Ist Diskriminierung von Homo- und Bisexuellen in Deutschland noch ein Thema? Homosexuelle können nicht nur Lebenspartnerschaften eingehen und sich in Paraden zum Christopher Street Day öffentlich zur Schau stellen, sondern auch Karrieren machen, die sie bis in die Spitzen von Politik und Medien führen. Inwiefern kann dennoch eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung konstatiert werden? Basis für eine Analyse ist das Minoritätenstressmodell von Ilan H. Meyer. 1 Danach wird Minoritätenstress als der vermehrte Stress identifiziert, dem Angehörige von stigmatisierten sozialen Gruppen auf Grund ihrer Minderheitenposition ausgesetzt sind. Er setzt sich zusammen aus gesellschaftlicher Stigmatisierung, der Erfahrung von Diskriminierung und Gewalt sowie verinnerlichten negativen Einstellungen gegenüber der Eigengruppe. 2
Bevor diese Themenfelder im Einzelnen betrachtet werden, seien zentrale Annahmen des Modells skizziert. Zunächst wird impliziert, dass psychische Störungen bei Homosexuellen (und anderen Angehörigen diskriminierter Minderheiten) häufiger auftreten oder stärker ausgeprägt sind, weil auf sie auf Grund des Minderheitenstatus mehr Stressoren einwirken und weil gehäufte oder stärker ausgeprägte Stressoren zu mehr Störungen führen. Neben dem Stress, dem alle Menschen ausgesetzt sein können, kommt zusätzlicher Stress hinzu. Die Herausforderung, das Leben zu meistern, ist daher für Menschen, die einer Minderheit angehören, um einiges größer. Minderheitenstress ist zudem chronisch, weil er stabilen sozialen und kulturellen Strukturen unterliegt; er basiert auf sozialen Prozessen, Institutionen und Strukturen.
Minderheitenstress für homosexuelle und bisexuelle Menschen setzt sich zusammen aus distalen – zum Beispiel vorurteilsbasierte Ereignisse (Diskriminierungen, Gewalt) – und proximalen Faktoren wie Angst vor Ablehnung, Verheimlichung und internalisierte negative Einstellungen gegenüber Homosexuellen. Vom Distalen zum Proximalen wirken somit als Stressoren zum einen externe, objektiv stressvolle Ereignisse und Bedingungen (chronisch und akut), daneben aber auch Erwartungen des Eintritts solcher Ereignisse, ferner die Wachsamkeit, die diese Erwartungen auslösen, sowie die Internalisierung von negativen gesellschaftlichen Einstellungen (Schlagwort „Heterosexismus“). Damit wird eine weitere Implikation des Modells deutlich: Objektiv stressvolle Ereignisse sind keine notwendige Voraussetzung, um Minderheitenstress zu erleben – chronisch stressig kann es schon sein, in Erwartung solcher Ereignisse zu leben.
„Heterosexismus“ dient hier als Oberbegriff, unter den neben negativen Einstellungen gegenüber Homosexuellen strukturelle Faktoren und individuelles Verhalten fallen, die anzeigen, dass grundsätzlich von der Heterosexualität von Menschen und von der Überlegenheit heterosexueller Lebensentwürfe ausgegangen wird. Als Alltagsbeispiele dafür können gelten:
Individuellem Heterosexismus ist schwer beizukommen, da seine Vermeidung einen hohen Reflektionsgrad bei Äußerungen oder bei Planungen von Abläufen voraussetzt: An jeder Stelle muss überlegt werden, ob die Lebensentwürfe Homosexueller „mitgedacht“ werden. Am besten werden diese explizit inkludiert, damit eindeutig ist, dass heterosexuelle und homosexuelle Erfahrungen gleichermaßen gewürdigt werden („Haben Sie eine Partnerin oder einen Partner?“). Der erste Schritt zur Überwindung alltäglichen Heterosexismus ist also die Bewusstmachung ( consciousness raising).
