FEIERSTUNDE
Das EU-Parlament gedenkt des 20. Jahrestags der Wende in Ost- und Mitteleuropa
Der 20. Geburtstag der Grenzöffnung zwischen Ost- und Westeuropa wurde auch in Brüssel feierlich begangen. Am Morgen des 11. November traf sich Parlamentspräsident Jerzy Buzek mit 89 jungen Leuten aus allen Teilen Europas, die in diesem November ebenfalls zwanzig Jahre alt werden. "1989 sind die totalitären Systeme wie Dominosteine gefallen", erinnerte der polnische Politiker, der durch sein Engagement in der polnischen Widerstandsbewegung Solidarnosc eng mit den historischen Geschehnissen von 1989 verbunden ist.
Für die Mehrheit der Jugendlichen bedeutet Europa vor allem ungehindertes Reisen, Studieren und Arbeiten in einem anderen Land und die Möglichkeit, andere Kulturen zu entdecken. "Unsere Eltern hatten all diese Möglichkeiten nicht", sagte eine deutsche Studentin. Eine Holländerin betonte aber auch, dass in vielen Ländern Europa als Bedrohung für die nationale Kultur wahrgenommen werde. Ein lettischer Jugendlicher sieht Europa wie eine Familie, in der man nicht vergessen dürfe, dass man füreinander Verantwortung trage.
Mehrere Jugendliche forderten, Europa müsse zwischen den Anforderungen des Marktes, sozialen Rechten und individueller Freiheit ein neues Gleichgewicht finden. "Früher war Europa ein Traum - wir müssen wieder wagen, von Europa zu träumen", sagte ein junger Belgier.
Am Nachmittag begrüßte Parlamentspräsident Buzek im Plenum seinen Freund und Mistreiter, den ehemaligen tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Havel. Mit "fünf Anmerkungen über die europäische Einigung" warb der Dissident und Dichter um Geduld mit den osteuropäischen Neulingen in der EU. "Ab und zu gibt es mit diesen Ländern ein bisschen Kummer. Das ist mehr als verständlich. Eine demokratische Kultur lässt sich nicht über Nacht schaffen." Zur raschen Erweiterung der Union habe es keine Alternative gegeben, ist Havel überzeugt. Andernfalls hätte Europa zum Sammelplatz nationaler Milizen degradiert werden können. Wohin das führt, könne man auf dem Balkan studieren. "Ein Dämon weckt den nächsten, das hätte leicht auf Westeuropa überspringen können."
Doch die Neuen seien nicht nur Belastung, sie hätten auch etwas zu geben. "Wir haben die Pflicht, den anderen zu erklären, was wir im Totalitarismus erlebt haben", sagte Havel. Das verpflichte zur Solidarität mit allen, die unter totalitären Regimen zu leiden haben. "Mit dem Bösen lassen sich keine Kompromisse schließen. Mit Beschwichtigungspolitik hat Europa schon unheilvolle Erfahrungen gesammelt." Gegenüber Diktaturen wie Weißrussland, Nordkorea oder Kuba müsse die EU konsequent bleiben, forderte Havel. "Es hilft den Menschen dort mehr, als wir glauben. Und uns hilft es, uns treu zu bleiben." Nie werde er vergessen, welch große Bedeutung es für die Dissidenten in Tschechien hatte, als Francois Mitterand sie bei einem seiner Staatsbesuche zum Frühstück einlud. Solche Gesten seien enorm wichtig. Deshalb sei auch der in diesem Jahr an eine russische Menschenrechtsorganisation verliehene Sacharow-Preis des EU-Parlaments so bedeutsam.
Die Regierungschefs mahnte Havel mit Blick auf die europäisch-russischen Beziehungen: "Es ist nicht partnerschaftlich, wenn man aus Angst vor einer Energiekrise dazu schweigt, dass Journalisten umgebracht werden. Partner müssen offen sprechen können." Die Abgeordneten verabschiedeten Havel mit stehenden Ovationen. Buzek sagte lächelnd zu seinem Freund: "Wenn es den Sacharow-Preis schon vor dreißig Jahren gegeben hätte, wärest Du, Vaclav, der beste Kandidat gewesen. Heute brauchst Du diesen Preis Gott sei Dank nicht mehr."