Durch den Umzug von Bonn nach Berlin hat sich der Parlamentarismus nach Einschätzung von Bundestagsvizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (FDP) verändert. Es habe sich ein zentralistisches Denken verbreitet, im Parlament wie auch bei der Bundesregierung. Während man bei der Bundesregierung immer stärkere Allmachtsfantasien spüre, neige der Bundestag immer häufiger dazu, der Bundesregierung zu folgen anstatt sie kritisch zu begleiten. Im Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" von Montag, 21. Juni 2010, nennt Solms diese geringere Kontrollfunktion des Parlaments bedenklich. Das Interview im Wortlaut:
Herr Solms, was geht eher zu Ende: Die
Fußballweltmeisterschaft oder die schwarz-gelbe
Koalition?
Natürlich die Fußball-WM, und Deutschland hat gute Chancen, ins Endspiel zu kommen. Die schwarz-gelbe Koalition wird noch eine Weile halten, muss sich aber gewaltig anstrengen.
Da ist Jörg-Uwe Hahn, der in Hessen FDP-Vorsitzender ist, pessimistischer. Er sagte in einem Interview: Entweder wir kriegen in Berlin die Kurve oder es ist bald Schluss mit der Koalition.
Die Koalition ist in einem Tief, das will ich nicht bestreiten. Aber gerade weil das so ist, haben alle drei Koalitionspartner kein Interesse daran, jetzt Neuwahlen anzustreben oder einen Koalitionswechsel, der eine Neuwahl provozieren könnte.
Einzelne FDP-Landespolitiker wollen bei der Bundespräsidentenwahl für den Kandidaten von SPD und Grünen stimmen. Wackelt die rechnerische Mehrheit von Christian Wulff, den Union und FDP ins Rennen schicken?
Ich gehe davon aus, dass Herr Wulff es schaffen wird, und zwar im ersten Wahlgang, weil das politisch ohne Alternative ist - unabhängig davon, was man über die beiden Kandidaten denkt. Ich schätze Joachim Gauck sehr, sein zentrales Thema "Freiheit“ steht auch für uns Liberale im Zentrum. Aber seine Wahl würde politisch ganz anders interpretiert. Zum Schluss werden manche ihre Neigungen zurückstellen und das tun, was politisch vernünftig ist.
Falls Wulff nicht im ersten und zweiten Wahlgang gewählt wird, wären Regierung und Bundeskanzlerin dann nicht schwer beschädigt?
Nein. Dann gibt es einen dritten Wahlgang wie 1994 bei Roman Herzog. Das ist nicht schön, aber so ist nun mal das Verfahren. Man sollte das nicht dramatisieren.
Böse Zungen behaupten, die Union benötige die FDP für die Bundespräsidentenwahl, danach würden CDU und CSU Steuererhöhungen durchboxen.
Ich mache mir Sorgen um die Motive, die hinter diesen Forderungen stehen. Wenn man Aufschwung und Wachstum will, auch um die Haushaltsprobleme zu lösen, dann muss man alles unterlassen, was dem entgegensteht. Steuererhöhungen in der jetzigen Situation wären Gift für Wachstum und Beschäftigung. Ein erhöhter Spitzensteuersatz würde alle Personengesellschaften und Einzelkaufleute treffen, die zwei Drittel der Arbeitsplätze bereitstellen. Aber auf deren Investitionsfähigkeit sind wir angewiesen. Diese Unternehmen müssen das Wachstum weitgehend selbst finanzieren, da die Banken gegenwärtig nur eingeschränkt Kredite bereitstellen können.
Schließen Sie Steuererhöhungen aus?
Ja, weder eine Erhöhung der Einkommensteuer noch der Umsatzsteuer wird es mit uns geben. Das gebietet die ökonomische Vernunft. Dann müsste sich die Union die Stimmen woanders suchen. Das weiß Herr Schäuble. Steuererhöhungen wären im Übrigen ein Bruch des Koalitionsvertrages. Auch die Union muss Kurs halten.
Die Opposition hält das 80-Milliarden-Sparpaket für sozial unausgewogen. Halten Sie an den Einschnitten fest?
Der Staat kann nur da sparen, wo er etwas ausgibt. Der größte Posten ist der Sozialhaushalt. Deshalb kommen wir nicht umhin, auch da entschlossen zu sparen. Und zwar dort, wo die sozialen Wirkungen der Sozialleistungen nicht treffsicher sind.
Wieso ist das Elterngeld für Hartz-IV-Bezieher, das gestrichen werden soll, nicht treffsicher?