Struktureller Heterosexismus. Die gesellschaftliche Stigmatisierung Homosexueller zeigt sich in der strukturellen Verankerung von Heterosexismus in der Gesellschaft, beispielsweise im Recht. Während sich die gesellschaftliche Situation Homosexueller ohne jeden Zweifel im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts in den westlichen Ländern enorm verbessert hat, bleiben wichtige Ungleichbehandlungen bestehen. Einige Beispiele für Verbesserungen: Der Paragraf 175 des deutschen Strafgesetzbuches stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe und wurde (erst) 1994 abgeschafft. 3 2001 trat das Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft in Deutschland in Kraft (erweitert 2004). Seit 2006 gibt es in Deutschland das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Einige weiter bestehende Ungleichbehandlungen im deutschen Recht sind die Folgenden: 4
Strukturelle Diskriminierung gibt es aber nicht nur im Bundes- und Landesrecht:
Gesellschaftliche Strukturen, in denen ablehnende Haltungen gegenüber Homosexualität tradiert werden, sind allgegenwärtig. Als Beispiel sei hier nur die katholische Kirche genannt, die unvermindert von „abwegigem Verhalten“ und „Sünden, die schwer gegen die Keuschheit verstoßen“ spricht und damit homosexuelle Angehörige ihrer Glaubensgemeinschaft in schwere innere Konflikte stürzt. Auch die evangelische Kirche ist nicht „frei von Schuld“: So haben kürzlich 35 Pfarrer einen offenen Brief an den Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen verfasst, in dem sie dessen akzeptierende Haltung gegenüber homosexuellen Partnerschaften kritisierten. 6 Ein drittes aktuelles Beispiel ist eine Initiative in Uganda, die Todesstrafe für Homosexuelle einzuführen. Eine solche Diskussion und die Folgediskussion innerhalb der Staatengemeinschaft, wie mit dieser Initiative umzugehen sei, führen Homosexuellen deutlich vor Augen, dass Akzeptanz und die Inklusion in die Gruppe derjenigen, auf die grundlegende Menschenrechte anzuwenden sind, keine Selbstverständlichkeiten sind. Um diesem Missstand entgegenzutreten, gibt es weltweite Initiativen, die internationalen Menschenrechte explizit auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zu beziehen („Yogyakarta-Prinzipien“).
Was ist gegen strukturelle Diskriminierung zu tun? Ähnlich dem Ansatz des Gender Mainstreaming, wo alle Gesetze, Regelungen, Praktiken, Abläufe oder Ausgaben dahingehend geprüft werden sollen, ob sie Männer und Frauen unterschiedlich betreffen, sollten im Rahmen eines Sexual Identity Mainstreaming alle institutionellen Praktiken dahingehend überprüft werden, ob sie heterosexuelle und homosexuelle Lebensentwürfe gleichberechtigt nebeneinander stellen.
Nach gängiger Theoriebildung in der Sozialpsychologie kommt negativen Voreinstellungen ein zentraler Erklärungswert für Diskriminierung und Gewalttaten zu. Diese sollen daher hier zunächst betrachtet werden.
Negative Einstellungen gegenüber Homo- und Bisexuellen. In der größten Studie zu negativen Einstellungen in Deutschland, die uns aus den vergangenen Jahren bekannt ist, wurde eine annähernd repräsentative Zufallsstichprobe von 2006 Personen befragt. 7 Etwa die Hälfte von ihnen äußerte negative Einstellungen gegenüber homosexuellen und bisexuellen Männern und Frauen. Männer äußerten durchschnittlich negativere Einstellungen als Frauen, insbesondere gegenüber männlichen Homo- und Bisexuellen – Befunde, die auch aus der internationalen Forschung bekannt sind. Frauen äußerten negativere Einstellungen gegenüber Bisexuellen als gegenüber Homosexuellen. Sehr deutlich zeigt sich für alle betrachteten Einstellungen ein starker Alterstrend: Bei den unter 30-Jährigen waren die Einstellungen am positivsten, bei den über 60-Jährigen am negativsten. Dies sollte als Kohorteneffekt interpretiert werden, der den veränderten gesellschaftlichen Status von Homosexualität widerspiegelt: Wir gehen davon aus, dass die durchschnittliche Einstellung in 30 Jahren positiv sein wird, wenn die Kohorte der heute unter 30-Jährigen über 50 Jahre alt sein wird.
