geschichte
Regierungserklärungen sind Inbegriff der Richtlinienkompetenz. Das war bei Adenauer so und ist es bei Merkel
Der Kanzler steht unter Druck. Hinter ihm liegt ein kurzer, aber heftiger Wahlkampf. Es beginnen recht mühsame Koalitionsverhandlungen. Allerhand Querschüsse und personelle Begehrlichkeiten muss der erste Mann auch aus der von ihm geführten Partei abfedern, ja akzeptieren. Eine Aussprache folgt der nächsten. Trotz der gewonnenen Bundestagswahl herrscht eine ungemütliche Stimmung. Mit der Wahl zum Bundeskanzler gewinnt die Diskussion um die Kabinettsliste erst Recht an Dramatik. Nur gerade einmal eine Stunde lang kann der neu gewählte Regierungschef die Wahl mit seiner Familie im Bonner Bundestagsrestaurant feiern. Dann folgen wieder Gespräche, Sitzungen und Verhandlungen.
Gewissermaßen nebenbei muss Konrad Adenauer (CDU) seine Regierungserklärung ausarbeiten. Er werde sie erst am Vormittag jenes Tages verfassen, berichtet Adenauer einem Vertrauten, nur unter Zeitdruck falle ihm etwas ein. Ganz ernst gemeint ist diese Bemerkung nicht. Doch sie ist den Umständen geschuldet. Erst wenige Stunden vor dem großen Auftritt gelingt es Adenauers Stab, sich der Regierungserklärung zuzuwenden. In der Nacht wird der Entwurf fertig.
Am Morgen des 20. September 1949 verlangt der Kanzler letzte Änderungen. Sogleich ist in diesen Stunden die Kabinettsliste zu komplettieren. Der Bundespräsident ernennt die Minister. Das Kabinett tagt erstmals und billigt die Regierungserklärung. Nun müssen sieben Sekretärinnen das 25-seitige Manuskript abtippen. Als Ade-nauer um 14 Uhr im Bonner Plenarsaal seine Regierungserklärung zu verlesen beginnt, werden die letzten Seiten aus den Schreibmaschinen gezogen, schreibt Hans-Peter Schwarz in seiner Biografie des ersten Bundeskanzlers.
"Das deutsche Volk hat sich mit großer Mehrheit gegen die Planwirtschaft ausgesprochen", ging Adenauer auf das Ergebnis der ersten Bundestagswahl ein. Er widmete sich den geschaffenen Ministerien, stellte eine "große und umfangreiche gesetzgeberische Arbeit" in Aussicht. Er sprach über die Kriegsgefangenen, die Außenpolitik und dankte den Vereinigten Staaten von Amerika. Was Adenauer im Hohen Haus verkündete, war alles andere als ein großer Wurf. Es konnte kaum als Auftakt einer 14-jährigen Kanzlerschaft verstanden werden. Der Kanzler las vom Blatt, rhetorisch eher mittelmäßig. Das Echo auch in den eigenen Reihen war gedämpft.
Heute dauert der Wahlkampf länger als Adenauer und Kurt Schumacher (SPD) ihn vor 60 Jahren führten. In Koalitionsverhandlungen wird, so war in den vergangenen Wochen stets zu hören, "hart gerungen" und um Personal "gefeilscht" und "gekungelt". Doch eine derartige Dramatik in den letzten Stunden vor der Regierungserklärung ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum üblich. Erfahrung, gut ausgestattete Apparate, der Computer, E-Mails (und eine SMS-erfahrene Kanzlerin) machen es möglich. Eine Regierungserklärung bedarf nicht mehr der Fingerkraft von sieben Sekretärinnen.
Und doch haben sich Funktion und Erwartungen an Regierungserklärungen in der bundesdeutschen Geschichte kaum geändert. Als "Visitenkarte der Regierung" werden diese zuweilen umschrieben. Wie schon bei Adenauer streifen besonders die Erklärungen zu Beginn einer neuen Wahlperiode zumeist alle Bereiche der Politik - von den Außenbeziehungen bis hin zum Verbraucherschutz. Mit der ersten Regierungserklärung nach der Wahl des Kanzlers macht dieser seine verfassungsrechtlich vorgesehene Richtlinienkompetenz deutlich. Zwar ist es üblich, dass die Ministerien dem Kanzler Hinweise und Formulierungsvorschläge unterbreiten. Meist aber sind es der Regierungschef selbst und seine persönlichen Berater, die die Regierungserklärung bis auf Komma und Punkt verfassen.
Diese Zuarbeit ist dabei alles andere als neu. Willy Brandt etwa zog sich für einige Tage in den beschaulichen Kurort Bad Münstereifel zurück, um die Regierungserklärung nach seiner ersten Wahl zum Kanzler im Jahr 1969 mit Vertrauten zu konzipieren.
Auch die Struktur der Regierungserklärungen hat sich nur wenig verändert. Auf eine Bestandsaufnahme der Lage des Landes ("Was ist") folgt zumeist das Arbeitsprogramm der Regierung, also die eigenen Vorhaben ("Was wir wollen"). Diese sind durch die stets umgangreicheren Koalitionsvereinbarungen zwar bekannt, werden jedoch in ihren wichtigsten Punkten abermals benannt. Daneben wird gelobt, appelliert und gedankt. Der Dank gilt zumeist Vorgängern, ob sie aus der eigenen Partei stammen oder nicht, und ausländischen Partnern.
