Demographischer Wandel - Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik" (1992-2002)
Kernenergie, Globalisierung, Gentechnologie - es sind stets Zukunftsfragen, mit denen sich Enquete-Kommissionen befassen. Mit diesen überfraktionellen, von Abgeordneten und Sachverständigen besetzten Arbeitsgruppen versucht das Parlament über den Tellerrand der Tagespolitik hinauszublicken und Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme zu finden. Gerade in Zeiten großen Reformbedarfs sind die Enquete-Kommissionen so zu einem wichtigen Instrument der Entscheidungsvorbereitung für den Bundestag geworden.
"Vergreiste Republik", "Graue Zukunft", "Überalterte Gesellschaft", - zu Beginn des neuen Jahrtausends kennzeichneten alarmierende Schlagworte die öffentliche Debatte über den demographischen Wandel und seine Folgen. Insbesondere die 2004 vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung unter dem Titel "Deutschland 2020" veröffentlichte Studie sowie das im gleichen Jahr erschienene Buch "Der Methusalem-Komplott" von Frank Schirrmacher hatten plötzlich ein Schlaglicht auf eine Entwicklung geworfen, die lange in der Öffentlichkeit und in weiten Teilen der Politik kaum Beachtung gefunden hatte. Einer Umfrage aus dem Jahr 2003 zufolge hatten 52 Prozent der Deutschen noch nie den Begriff "demographischer Wandel" gehört.
Dabei zeigten Statistiken: Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sank in Deutschland die Geburtenrate kontinuierlich, bei steigender Lebenserwartung der Menschen. Die Folge: eine Verschiebung der Alterstruktur. Die Alterspyramide stellt sich auf den Kopf. Der Anteil der Älteren wird größer, der der Jüngeren und Berufstätigen immer kleiner. Deutschlands Bevölkerung schrumpfe und altere, prognostizierten die Experten. Dies habe gravierende Auswirkungen auf jeden Lebensbereich: auf die sozialen Sicherungssysteme genauso wie auf die Arbeitswelt, den Wohnungsbau oder die Stadtplanung. Das sei eine "Revolution auf leisen Sohlen", so formulierte es einmal der SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose.
Doch mehr als zehn Jahre zuvor hatte bereits der Bundestag das Thema auf seiner Agenda. Lange bevor das Schlagwort vom "demographischen Wandel" die Medien beherrschte und vielerorts politische Stiftungen, Bürgermeister, Kreistage, Stadtplaner, Verbände und Betriebe begannen, sich mit den Auswirkungen der Entwicklung zu befassen, hatte das Parlament sich mit der älter werdenden Gesellschaft bereits beschäftigt: Die Wende 1989 hatte die Diskussion um die Sicherheit der Rente und Generationengerechtigkeit angeheizt und den Druck auf die Politik erhöht, sich mit der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme auseinanderzusetzen.
Am 16. Oktober 1992 hatte das Parlament auf gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, FDP und SPD eine Enquete-Kommission eingesetzt, die, bestehend aus 16 Parlamentariern und zehn Wissenschaftlern, die "Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik" beleuchten sollte. "Das ist ein Stück Zukunftsforschung und Zukunftsvorsorge", begründete Anke Fuchs (SPD), die den Vorsitz des Gremiums übernahm, die Initiative. Es müssten nach der Auswertung der statistischen Daten vor allem eine "Situationsanalyse" vorgenommen und Konzepte und politische Empfehlungen erarbeitet werden, forderte Walter Link (CDU/CSU).
Bereits eineinhalb Jahre später legte das Parlamentarier-Experten-Gremium seinen ersten Zwischenbericht vor, der auf einer Analyse der Bevölkerungsentwicklung und deren Hochrechnung bis zum Jahr 2030 beruhte. Im Zentrum standen die Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Bereiche Familie und soziales Umfeld, Wirtschaft und Arbeitsmarkt sowie die Lebensweisen älterer Menschen. Deutlich wurde dabei jedoch, dass der Zeitrahmen für das komplexe Thema zu gering bemessen war. Zudem zeigte sich die Notwendigkeit, die Rahmendaten über das Jahr 2030 hinaus aufzuarbeiten und auszuwerten.
Dementsprechend beschloss der Bundestag am 1. Juni 1995 die Enquete-Kommission erneut einzusetzen. Irmgard Schewe-Geringk (Bündnis 90/ Die Grünen) mahnte, bisher vernachlässigte Themen wie etwa die Frage der Zuwanderung nicht weiter auszuklammern: Die zukünftige Gesellschaft werde sich nicht nur in der Altersstruktur, sondern auch in ihrer ethnischen Zusammensetzung "erheblich" von der gegenwärtigen unterscheiden. Die FDP-Abgeordnete Lisa Peters forderte zudem, Unterschiede des demografischen Wandels in neuen und alten Bundesländern stärker zu beleuchten.
Heidemarie Lüth (PDS) plädierte darüber hinaus dafür, die Kommission zu nutzen, "das Gesamtproblem der sozialen Sicherungssysteme" und insbesondere die Pflegeversicherung "unter die Lupe" zu nehmen. Doch als das Gremium am 29. September 1998 den zweiten Zwischenbericht vorlegte, waren sich Parlamentarier und Wissenschaftler einig: Auch in diesem Bericht hatte man die Problemstellung der Enquete-Kommission nur annähernd bearbeiten können. Insbesondere das Verhältnis zwischen den Generationen verlange mehr Beachtung, ebenso wie die Themenfelder Pflege und Alterssicherung, hieß es im Bericht.
Nach 15 weiteren Monaten Arbeit übergab das Gremium schließlich dem Bundestag am 16. Dezember 1999 den rund 300-seitigen Schlussbericht, über den er am 25. April 2002 beriet. Arne Fuhrmann (SPD) lobte in der Debatte: Trotz seiner Ausführlichkeit sei der Bericht "kein dicker Schinken", sondern es seien eher "kleine, feine Schinkenhappen" - gut lesbar und leicht verdaulich. Walter Link, jetzt Vorsitzender der Enquete-Kommission, betonte zudem, der Bericht könne helfen, die Diskussion über die Folgen des demographischen Wandels zu "entdramatisieren". "Es wird keine Katastrophe geben, wenn jetzt die richtigen Entscheidungen getroffen werden", sagte der CDU-Politiker und verwies auf den umfassenden Empfehlungskatalog der Kommission.
Reformbedarf sah das Gremium vor allem in der Gesundheitspolitik, der Alterssicherung, der Pflege und in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Umstritten blieb das Thema Zuwanderung. Einigkeit herrschte zwischen rot-grüner Regierung und Opposition, als Klaus Haupt (FDP) schließlich im Plenum forderte: "Die Zeit zu analysieren und zu debattieren ist vorbei. Wir müssen jetzt handeln - konstruktiv, entschlossen und mit Konzentration auf das Wesentliche. Wir machen mit."