Weitere Faktoren, die mit positiveren Einstellungen einhergingen, waren folgende:
Ein weiterer Faktor, der in der Untersuchung nicht berücksichtigt wurde, aber in der internationalen Literatur zur Erklärung negativer Einstellungen gegenüber Homosexuellen eine bedeutende Rolle spielt, ist Religiosität: Gläubigere Personen, die häufiger in die Kirche gehen und religiösen Autoritäten folgen, geben negativere Einstellungen an als Atheisten oder Atheistinnen. 8 Auch Studien in Deutschland bestätigen dies: Die Muster sind bei gläubigen Christen oder Christinnen und Muslimen oder Muslimas vergleichbar. 9
Im internationalen Vergleich sind Einstellungen gegenüber Homosexuellen in Deutschland relativ positiv. Eine Studie fand die positivsten Einstellungen in den Niederlanden, gefolgt von einer breiten Gruppe mit sehr ähnlichen Einstellungen, zu der neben Deutschland viele mitteleuropäische Länder gehörten. Deutlich weniger positiv äußerten sich Befragte in Großbritannien, Australien, Neuseeland, Italien, den USA oder Japan. 10 Die Zustimmung zu der Frage, ob es Homosexuellen erlaubt sein sollte zu heiraten, liefert ein ähnliches Bild: hohe Zustimmung in Nord- und Westeuropa. 11 Innerhalb der „alten“ EU-Länder fällt Griechenland (nur 16 Prozent Zustimmung) deutlich ab und passt damit zur vorherrschenden Meinung in den östlichen „Beitrittsländern“.
Zwei Probleme, welche die hier angeführten mit allen Befragungen teilen, sind: Erstens können Personen nicht immer zutreffend über alles Auskunft geben, was in ihnen vorgeht. Beispielsweise könnte jemand eine positive Einstellung äußern, aber angesichts sich küssender Männer am Berliner Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen unangenehm berührt sein. Zweitens ist Toleranz gegenüber Minderheiten heute zunehmend normativ, so dass sich Personen, die Vorurteile und negative Einstellungen haben, möglicherweise an diese Normen anpassen und sich lediglich tolerant geben. Um diese Probleme zu umgehen, wurden in der Psychologie sogenannte implizite Verfahren entwickelt, die auf zugrunde liegende Einstellungen schließen lassen, beispielsweise aus Reaktionszeiten in bestimmten Aufgaben. Unter Anwendung solcher Verfahren haben wir herausgefunden: Selbst Stichproben unter Studierenden, die in Befragungen sehr tolerant antworten, weisen mit impliziten Maßen relativ negative Einstellungen gegenüber Homosexuellen im Vergleich zu Heterosexuellen auf. 12 Männliche Studenten zeigten negative Einstellungen gegenüber Schwulen und Lesben, Studentinnen zeigten negative Einstellungen gegenüber Schwulen. Bei Studentinnen war in dieser und in weiteren Studien keine negative Einstellung gegenüber Lesben nachweisbar. Dieser Befund ist aus sozialpsychologischer Sicht eher verwunderlich, denn in der Regel zeigen Personen relativ negativere Einstellungen gegenüber Gruppen, denen sie nicht angehören, als gegenüber ihren Eigengruppen. Möglicherweise werden Heterosexuelle, psychologisch gesehen, normalerweise nicht als Personengruppe angesehen, die etwas Gemeinsames hat (sie empfinden sich als „das Normale“ und Homo- und Bisexuelle als davon abweichende Subgruppe).
Aus diesen Ergebnissen ist zu schlussfolgern: Die Toleranz, die progressive Bevölkerungsgruppen bei Befragungen zeigen, muss kritisch beleuchtet werden. Sie kann teilweise vorgeschoben sein; teilweise zeigen sich aber auch Toleranz bei reflektierten Urteilen, negative Einstellungen jedoch in spontanem Verhalten.