Brandts in Bad Münstereifel entworfene Regierungserklärung enthält wohl den berühmtesten Satz aller deutschen Regierungserklärungen seit 1949. "Wir wollen mehr Demokratie wagen", verkündete der erste sozialdemokratische Bundeskanzler am 28. Oktober 1969 und beschrieb damit das innenpolitische Reformprogramm der sozial-liberalen Koalition. "Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an", lautete Brandts vorletzter Satz. Auch er ist oft überliefert und gilt als Inbegriff einer visionären Politik, als Beispiel für eine ambitionierte Programmatik.
Auch andere Kanzler prägten in Regierungserklärungen bestimmte Worte und Sätze. Ludwig Erhard (CDU) etwa machte 1965 den Begriff der "formierten Gesellschaft" berühmt, der für eine "moderne Leistungsgesellschaft" stehen sollte.
Den Begriff von der "Koalition der Mitte" verwendete Helmut Kohl (CDU) in seiner ersten von fünf Regierungserklärungen zu Beginn einer Legislaturperiode. Just jenes Wort griff am 10. November 2009 seine Nach-Nachfolgerin Angela Merkel (CDU) auf, sicherlich kaum ein Zufall. Merkels Redenschreiber dürften die Regierungserklärungen ihrer Vorgänger ausführlich studiert haben.
Die Einschätzungen der Beziehungen zur DDR gehörten bis 1989 für alle Kanzler zu den wichtigen Bestandteilen einer Regierungserklärung. "Berlin ist Symbol für die Offenheit der deutschen Frage", sagte etwa Kohl 1982. "Wir halten fest an der Einheit der Nation", erklärte er fünf Jahre später in seiner letzten Regierungserklärung vor der Vereinigung Deutschlands: "Auch vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist die deutsche Frage rechtlich, politisch und geschichtlich offen. Die deutsche Nation besteht fort … "
Mit den Regierungserklärungen ist es dem Kanzler möglich, eigene Interessen zu betonen, Schwerpunkte zu konturieren und eigene Analysen dem Parlament (und damit auch manch wenig geschätzten Parteifreunden) vorzulegen. Die erste Regierungserklärung Gerhard Schröders (SPD) im Jahr 1998 etwa verärgerte dessen Finanzminister und damaligen Parteifreund Oskar Lafontaine massiv. Bereits auf deren zweiter Seite habe der Kanzler "über die zu hohe Schuldenlast gejammert", klagte Lafontaine. Dabei wollte der neue Finanzminister doch mit dem Schuldenmachen, sich stets berufend auf Keynes' Nachfragetheorie, gerade erst richtig beginnen.
Für Schröders Regierungserklärung nach dem zweiten rot-grünen Wahlsieg im Jahr 2002 bedienten sich seine Redenschreiber bei Brandts Regierungserklärung von 1973. Die Menschen hätten sich entschieden, den Sozialstaat nicht abzubauen oder "wahllos Leistungen zu kürzen", stellte er fest. Er sprach - anders als noch im Wahlkampf kurz zuvor - davon, es gebe wenig Anlass zur Hoffnung auf eine kurzfristige Besserung der Weltwirtschaft und kündigte an, den berühmten Ausnahme- und Subventionstatbeständen im Steuerrecht den Garaus zu machen. "Auch wenn der Weg der Reformen mitunter beschwerlich ist - wir werden nicht nachlassen", kündigte Schröder am 29. Oktober 2002 an. Mit Blick auf die Koalitionsvereinbarung sagte er, darin seien "für viele Bereiche wichtige Schritte benannt. Gelegentlich sind es erst bescheidene Schritte. Ich meine aber, in allen Punkten ist festzustellen, dass die Richtung stimmt."
Im Herbst 2002 hätte Schröder seine Regierungserklärung als Gelegenheit nutzen können, das nur wenig später entdeckte Reformthema zu intonieren. Obschon gerade wieder gewählt, wagte der Kanzler aber noch keine Realitätsoffenbarung. Schröder verzichtete auf eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede. Nur wenige Monate später präsentierte er diese. Im März 2003 stellte Schröder sein Reformprogramm "Agenda 2010" im Bundestag vor. Das war seine eigentliche "große" Regierungserklärung. Die vom Herbst des Vorjahres wurde damit Makulatur.
Und wie hielt es Angela Merkel zu Beginn ihrer Kanzlerschaft, an der Spitze einer Regierung aus CDU/CSU und SPD? Von einer "Koalition der neuen Möglichkeiten" sprach Merkel während ihrer ersten Regierungserklärung als Bundeskanzlerin am 30. November 2005. Ihre Botschaft war klar und bezeichnend: Merkel setzte weit weniger als im Wahlkampf auf Reformen und wirtschaftliche Liberalisierungen. Sie thematisierte stattdessen soziale Sicherheit und Solidarität.
Dabei handelte es sich nicht allein um ein Zugeständnis an den sozialdemokratischen Partner in der großen Koalition. Merkel hatte erlebt und erlitten, wie ihr wirtschafts- und reformfreundlicher Wahlkampf sie beinahe um die Kanzlerschaft gebracht hätte. Als sie in ihrer Regierungserklärung das Wort "Mehr Freiheit wagen" verwendete, so diente dies als Botschaft an zwei Gruppen. Zum einen richtete es sich an die Sozialdemokraten, an deren Bundeskanzler Willy Brandt erinnernd, der doch einst "Mehr Demokratie wagen" wollte. Zum anderen wandte sie sich an diejenigen in den eigenen Reihen, die unter Freiheit vor allem wirtschaftliche Freiheit verstanden.
Mit Willy Brandt zitierte Merkel im November 2005 einen Mann, dessen Ostpolitik sie als junge Frau in der DDR stets bewundert hatte. Merkel hatte in den 1970er und 80er Jahren manche Bundestagsdebatte heimlich im Radio verfolgt - womöglich auch die eine oder andere Regierungserklärung von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl.