Navigationspfad: Startseite > Dokumente & Recherche > Protokolle > Vorläufige Plenarprotokolle > Vorläufiges Protokoll der 65. Sitzung vom 07. Oktober 2010
65. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Beginn: 9.01 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich.
Wir haben zwei Nachbesetzungen vorzunehmen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Auf Vorschlag der SPD-Fraktion soll der Kollege Siegmund Ehrmann den Platz der ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren als ordentliches Mitglied im Kuratorium der Stiftung ?Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland? einnehmen. Im Stiftungsrat der Stiftung ?Flucht, Vertreibung, Versöhnung? soll ihr Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse als ordentliches Mitglied nachfolgen. Als neues stellvertretendes Mitglied ist der Kollege Dietmar Nietan vorgesehen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen, und die genannten Kollegen sind damit gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde
Projekt Stuttgart 21
(siehe 64. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 33
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3 Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächenerwerbsverordnung (Zweites Flächenerwerbsänderungsgesetz - 2. FlErwÄndG)
- Drucksache 17/3183 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte der Arbeitsuchenden stärken - Sanktionen aussetzen
- Drucksache 17/3207 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pakistan nach der Flut langfristig unterstützen und Schulden umwandeln
- Drucksache 17/3206 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Britta Haßelmann, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme (Neufassung) KOM-Nr. (2010) 368 endg.; Ratsdok.-Nr. 12386/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale Sicherungssysteme als Modell für Europa
- Drucksache 17/3191 -
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Biologische Vielfalt für künftige Generationen bewahren und die natürlichen Lebensgrundlagen sichern
- Drucksache 17/3199 -
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Unterrichtung
Initiative für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen
Ratsdok. 9145/10
- Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Stefan Ruppert, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neuorganisation der Bundespolizei erfolgreich fortsetzen - Bundespolizistinnen und Bundespolizisten unterstützen
- Drucksache 17/3187 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kirgisistan unterstützen - Den Frieden sichern
- Drucksache 17/3202 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
?Kinder, Küche und Karriere? - Vereinbarkeit für Frauen und Männer besser möglich machen
- Drucksache 17/3203 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Günter Gloser, Dietmar Nietan, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Glaubhafte Unterstützung für Serbiens Beitrittsantrag zur Europäischen Union
- Drucksache 17/3175 -
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Serbiens Beitrittsgesuch an die Europäische Kommission weiterleiten - Gesamte Region im Blick behalten
- Drucksache 17/3204 -
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Möhring, Jan van Aken, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 ?Frauen, Frieden und Sicherheit? einhalten - Auf Gewalt in internationalen Konflikten verzichten
- Drucksache 17/3205 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus gibt es folgende Änderungen beim Ablauf der heutigen Tagesordnung: Die Tagesordnungspunkte 5 a, b und d sollen abgesetzt und der Tagesordnungspunkt 5 c ohne Debatte überwiesen werden. An dieser Stelle ist nunmehr die Beratung des Tagesordnungspunktes 9 vorgesehen. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken dementsprechend vor. Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall; ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
Achter Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland
- Drucksache 17/2400 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Staatsministerin Frau Professor Maria Böhmer.
Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin:
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass das Thema Integration endlich wieder da steht, wo es angesichts der drängenden Probleme und Aufgaben hingehört: ganz oben auf der Tagesordnung. Ich bin dem Bundespräsidenten dankbar, dass er sich des Themas Integration mit so großer Intensität angenommen hat.
Wir dürfen das Feld nicht Sarrazin mit seinen Halbwahrheiten und seinen kruden Vererbungstheorien überlassen.
Als Finanzsenator in Berlin hatte er sieben Jahre lang Zeit, etwas für die Integration zu tun. Er hat nichts getan. Das waren sieben verlorene Jahre für die Integration in Berlin.
Viele Migranten, die längst in Deutschland heimisch sind, fühlten sich in den letzten Wochen unter Generalverdacht gestellt und ausgegrenzt. Viele Einheimische haben Ängste und Sorgen angesichts der Veränderungen in unserem Land. Manche haben auch Angst vor Gewalt. Manche Schülerinnen und Schüler und manche Lehrer müssen sich deutschfeindliche Äußerungen anhören. Wenn sich ein Schüler nicht mehr auf den Pausenhof traut, wenn Lehrer eingeschüchtert werden oder wenn Lehrerinnen beschimpft werden, können wir das nicht hinnehmen und müssen dagegen angehen.