Gewalt gegen Homosexuelle. Negative Einstellungen führen im schlimmsten Fall zu Gewaltakten gegen Homosexuelle. Verlässliche Zahlen darüber zu bekommen, wie verbreitet das Erleben von Gewalt aufgrund der sexuellen Orientierung ist, ist ein schwieriges Unterfangen. Eine untere Grenze der Schätzung kann man gewinnen, wenn man in Erfahrung bringt, wie viele Gewaltakte gegen Homosexuelle zur Anzeige gebracht werden. Da aber erstens nur schwere Gewalt überhaupt angezeigt wird und zweitens selbst gewalttätige Übergriffe aus Scham oder aus Angst vor negativen Reaktionen der Polizei nicht immer angezeigt werden, liegt die Dunkelziffer sehr viel höher. Bei Befragungen unter Homosexuellen zu erfahrener Gewalt stellt sich umgekehrt das Problem der selektiven Teilnahme: Personen, die Gewalt erlebt haben, fühlen sich vielleicht eher angesprochen, an der Studie teilzunehmen, als diejenigen, die keine Gewalt zu berichten haben (oder umgekehrt: Wer sich der erlebten Gewalt schämt, nimmt gar nicht erst teil). Daher wird aus solchen Daten möglicherweise der Prozentsatz überschätzt (oder unterschätzt), der Gewalt erlebt hat.
In einer aktuellen eigenen Studie, die im Kontext des Projekts „Migrationsfamilien“ des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) durchgeführt wurde und deren Ergebnisse Ende April 2010 veröffentlicht werden, haben wir Homosexuelle mit und ohne Migrationshintergrund nach erlebter Gewalt aufgrund der sexuellen Orientierung befragt. Beide Gruppen berichteten gleich häufig von Bedrohungen und anderen allgemeinen Gewalterlebnissen. Lediglich die Häufigkeit von Gewalterfahrungen innerhalb der Familie war bei Homosexuellen mit Migrationshintergrund erhöht.
Um allgemeingültige Aussagen über die Häufigkeit solcher Erlebnisse machen zu können, ist eine Zufallsstichprobe oder repräsentative Stichprobe erforderlich. In einer eigenen Studie haben wir 2001 fast 15000 Männer und Frauen zwischen 14 und 69 Jahren aus dem ganzen Bundesgebiet im Rahmen eines telefonischen Interviews befragen lassen. 13 Die 51 lesbischen Frauen, 84 schwulen Männer, 214 bisexuellen Frauen und 186 bisexuellen Männer, die sich im Rahmen dieser Telefoninterviews zu erkennen gaben, wurden gefragt, ob sie schon einmal wegen ihrer Homosexualität bzw. Bisexualität von einer fremden Person im täglichen Leben beleidigt, bedroht oder angegriffen und ob sie schon einmal am Arbeitsplatz wegen ihrer Homosexualität beziehungsweise Bisexualität ausgegrenzt oder beleidigt wurden.
Diese Zahlen verdeutlichen, dass Männer diese Arten von Gewalt aufgrund ihrer sexuellen Orientierung sehr viel häufiger erfahren als Frauen. Die Häufigkeiten sind erschreckend, denn die sexuelle Orientierung gehört zunächst zu den Stigmata, die relativ gut verborgen werden können, anders als beispielsweise die Hautfarbe. Da viele Homosexuelle nicht grundsätzlich und überall offen auftreten, sondern sich an die Erfordernisse der Situation anpassen, könnte man erwarten, dass sie Gewalterlebnisse weitgehend vermeiden, beispielsweise kein Coming-out am Arbeitsplatz versuchen, wenn das Klima dort von negativen Einstellungen geprägt ist. Die Zahlen zeigen, dass ein solcher, dosierter Umgang häufig nicht gelingt. Daher sprechen sie eine deutliche Sprache zur Gewaltbereitschaft gegenüber Homosexuellen. Dass bisexuelle Personen insgesamt von weniger Gewalt berichten, verwundert nicht, sind sie doch wahrscheinlich weniger oft und weniger offen erkennbar.
