13. Dezember 1972: Annemarie Renger wird Bundestagspräsidentin
Kaum eine andere Politikerin ist mit der Geschichte des Bundestages so eng verbunden wie Annemarie Renger und das über Jahrzehnte hinweg. 37 Jahre lang war sie Abgeordnete - von Anfang der 50er Jahre bis zur Wahl des ersten gesamtdeutschen Parlamentes 1990. In den 70er Jahren galt sie als die bekannteste Politikerin des Landes.
Im politischen Leben der Nachkriegszeit stach die elegante junge
Frau unter den älteren Herren in dunklen Anzügen heraus.
Die Namen, die man ihr verlieh, waren ihrer würdig und wuchsen
entsprechend ihrer politisch-parlamentarischen Bedeutung. Anfangs
war sie "Miss Bundestag", später galt sie als
"First Lady" der SPD. 1972 war
sie es dann auch: als Bundestagspräsidentin stand sie an der
Spitze des Parlaments. Sie war nicht nur die erste Frau, sondern
auch die erste Sozialdemokratin in diesem Amt.
Als zweite Frau in diesem Amt wurde einige Wahlperioden
später die CDU-Politikerin Rita Süssmuth gewählt.
Annemarie Renger wollte die Rolle der Frau in der Politik nie in
den Vordergrund stellen. In ihrer Antrittsrede sagte sie vor dem 7.
Deutschen Bundestag: "Die Wahl einer Frau für dieses Amt hat
verständlicherweise einiges Aufsehen erregt. Das Erstmalige
und mithin Ungewohnte gerät in die Gefahr, zum Einmaligen und
Besonderen erhoben zu werden." Doch sie betonte, "dass die Frauen
unter den Mitgliedern des Hohen Hauses keine Ausnahmestellung
wünschen." Ihre Wahl sollte dazu beitragen, jene Vorurteile
abzubauen, "die einer unbefangenen Burteilung der Rolle der Frau
noch immer entgegenstehen." Durch ihre erfolgreiche,
unermüdliche parlamentarische Arbeit und als Wegbereiterin
für die Gleichberechtigung von Frauen in der Politik erwarb
sich die über alle Parteigrenzen hinweg geschätzte
Politikerin den Beinamen "Grande Dame".
Als jüngstes von sieben Kindern wurde sie als Annemarie Wildung am 7. Oktober 1919 in Leipzig geboren. Sie wuchs in einer Familie mit langer sozialdemokratischen Tradition auf. Der Vater war Stadtrat in Leipzig und Chefredakteur der "Arbeiter-Turnzeitung". 1924 zog die Familie nach Berlin. Die Tochter besuchte das Gymnasium, musste die Schule 1933 aber verlassen. Wegen der politischen Einstellung der Eltern wurde ihr das Stipendium gestrichen. Sie begann eine Lehre zur Verlagskauffrau, heiratete und bekam einen Sohn. Ihr Mann fiel im Zweiten Weltkrieg.
Gleich bei Kriegsende zog es die junge Frau dann in die Politik. Im Mai 1945 schrieb sie an Kurt Schumacher, dem ersten Vorsitzenden der SPD, einen Brief. Sie suchte dringend Arbeit und fragte bei ihm an, ob sie für ihn tätig werden könne. Im Oktober desselben Jahres wurde sie dessen Sekretärin. Bald wurde sie eine der engsten Mitarbeiter und Vertraute von Schumacher. Er förderte ihr politisches Talent. Nach Schumachers Tod ging sie aktiv in der Politik und wurde 1953 in den Bundestag gewählt. Als erste Frau in der SPD übernahm sie wenig später die parlamentarische Geschäftsführung ihrer Fraktion.
Von 1962 bis 1973 war sie Mitglied des SPD-Parteivorstandes, von
1970 bis 1973 Mitglied des SPD-Parteipräsidiums. Von 1979 bis
1986 gehörte sie der Kontrollkommission der SPD an.
Nach ihrer vierjährigen Amtszeit als Bundestagspräsidentin blieb sie bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Parlament Vizepräsidentin des Bundestages. 1990 kandidierte sie nicht mehr für den Bundestag. Danach engagierte sie sich in vielen Ehrenämtern und veröffentlichte ihre Erinnerungen. So war sie als Vorsitzende der Kurt-Schumacher Gesellschaft und als Präsidentin des Arbeiter-Samariter-Bundes tätig.
Renger engagierte sich über viele Jahrzehnte hinweg für eine Verbesserung der deutsch-israelischen Beziehungen. Als Ausdruck der hohen Wertschätzung dieses Engagements verlieh ihr die Ben Gurion Universität in Beersheva (Israel) die Ehrendoktorwürde. 1991 erhielt sie zusammen mit Hildegard Hamm-Brücher die Buber-Rosenzweig-Medaille. 2006 ehrte sie die Jüdische Gemeinde in Berlin mit dem Heinz-Galinski-Preis.