Jedem, der zu uns kommt, muss von Anfang an klar sein: Wer hier leben will, muss selbstverständlich das Grundgesetz und unsere Rechtsordnung respektieren. Wer hier leben will, muss sich auch auf unser Land einlassen.
Ich war sehr beeindruckt von dem Gespräch, das ich mit den Migrantenorganisationen am Dienstag geführt habe. Genau das war der Tenor auch dort: sich auf dieses Land einzulassen, hier zu Hause zu sein, das Gespräch führen zu wollen und dafür zu sorgen, dass wir gemeinsam in eine gute Zukunft gehen. Das zeigt: Was wir in der letzten Legislaturperiode begonnen haben, hat sich bewährt. Wir reden nicht übereinander, sondern wir reden miteinander. Das ist der entscheidende Punkt.
Grundrechte wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Religions- und Meinungsfreiheit dürfen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern sie müssen gelebt werden - zuallererst in den Familien. Die Eltern stehen hier in der Verantwortung. Wir wollen sie dabei auch unterstützen, damit Kinder aus Zuwandererfamilien die Chance haben, in unserer Gesellschaft wirklich anzukommen.
?Fördern und Fordern? ist der zentrale Grundsatz unserer Integrationspolitik. Er hat sich bewährt. Wir lassen niemanden allein. Wir kümmern uns. Aber ich erwarte auch, dass die Integrationsangebote angenommen werden,
seien es die Teilnahme an Integrationskursen, die Sprachförderung im Kindergarten, der regelmäßige Schulbesuch oder der Abschluss einer Ausbildung.
Ich habe viele kennengelernt, die sich angestrengt haben und die erfolgreich sind. Ich erwähne den Enkel eines, wie wir früher gesagt haben, Gastarbeiters. Sein Großvater ist aus der Türkei zu uns gekommen und war Hilfsarbeiter in einem großen deutschen Unternehmen. Sein Vater wurde Arbeiter. Er selbst hat studiert und gehört heute zur Führungsmannschaft in diesem Unternehmen. Er ist einer der großen Brückenbauer zwischen Migranten und Einheimischen in unserem Land. Solche Vorbilder brauchen wir, und solche Vorbilder müssen wir stärken.
2005 standen wir bei der Integration vor einem Berg von Versäumnissen und Fehlentwicklungen.
Die Integrationspolitik steckte damals noch in den Kinderschuhen.
Wir haben unter Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel massiv umgesteuert. Denn mit Beliebigkeit und dem Ausblenden der Wirklichkeit sind die Probleme nicht zu meistern. Multikulti ist gescheitert. Das ist die Wahrheit.
Wir haben viele Weichen neu gestellt: mit dem Integrationsgipfel, der Islamkonferenz und dem Nationalen Integrationsplan als dem ersten Gesamtkonzept mit mehr als 400 Selbstverpflichtungen, die zu einem großen Teil erfüllt sind. Wir können heute mit Fug und Recht sagen: Deutschland steht im europäischen Vergleich gut da. Ich denke in diesem Zusammenhang an die brennenden Vorstädte in Frankreich und an die Probleme in den Niederlanden. Rechtspopulisten vergiften dort das Klima und belasten das Zusammenleben. All das haben wir nicht. Das soll auch so bleiben. Dafür setzen wir uns ein.
Wir sind so manchen unbequemen Weg gegangen. Ich denke dabei an den Streit um Deutsch auf dem Schulhof. Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Deutsch die Schulsprache sein muss. Ich denke an die Verpflichtung zum Spracherwerb für Ehegatten im Herkunftsland. Auch hierüber haben wir uns heftig gestritten, aber wir haben diesen Vorschlag dann gemeinsam nach vorne gebracht. Heute ist die Skepsis der Erkenntnis gewichen, dass Spracherwerb ein Gewinn ist und dass so Zwangsverheiratungen verhindert werden können.
Als es um die Einbürgerungstests ging, gab es auch Streit in unserem Land. Aber heute ist klar - das sagen mir auch viele Migrantinnen und Migranten, die deutsche Staatsbürger werden wollen -: Es ist von Vorteil, wenn man über unser Land Bescheid weiß, denn man will hier leben und die Rechte und Pflichten voll wahrnehmen. Dann gehört es auch dazu, dass man sich auskennt.