Erklärungsmodelle und -faktoren. Auf welche psychologischen Faktoren lassen sich negative Einstellungen und diskriminierendes Verhalten gegenüber Homosexuellen und Bisexuellen zurückführen? Zentrale Faktoren, die in der Literatur diskutiert werden, sind neben dem bereits erwähnten Kontakt und neben der Religiosität Geschlechtsrollen und die zugehörigen Normen. Homosexuelle werden häufig als geschlechtsrollenüberschreitend angesehen: die Männer zu feminin, die Frauen zu maskulin. Entsprechend haben internationale Forschungen gezeigt, dass negative Einstellungen gegenüber Homosexuellen in ein größeres Annahmensystem darüber eingebettet sind, wie sich Männer und Frauen verhalten sollten und dürfen. Die negativsten Einstellungen weisen Personen auf, die selbst traditionelle Geschlechtsrollen leben, die einen doppelten Standard dazu angeben, wie sich Frauen und wie sich Männer verhalten sollen und die starke Geschlechtsrollennormen angeben. In einer eigenen Studie haben wir Einstellungen bei Studierenden aus Köln, Jena und Guadalajara (Mexiko) verglichen. Der entscheidende Faktor, um negativere Einstellungen zu erklären, war, wie sehr die Befragten traditionellen Männerrollen zustimmen, erfragt mit Aussagen wie „Ich würde es etwas albern oder peinlich finden, wenn ein Freund im Kino wegen einer traurigen Liebesszene weinen würde.“ Unabhängig vom Geschlecht der Befragten erklärten traditionelle Männerrollennormen negative Einstellungen am besten, das heißt, Männer und Frauen, die traditionelle Männerrollen gutheißen, weisen die negativsten Einstellungen gegenüber Homosexuellen auf. 14
In einem laufenden Forschungsprojekt gehen wir der Frage nach, inwiefern sich diese negativen Einstellungen durch eine empfundene Bedrohung der eigenen Männlichkeit (bei männlichen Befragten) erklären lassen. Eine neue Studie hat ergeben, dass sich der Einfluss von Religiosität auf negative Einstellungen durch die empfundene Bedrohung der eigenen Männlichkeit erklären lässt. 15 Offenbar dienen negative Einstellungen und diskriminierende Verhaltensweisen dazu, die eigene Männlichkeit zu beweisen. Negative Einstellungen gegenüber Bisexuellen lassen sich weitgehend auf dieselben Faktoren zurückführen wie solche gegenüber Homosexuellen.
Eine spezifische Schwierigkeit von homosexuellen und bisexuellen Heranwachsenden liegt darin, dass sie in der Gesellschaft vorherrschende, negative Einstellungen möglicherweise internalisiert haben, bevor sie erkennen, dass sie selbst zu diesen Gruppen gehören. Dies unterscheidet Homosexuelle von anderen gesellschaftlich stigmatisierten Gruppen: Bei den meisten wachsen die Kinder in einer stigmatisierten Familie auf, die sich gegenseitig im besten Falle Unterstützung geben kann. Homosexuelle dagegen werden gerade innerhalb der Familie mit besonders negativen Einstellungen konfrontiert: Auch Menschen, die relativ tolerant sind gegenüber homosexuellen Freundinnen und Freunden oder Kolleginnen und Kollegen, haben sich für ihre Kinder häufig einen anderen Lebensentwurf ausgemalt und reagieren entsprechend negativ. 16
Auch sind Jugendliche, die sich häufig später zu toleranten Erwachsenen entwickeln, aufgrund der eigenen Verunsicherung im Umgang mit allem, was Sexualität betrifft, und aufgrund ihres Wunsches, zur Gruppe zu gehören, oft eher intolerant. 17 So fühlen sich homo- und bisexuelle Jugendliche häufig sehr anders und allein, ohne Personen, an die sie sich wenden können. Laut gängigen Modellen der Identitätsentwicklung beginnt mit dem inneren Coming-out ein Prozess, in dessen Verlauf dieser negative Aspekt der eigenen Identität in die Persönlichkeit integriert wird. Dies ist nicht einfach zu leisten, und entsprechend weisen Homosexuelle häufiger psychische Störungen wie Depression und Substanzmissbrauch auf als Heterosexuelle. 18
1 Vgl. Ilan H. Meyer, Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay,
and bisexual populations: Conceptual issues and research evidence, in:
Psychological Bulletin, 129 (2003) 5, S. 674–697.
