist dies in allen Kulturprojekten im Kontext der Jugendförderung auch zu spüren. Dieses Selbstverständnis drückt sich etwa in dem "Kompetenznachweis Kultur" der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung aus. Dieser ist ein Bildungspass für nicht-formelle Bildung, der unter anderem soziale Kompetenzen, die in Kulturprojekten erworben wurden, erfassen und dann auch bestätigen soll. Grundlage ist ein Konzept von Schlüsselkompetenzen, wie es ähnlich auch in dem Projekt "DeSeCo" (Definition and Selection of Key-Competencies) der OECD (Organisation für Economic Cooperation and Development; verantwortlich etwa für PISA) erarbeitet wurde und bei dem soziale Kompetenzen eine wichtige Rolle spielen. 16 Die klassische Denkfigur, dass das soziale und politische Gefüge der Gesellschaft aufs Engste mit einem sozial kompetenten Einzelnen korrespondiert und eine Stärkung des Einzelnen auch eine entsprechende Wohlordnung der Gesellschaft zur Folge hat, tritt in diesen Ansätzen deutlich zutage.
Auch eine ökonomische Sichtweise geht in diese Richtung. So hatte die OECD etliche Jahre die "soziale Kohäsion" in der Gesellschaft auf der Tagesordnung, weil man davon ausging, dass wirtschaftliches Wachstum (das zentrale Ziel der OECD) nur in einer Gesellschaft ohne größere Spannungen gelingen kann. In der Bildungs- und Schulpolitik liegt der Fall ähnlich wie in der Jugendpolitik. Man möge nur einmal die Präambeln bzw. Zielparagraphen der Schul- oder Weiterbildungsgesetze der Länder lesen, die sich von den Bildungs- und Erziehungszielen nicht sonderlich vom KJHG unterscheiden. Auch in der Schulpädagogik wird Schule als spezifischer sozialer Ort verstanden, oft genug auch in Anschluss an den amerikanischen Philosophen und Demokratietheoretiker John Dewey als embrionic society, wo viel Energie in die Einübung von Regeln eines gedeihlichen Miteinanders gelegt wird. Das Problem ist natürlich, dass dies in der Praxis nicht immer gelingt.
In der Kulturpolitik ist es im Grundsatz ähnlich. Doch muss man davon ausgehen, dass die seinerzeit von Albrecht Göschel nachgewiesene Abfolge unterschiedlicher Verständnisweisen von Kultur (im Zehnjahresabstand erfolgt ein Wechsel) auch die Beziehung zum Sozialen betrifft. 17 Eine Neue Kulturpolitik ist in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren als offensives Kontrastprogramm zu einer Kulturpolitik der Traditionspflege entstanden. Bei dieser spielte die Frage des sozialen Zusammenhalts eine wichtige Rolle. In Großbritannien bekam eine sozial sensible Kulturpolitik in den 1990er Jahren durch New Labour einen besonderen Schub. Es wurde nicht nur "Kultur" als Motor der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung entdeckt: social cohesion wurde sogar zu einem Leitbegriff der Kulturpolitik. Künste und Künstler, die in die Stadtteile gingen, um die Kommunikation mit anderen Menschen zu suchen, wurden gezielt gefördert. Auch Programme wie "Künstler in Schulen" erlebten aufgrund dieser gesellschaftspolitischen Zielstellung einen Aufschwung (z.B. das Programm "creative partnerships", bis vor kurzem Teil des Arts Council England).
Natürlich polarisierte ein solcher Ansatz. Denn es gab und gibt genügend Kulturschaffende und -einrichtungen, die sich lieber an der "Autonomie der Kunst" orientieren wollen und die in dem social-coherence-Programm eine unzulässige Instrumentalisierung von Kunst verstanden. Zudem gab es heftige Zweifel am Erfolg dieses Ansatzes. In dieser Situation spielten ambitionierte Evaluationsprojekte unter der Leitung von Francois Matarasso eine Rolle. 18 Matarasso überprüfte in verschiedenen Orten und Kontexten mit einem breiten Arsenal von Untersuchungsmethoden die Wirksamkeit der sozial orientierten Förderstrategie und bestätigte im Ergebnis 50 Wirkungsbehauptungen, die alle mit sozialer Kohäsion zu tun haben. 19 Nach dem Ende der Ära Tony Blair (britischer Premierminister 1997 bis 2007) gerät nun auch seine Kulturpolitik unter Druck, so dass heute viele Experten mit einer Wende zurück zu einer stärker kunstbezogenen Förderung rechnen.