Die Anstrengungen für die Integration haben sich gelohnt. Das wird durch den Lagebericht belegt, den ich dem Bundestagspräsidenten im Juli übergeben habe. Das zentrale Ergebnis in diesem Bericht ist: Die Integration in Deutschland gewinnt an Fahrt, aber wir müssen noch an Tempo und an Intensität zulegen. Wir brauchen dazu auch eine breite Diskussion in der Bevölkerung, damit das, was wir in Gang gesetzt haben, auch entsprechend mitgetragen wird.
Wir haben Fortschritte bei der Sprache, der Bildung und der Ausbildung zu verzeichnen. Das Bildungsniveau hat sich erhöht. Ich sage aber auch, dass es alarmierend ist, dass die Zahl der Schulabbrecher nach wie vor zu hoch ist: 13 Prozent bei den Migrantenjugendlichen im Vergleich zu 7 Prozent bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. - Das ist noch weit von der Zusage entfernt, die die Länder uns im Nationalen Integrationsplan gegeben haben, wonach die Quoten bis 2012 angeglichen sein sollen.
Deshalb brauchen wir mehr individuelle Förderung in den Schulen. Wir brauchen mehr Lehrkräfte, wir brauchen mehr Schulsozialarbeiter, und wir brauchen mehr Zeit. Wir brauchen aber auch mehr Ganztagsschulen, um wirklich die individuelle Förderung dieser Kinder voranzubringen; denn sie sind nicht weniger begabt, sie sind nur weniger gefördert, und sie sollen alle Chancen in unserem Land haben.
Erziehung und Bildung beginnen im Elternhaus. Viele der Eltern, die hierhergekommen sind, kennen sich mit unserem Bildungssystem nicht aus. Sie brauchen unsere Hilfe und Unterstützung. Deshalb muss die Elternarbeit in Kindergarten und Schule gestärkt werden, müssen Integrationskurse gerade dort stattfinden.
Wie wollen wir in Zukunft weiter verfahren? Wir müssen jetzt in eine zweite Phase der Integrationspolitik eintreten, in eine Phase von mehr Verbindlichkeit. Dabei kommt der zentralen Integrationsmaßnahme der Bundesregierung, den Integrationskursen, große Bedeutung zu. Es ist in der Tat das Erfolgsmodell für Integration in unserem Land. Ende des Jahres werden mehr als 700 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu zählen sein. Was mich besonders freut, ist, dass zwei Drittel davon Frauen sind und dass viele von denen, die schon seit vielen Jahren - 10, 12, 15 Jahre - in Deutschland leben, jetzt sagen: Wir wollen endlich Deutsch lernen. - Unsere Botschaft, dass Deutsch die Grundlage für ein gutes Zusammenleben, für ein gutes Miteinander und für Teilhabe in unserem Land ist, ist angekommen.
Wichtig ist: Jeder, der an einem solchen Kurs freiwillig teilnehmen möchte - jeder Zweite tut das -, muss auch in Zukunft die Chance dazu haben. Deshalb haben wir die Haushaltsmittel noch einmal auf jetzt 233 Millionen Euro erhöht. Das war angesichts knapper Kassen wahrlich keine einfache Entscheidung, aber das ist ein klares Signal dafür, dass wir alles dafür tun möchten, dass die Integration in unserem Land klappt.
Ich will Integrationsvereinbarungen auf den Weg bringen; denn ich möchte, dass wir auch hier mehr Verbindlichkeit für beide Seiten haben: für die Migranten, die dann wissen sollen, welche Angebote und welche Hilfe sie erwarten können, und auch für uns. Denn wir wollen im Rahmen dieser individuellen Integrationsvereinbarungen festhalten, wo Nachholbedarf besteht: beim Spracherwerb, bei der Bildung, bei der beruflichen Qualifikation. Natürlich gehört dazu auch, dass die Eltern ihre Kinder in den Kindergarten schicken, damit sie in den Genuss der Sprachförderung kommen und damit sie, wenn die Grundschule beginnt, dem Unterricht folgen können; denn nur dann wird sich langfristig für diese Kinder etwas verbessern.
Die frühe Sprachförderung wurde seitdem wir den Nationalen Integrationsplan vorgelegt haben, in allen Bundesländern realisiert. Es gibt überall Sprachstandstests, es gibt überall Sprachförderung. Aber ich bin sehr nachdenklich geworden, als ich erfahren habe, dass trotz alledem beispielsweise in Berlin noch immer 30 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 25 Prozent der Kinder ohne ausreichende Sprachkenntnisse in die Grundschule kommen. Da stimmt doch etwas nicht. Hier sind die Länder gefordert, zu überprüfen, wie wirksam diese Sprachförderung ist.
