Berlin: (hib/MPI) Behinderten- und
Wohlfahrtsverbände laufen Sturm gegen die geplante Umstellung
vom so genannten Brutto- auf das Nettoprinzip bei der Sozialhilfe
für in Heimen wohnende Behinderte. Für viele der rund
145.000 vollstationär betreuten behinderten Menschen
würde dies eine Überforderung bedeuten, warnte der
Deutsche Behindertenrat in einer öffentlichen Anhörung
des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montagmittag. Die
Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (BAGFW)
ergänzte, künftig könnten die Sozialhilfeträger
mit der Leistungsgewährung warten, bis die
Hilfebedürftigkeit abschließend geklärt ist. Damit
werde das Ziel des Neunten Sozialgesetzbuches, Behinderten einen
einfachen und schnellen Zugang zu Hilfe zu ermöglichen,
"kaputt gemacht". Zudem komme auf die Betreuungseinrichtungen ein
erhöhter Verwaltungsaufwand zu. Auf Wunsch der Länder
wurde in den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Anhebung des
Sozialhilferegelsatzes in Ostdeutschland auf Westniveau (
16/2711) die Streichung des Bruttoprinzips
eingearbeitet. Bislang gehen die Sozialhilfeträger bei der
"stationären Eingliederungshilfe" für Menschen mit
Behinderungen in Vorleistung (Bruttoprinzip), die benötigten
Leistungen werden in vollem Umfang finanziert und den Einrichtungen
als Vergütung ausgezahlt. Die Kostenbeteiligung der
Behinderten wird im Nachhinein ermittelt. Mit der Einführung
des Nettoprinzips müssten Behinderte ihr einzusetzendes
Einkommen (etwa Erwerbsunfähigkeitsrente,
Grundsicherungsleistungen oder Wohngeld) selbst zusammenstellen und
geltend machen, um sodann ihren Anteil an den Kosten der
Eingliederungshilfe beispielsweise an ihr Wohnheim zu
übermitteln. Der Sozialhilfeträger erteilt seine
Kostenzusage entgegen der bisherigen Praxis nur noch in Höhe
des Restbetrages. Dies bedeute, dass Leistungsberechtigte eventuell
zu Selbstzahlern werden, erörterte die
Einzelsachverständige Marie-Luise Schiffer-Werneburg. Die
Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände verteidigte
die vorgesehene Änderung. Damit könne eine "stärkere
Selbstbestimmung behinderter Menschen" erreicht werden. Die
Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger
der Sozialhilfe (BAGüS) fügte hinzu, das Nettoprinzip
könne den Grundsatz "ambulant vor stationär"
stärken. Auf Kritik stieß bei Behinderten- und
Wohlfahrtsverbänden die Absicht der Länder, das
Kindergeld bei einer stationären Betreuung an den
Sozialhilfeträger weiterzuleiten. Eltern behinderter Kinder
würden dadurch "eklatant benachteiligt", unterstrich der
Behindertenrat. Er prophezeite, dass die Neuregelung "sehr viele
Klagen" betroffener Eltern nach sich ziehen werde. In einer
Stellungnahme erläuterte die Selbsthilfeorganisation Sonnenhof
e. V., auch wenn behinderte Menschen nicht mehr auf Dauer bei ihren
Eltern lebten, müssten diese umfassende Leistungen erbringen,
die vom Kauf der Kleidung bis hin zu Urlaubsreisen
reichten.Weitgehend unstrittig ist bei den Experten dagegen die
Anhebung des Sozialhilferegelsatzes in Ostdeutschland von 331 auf
345 Euro. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) setzte sich in
diesem Zusammenhang nachdrücklich dafür ein, ein
bundeseinheitliches Existenzminimum zu garantieren. Die
Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) forderte
hingegen regional differenzierte Höchstregelsätze. Das
statistische Bundesamt sollte, so die BDA, deshalb eine nach
Regionen und Ländern differenzierte Auswertung vorlegen, auf
deren Grundlage dann die Länder Regelsätze festlegen. Der
Paritätische Wohlfahrtsverband verlangte, den Regelsatz auf
Grundlage der Verbraucherpreisindizes auf 415 Euro in ganz
Deutschland anzuheben und für Kinder einen gesonderten Bedarf
zu ermitteln. Bislang werde dieser lediglich von dem Bedarf eines
allein stehenden Erwachsenen abgeleitet, der
erfahrungsgemäß keinen Bedarf beispielsweise an Windeln
und Schulsachen habe.