Es dürfte heute auf der theoretischen Ebene unstrittig sein, dass es eine deutliche Relation zwischen der Bildung des Einzelnen und der sozialen Ordnung gibt. Auch im Verständnis der meisten Praktiker in diesem Feld hat Kulturarbeit eine soziale und eine individuelle Dimension: Kulturarbeit bedeutet auch soziales Lernen. Bei Praxisformen wie Musik, Tanz, Theater, Zirkus, die ohnehin gruppenförmig ablaufen, wird dies bereits durch die Logik der Kunstform nahegelegt. Es gibt (wie dargestellt) sogar Erfassungsmöglichkeiten und empirische Belege, dass dies sowohl im Hinblick auf den Einzelnen als auch auf die Gruppe und Gesellschaft funktioniert.
Doch gibt es eine Reihe von Wermutstropfen. Die Künste und speziell die künstlerische Förderung von Menschen wirken nicht per se sozial. So lässt sich oft genug dort eine Parallele zwischen Leistungssport und Kunst ziehen, wo es um Wettbewerbe und Leistungsvergleiche geht. Daher sind viele Pädagogen skeptisch, ob die Arbeitsformen in den professionellen Künsten auch die richtigen Arbeitsformen in der Bildungsarbeit sind. "Kultur" insgesamt und speziell die Künste sind zudem nicht ohne weiteres Medien der Integration, sondern sie sind auch Medien der Unterscheidung. Zwar liest oder hört man oft genug, dass etwa die (nicht verbale) Musik universelles Verständigungsmittel quer durch alle Kulturen sei. Dass dies so nicht richtig ist, lässt sich leicht feststellen. Dabei muss man sich mit seinem mitteleuropäisch geprägten Ohr noch nicht einmal mit Musikkulturen anderer Länder auseinandersetzen, es genügt oft genug bei Erwachsenen eine Begegnung mit den Hits ihrer Kinder oder der Nachbarn.
Die Macht der Unterscheidung gilt also nicht nur zwischen Kulturen aus verschiedenen Ländern, sondern bereits im eigenen Land. Hier ist erneut an Pierre Bourdieu zu erinnern, der in groß angelegten empirischen Studien gezeigt hat, dass es nicht nur starke ästhetisch-kulturelle Prägungen unterschiedlicher Milieus in der Gesellschaft gibt, sondern dass über die jeweiligen ästhetischen Präferenzen als Teil des Habitus ihrer Träger zugleich wichtige Entscheidungen über die Möglichkeit zu politischer Teilhabe getroffen werden. 20 Die Künste trennen also nicht nur, sie sind zugleich ein eher verborgenes, aber äußerst wirkungsvolles Mittel bei der Erhaltung der sozialen und politischen Struktur der Gesellschaft. Bourdieus Konsequenz: Um diese strukturkonservative Macht der Künste zu brechen, ist es nötig, dass alle Kinder eine hohe ästhetische Kompetenz entwickeln (können). Und der zentrale Ort einer solchen Kompetenzentwicklung ist die Schule.