Ich will auch noch einmal an die Eltern appellieren. Wenn Migranteneltern ihre Kinder seltener in den Kindergarten schicken, dann heißt das: Gerade die Kinder, die wir fördern wollen, kommen nicht in den Genuss der Förderung. Deshalb bin ich für ein verbindliches letztes Kindergartenjahr. Denn wir dürfen die Kinder nicht allein lassen. Sie dürfen nicht diejenigen sein, die unter den Versäumnissen ihrer Eltern leiden.
Wir haben in dieser Legislaturperiode ein großes Vorhaben. Wir wollen es schaffen, dass die vielen Menschen, die in unser Land gekommen sind und über einen guten beruflichen Abschluss verfügen, die hier arbeiten, sich einbringen und unser Land voranbringen wollen, in ihrem Beruf arbeiten können. Es darf nicht mehr sein, dass sie wie früher in den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit als Unqualifizierte geführt werden. Ein Anerkennungsgesetz für die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen wird ein Markstein der Integrationspolitik in dieser Legislaturperiode sein. Es wird vieles verändern, was die Annahme der Migranten, das Heben von Potenzialen und die Anerkennung der Vielfalt angeht. Deshalb brauchen wir dieses Gesetz schnell.
Es soll bis Dezember vorliegen. Das wird die Wende in der Integrationspolitik deutlich unterstützen.
Bei allem, was wir diskutieren, müssen wir uns auch schwierigen Fragen zuwenden. Schon in der letzten Legislaturperiode habe ich immer wieder angemahnt, dass die Gleichberechtigung von Frauen der Lackmustest ist, wenn es um das Gelingen von Integration geht. Denn es darf nicht sein, dass es in unserem Land, wo die Gleichberechtigung von Mann und Frau gilt, immer noch vorkommt, dass Mädchen nicht an allen Unterrichtsfächern teilnehmen dürfen und ihnen vom Elternhaus verboten wird, zum Schwimmunterricht und zum Sport zu gehen oder an Klassenfahrten teilzunehmen. Mädchen müssen die gleichen Chancen haben wie alle anderen. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Eltern sagen, wo die Grenze liegt, damit die Kinder alle Chancen bekommen, sich auf ein Leben in unserem Land vorzubereiten.
Ganz besonders treibt mich die Tatsache um, dass es auch in unserem Land Zwangsverheiratungen gibt. Ich spreche mich deutlich dafür aus, dass wir jetzt einen eigenen Straftatbestand Zwangsverheiratung schaffen und dass wir diesen mit einem Rückkehrrecht für die Mädchen, die heiratsverschleppt sind, verknüpfen. Denn sie sind gut integriert, und wir wollen, dass sie in unserem Land ihren Weg gehen können.
Weil in den letzten Tagen so heftig über den Islam in Deutschland gesprochen worden ist, will ich an einen Satz von Wolfgang Schäuble erinnern: ?Der Islam ist Teil Deutschlands.? Dieser Satz bleibt gültig. Es ist aber genauso klar: Die Grundlage unseres Wertesystems und auch unseres Grundgesetzes ist und bleibt die christlich-jüdische Tradition. Klar ist auch: Für einen radikalen Islam, der unsere Werte infrage stellt, ist kein Platz in unserem Land.
Wir haben keine schnellen Antworten. Wir werden um so manche Frage ringen müssen. Ich nehme die Ängste und Sorgen unserer Bevölkerung, der Migranten und der Einheimischen, sehr ernst. Wir brauchen die Diskussion, die momentan aufgekommen ist. Aber wir müssen die Diskussion vor dem Hintergrund führen, dass es um die Kernfragen unseres Landes geht: Was hält uns zusammen? Wie wollen wir morgen leben? Erreichen wir wirklich eine Verständigung über diese entscheidenden Fragen angesichts von vielfältigen kulturellen Veränderungen, die vielen jetzt erst deutlich werden?
Jeder Einzelne muss sich fragen, was er zum Zusammenhalt in unserer Gesellschaft beitragen kann. Ich möchte, dass unser Land ein weltoffenes und tolerantes Land bleibt und dass es ein Land ist, in dem Vielfalt geschätzt wird. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Olaf Scholz für die SPD-Fraktion.