Das Elterngeld ist doch eingeführt worden, damit Eltern einen Ersatz für den Arbeitslohn haben. Wer aber nicht arbeitet, braucht auch keinen Ersatz. Den bekommt er ja schon durch Hartz IV.
Die Massenproteste zeigen: In der Öffentlichkeit dominiert der Eindruck, dass Sie bei den sozial Schwachen sparen.
Dem widerspreche ich. Bestimmte Interessengruppen mögen das so sehen. Und ich finde die Berichterstattung teilweise auch einseitig. Wenn berichtet würde: "Fünf Milliarden Euro sparen wir bei den Unternehmen, fünf im Sozialbereich und drei in der öffentlichen Verwaltung“, wäre das ausgewogen.
Ist es ausgewogen, wenn die Beteiligung der Banken an den Kosten der Krise erst 2012 greift, während die Sozialkürzungen schon 2011 beginnen?
Das ist in der Tat eine offene Flanke. Aber da sind wir an internationale Vereinbarungen gebunden, die Finanzmärkte sind nun mal global. So lange man nicht weiß, wie die G20-Staaten, die EU und der Währungsverbund die Banken zur Kasse bitten wollen, so lange kann man schwer nationale Maßnahmen vorauseilend beschließen. Dass Alleingänge nichts bringen, sehen Sie doch am Verbot von Leerverkäufen: Die Betroffenen verlagern solche Umsätze ins Ausland. Der Alleingang schadet dem deutschen Kapitalmarkt.
War der deutsche Alleingang bei den Leerverkäufen also ein Misserfolg?
Abwarten - Politik besteht ja auch aus psychologischen Elementen. Man zeigt, das man bereit ist zu handeln. Aber man muss auch einen Weg finden, der nicht zu viel Schaden auslöst. Problematisch etwa wäre eine nationale Steuer auf Finanzgeschäfte.
Inwiefern?
Als in Schweden zum Beispiel in den 1990er Jahren eine Börsenumsatzsteuer eingeführt wurde, sind die Börsenumsätze etwa zu 80 Prozent sofort nach London abgewandert. Nach zwei Jahren hat man die Steuer wieder abgeschafft, aber die Umsätze sind nicht zurückgekommen. Das würde uns hier genauso passieren. Sinnvoller wäre eine Finanzaktivitätssteuer. Als Bemessungsgrundlage würden Gewinne und Gehälter herangezogen. Aber auch das kann Deutschland nicht im Alleingang machen. Wenn der Kapitalmarkt abwandert, werden die Finanzierungsbedingungen für Investitionen in Deutschland schlechter. Das würde unseren Wirtschaftsstandort langfristig schwächen.
Was erwarten Sie vom G20-Gipfel, der Ende Juni in Toronto stattfindet?
Die Finanztransaktionssteuer, die SPD und Linke fordern, wollen viele andere Länder wie Kanada oder Australien nicht. Auf Deutsch gesagt: International ist sie "tot“. Deshalb müssen wir klären, ob wir europäisch die Finanzaktivitätssteuer hinbekommen. Und national sollten wir zügig die Bankenaufsicht verbessern. Leider ist diese Reform gerade mal wieder auf die lange Bank geschoben worden.
Wie bitte?
Unstrittig zwischen Union und FDP ist, dass die Bankenaufsicht bei der Bundesbank angesiedelt werden soll. Aber wir sind uns nicht einig bei der Frage, in welcher Rechtsform dies umgesetzt werden soll. Die Pläne des Finanzministeriums, die noch aus Peer Steinbrücks Zeiten stammen, würden dazu führen, dass die Bankenaufsicht zwar organisatorisch bei der Bundesbank stattfindet, der Finanzminister aber trotzdem das Sagen hat. Das würde die Neutralität der Bundesbank beeinträchtigen. Das wollen wir und große Teile der Union nicht.
Sie sitzen seit 30 Jahren im Bundestag, sind seit zwölf Jahren Bundestagsvizepräsident. Wie hat sich in der Zeit der Parlamentarismus verändert?
Der Parlamentarismus hat sich durch den Umzug von Bonn nach Berlin verändert. Es hat sich ein zentralistisches Denken verbreitet, auf Seiten der Bundesregierung genauso wie im Parlament. Bei der Bundesregierung spürt man stärkere Allmachtsfantasien und im Bundestag immer häufiger die Neigung, der Bundesregierung mehr und mehr zu folgen, anstatt sie kritisch zu begleiten. Die Kontrollfunktion des Parlaments ist damit geringer geworden, was ich bedenklich finde. Wir müssen das wieder ändern.