2 Die Begriffe „Homophobie“ und „internalisierte
Homophobie“ sind zwar weit verbreitet, sollen aber hier nicht verwendet werden. Erstens
handelt es sich bei negativen Einstellungen gegenüber Homosexuellen nicht um
individuelle Phobien, sondern um gesellschaftlich erlernte Einstellungen: Während
beispielsweise eine Spinnenphobie eine individuelle, übersteigerte Angst vor Spinnen ist,
haben negative Einstellungen gegenüber Homosexuellen primär gesellschaftliche
Wurzeln. Um ein berühmtes Wort zu paraphrasieren: Nicht der Homophobe ist krank, sondern
die Gesellschaft, die ihn erzeugt! Dies verschleiert der Begriff
„Homophobie“. Darüber hinaus ist eine phobische Reaktion auf das Selbst
(„internalisierte Homophobie“) ein in sich widersprüchliches Konzept.
3 Vgl. Melanie C. Steffens/Christof Wagner, Diskriminierung von Lesben, Schwulen
und Bisexuellen, in: Andreas Beelmann/Kai J. Jonas (Hrsg.), Diskriminierung und
Toleranz. Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven, Wiesbaden 2009, S.
241–262.
4 Vgl. die Homepage des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland: www.lsvd.de.
5 Vgl. Elke Jansen/Melanie C. Steffens, Lesbische Mütter, schwule Väter und ihre
Kinder im Spiegel psychosozialer Forschung, in: Verhaltenstherapie und Psychosoziale
Praxis (Sonderheft Psychotherapie mit Lesben, Schwulen und Bisexuellen), 38 (2006), S.
643–656; Marina Rupp (Hrsg.), Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen
Lebenspartnerschaften, Köln 2009.
6 Vgl. dazu mein Interview im Vlothoer Anzeiger, online:
www.vlothoer-anzeiger.de/lokales/herford/3270872_Homosexualitaet_ist_nicht_therapierbar.html?em_index_page=1 (4.3.2010).
7 Vgl. Melanie C. Steffens/Christof Wagner, Attitudes towards lesbians, gay men,
bisexual women, and bisexual men in Germany, in: Journal of Sex Research, 41 (2004), S.
137–149.
8 Vgl. Bernard E. Whitley, Religiosity and attitudes toward lesbians and gay men: A
meta-analysis, in: The International Journal for the Psychology of Religion, 19 (2009), S.
21–38.
9 Vgl. Gerhard Reese/Melanie C. Steffens/Kai J. Jonas, Religious affiliation and
attitudes towards gay men: The mediating role of masculinity threat. Ms. in preparation,
2010.
10 Vgl. Jonathan Kelley, Attitudes towards homosexuality in 29 nations, in:
Australian Social Monitor, 4 (2001), S. 15–22.
11 Vgl. Gallup Europe, Homosexual marriage, child adoption by homosexual couples:
is the public ready? (2003), online:
www.ilga-europe.org/content/download/3434/20938/file/GALLUP%20Europe%202003%20report.pdf (4.3.2010).
12 Vgl. Melanie C. Steffens, Implicit and explicit attitudes towards lesbians and
gay men, in: Journal of Homosexuality, 49 (2005), S. 39–66.
13 Vgl. M.C. Steffens/Ch. Wagner (Anm. 3).
14 Vgl. Melanie C. Steffens/Kai J. Jonas/Lisa Denger, Attitudes towards lesbians
and gay men in Germany and Mexico: Gender-role norms and outgroup marginalization.
Ms. in preparation, 2010.
15 Vgl. G. Reese u.a. (Anm. 9).
16 Vgl. M.C. Steffens/Ch. Wagner (Anm. 7).
17 Vgl. Michael Bergert, Eigengruppenprojektion – eine Erklärung für
Einstellungen Jugendlicher gegenüber homosexuellen Peers? Unveröff. Diplomarbeit,
Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2008.
18 Vgl. Theo G.M. Sandfort et al., Same-sex sexual behavior and psychiatric
disorders: Findings from the Netherlands mental health survey and incidence study
(NEMESIS), in: Archives of General Psychiatry, 58 (2001) 1, S. 85–91.