Trotz dieser (alten) Erkenntnis, dass man über Geschmack nicht streiten kann - eben weil jeder das Recht auf eigene ästhetische Präferenzen hat, funktioniert natürlich Kulturarbeit in der Praxis auch in sozialer Hinsicht. Es gibt die Möglichkeit, Menschen verschiedener Generationen, Geschlechter oder Herkunftsfamilien miteinander in Kontakt zu bringen. Deshalb spielt Kulturarbeit etwa im internationalen Jugendaustausch eine wichtige Rolle. Weiß man um die trennende Kraft von Kunst, dann lässt sich doch eine Atmosphäre inszenieren, in der man sich auf Fremdes einlassen kann. Kant und auch Schiller hatten natürlich Recht damit, dass eine handlungsentlastete Atmosphäre große Bildungswirkungen ermöglicht. Vor diesem Hintergrund ist also der Slogan der UNESCO, "Kulturelle Bildung für alle", gut zu begründen. 21
Doch stellt sich dann gleich die Frage: Wird dieses Ziel erreicht? Erreichen wir mit dem Kulturangebot alle Bevölkerungsgruppen? Und natürlich heißt die Antwort: Nein. Es gibt nämlich nicht nur das Problem der Bildungsungerechtigkeit im allgemeinbildenden Schulwesen, so wie es PISA noch einmal verdeutlicht hat, es gibt das Problem ungleicher Zugangschancen auch in Hinblick auf kulturelle Teilhabe. Dabei ist zu berücksichtigen, dass man sich hierbei nicht mehr auf der Ebene freiwilliger Leistungen bewegt, sondern sich vielmehr im Wirkungsbereich verbindlicher völkerrechtlicher Abmachungen befindet, die ein Recht auf Kunst, Spiel und Bildung formulieren (u.a. Kinderrechtskonvention, Pakt für soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklung, Konvention zur kulturellen Vielfalt). 22
Sozialer Zusammenhalt ist also möglich und kann durch Kulturarbeit gefördert werden. Allerdings sind hierbei auch die Potenziale zur Unterscheidung und Trennung in Rechnung zu stellen. Und es gibt das bislang nur unbefriedigend gelöste Problem gleicher Zugangsmöglichkeiten zu Bildung, Kunst und Kultur.
1 Vgl. Georg
Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis
Günther Anders, München 2007.
2 Vgl. Max Fuchs, Persönlichkeit
und Subjektivität, Opladen 2001.
3 Vgl. Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst
(Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993.
4 Frankfurt/M. 1997.
5 Yvonne Ehrenspeck, Versprechungen des
Ästhetischen, Opladen 1998.
6 Vgl. Helmut Plessner, Die
verspätete Nation. Über die politische
Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1962.
Siehe auch Wolf Lepenies, Kultur und Politik: deutsche Geschichten,
München 2006.
7 Gesammelte Werke in 13 Bänden,
Bd. 4, S. 9-589.
8 Studienausgabe (Hrsg. Kurt
Müller-Vollmer), Bd. 2, Frankfurt/M. 1971, S. 99f.
9 Vgl. Friedrich Schiller,
Sämtliche Werke, Bd. 5, München 1959, S. 570-669.
10 Vgl. Pierre Bourdieu/Jean-Claude
Passeron, Die Illusion der Chancengleichheit, Stuttgart 1971.
11 Vgl. Richard Münchmeier
(Hrsg.), Bildung und Lebenskompetenz, Opladen 2002.
12 Vgl. Max Fuchs, Kulturelle Bildung,
München 2008.
13 Vgl. ders., Kultur macht Sinn,
Wiesbaden 2008.
14 Vgl. ders., Mensch und Kultur,
Wiesbaden 1998.
15 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche
Geschichte, München 1998.
16 Vgl. Dominique Rychen, Definition
und Auswahl von Schlüsselkompetenzen, in: Bundesvereinigung
Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (Hrsg.), Der Kompetenznachweis
Kultur, Remscheid 2004, S. 17-22, sowie die Hompage der Vereinigung
(www.bkj.de).
17 Vgl. Albrecht Göschel, Die
Ungleichzeitigkeit in der Kultur, Stuttgart 1991.
18 Vgl. Francois Matarasso, Use or
Ornament. The Social Impact of Participation, Stroud 1997.
19 Die Liste findet sich auch in: Max
Fuchs, Kulturpolitik, Wiesbaden 2007, S. 66f.
20 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen
Unterschiede, Frankfurt/M. 1987.
21 Vgl. Deutsche UNESCO-Kommission,
Kulturelle Bildung für alle, Bonn 2008.
22 Vgl. Bundeszentrale für
politische Bildung (Hrsg.), Menschenrechte. Dokumente und
Deklarationen, Bonn 2004.