Olaf Scholz (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal hilft reden. Insofern war es gut, dass der Bundespräsident wiederholt hat, was der damalige Innenminister Schäuble in diesem Deutschen Bundestag vor einiger Zeit sagte: Der Islam ist Teil Deutschlands. - Es ist richtig, dass er das gesagt hat. Das wird deutlich, wenn man sieht, wie darauf reagiert wird, wie viele sich jetzt äußern und wie viele gerade auch der politischen Anhänger von Wolfgang Schäuble nicht seiner Ansicht sind. Manchmal muss man solche Reden so lange halten, bis sich alle einig sind.
Reden alleine hilft aber nicht. Gerade was Integrationspolitik betrifft, gibt es eine große Kluft zwischen Reden und Handeln, zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was getan wird. Ja, am Anfang ist es manchmal so, dass man noch ganz verzaubert zuhört, wenn ein konservativer Politiker oder eine konservative Politikerin mit mehrjährigem Zeitverzug das richtig findet, was gegen ihn bzw. sie durchgesetzt wurde.
Ich finde, man muss es als großen gesellschaftlichen Fortschritt begreifen, wenn das jemand jetzt erkennt und das als neue Wahrheit verkündet, was bitter, anstrengend und mühselig erreicht werden musste. Aber es ist schlecht, wenn man dabei verharrt, wenn es diese ?Bis hier und nicht weiter?-Strategie gibt, die einen nie in die Lage versetzt, den nächsten Schritt zu tun. Vor allem kommt es darauf an - das gilt gerade im Hinblick auf die Integrationspolitik -, dass man das Notwendige tut und nicht nur darüber redet.
Es gibt viele Theorien darüber, wie Politikverdrossenheit in Deutschland entsteht. Meine These lautet: Eine der wichtigsten Ursachen dafür ist, dass viele Politiker oft das Richtige zu sagen wissen, aber nicht alle es richtig finden, ihren Reden auch Taten folgen zu lassen.
Gerade in der Integrationspolitik müssen wir die Bundesregierung und ihr Handeln deswegen kritisieren.
Zu den Integrationskursen. Wie wichtig es ist, dass man Deutsch kann, dass man Deutsch lernt und dass Integrationskurse angeboten werden, haben wir in den sehr aufgeregten Debatten der letzten Wochen und Monate gelernt; es ist so. Es war eine rot-grüne Bundesregierung, die gegen den Willen konservativer Gegner durchgesetzt hat, dass es Integrationskurse gibt.
Es war eine von Sozialdemokraten und Grünen getragene Bundesregierung, die dafür gesorgt hat, dass das eine Bundesaufgabe ist, weil sich andere vorher gar nicht darum gekümmert hatten.
Nun ist diese Sache aber ein so großer Erfolg geworden, dass die Mittel, die bisher dafür eingeplant waren, nicht mehr reichen. Es ist ganz furchtbar - ich sage ausdrücklich: furchtbar -, dass wir eine Debatte über die Frage führen, ob denn genügend an diesen Kursen teilnehmen, obwohl wir wissen, dass aufgrund der Tatsache, dass nicht ausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird, nicht jeder, der es möchte, an einem solchen Kurs teilnehmen kann. Es werden einfach nicht ausreichend Gelder zur Verfügung gestellt.
Das ist das Gegenteil dessen, was notwendig ist. Wir brauchen an dieser Stelle Taten und keine Reden.
Herr Grindel, Sie haben gesagt, die Mittel seien sogar erhöht worden. Das stimmt, aber die Mittel müssten noch viel mehr erhöht werden, wenn man das ernst nimmt. Denn es darf eigentlich nicht sein, dass viele Zigtausende wie in diesem Jahr die Kurse nicht wahrnehmen können, weil Sie eine Prioritätenliste aufgestellt haben, aufgrund derer viele, die das freiwillig wollen, das nicht tun können.
Es ist nicht in Ordnung, wenn Sie sagen, es gebe eine dreimonatige Wartezeit. Diese ist in der Realität nämlich noch viel länger. Das alles ist ein Fehler.
Das Gleiche gilt für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Sie streichen hier Milliarden, und zwar all die Maßnahmen, die Sie an anderer Stelle in Ihren Reden so richtig finden, wenn es um Integration geht. Ich sage Ihnen: Ihre Entscheidungen die Arbeitsmarktpolitik betreffend - das zeigt der Bundeshaushalt - sind nichts anderes als ein aktiver Kampf gegen erfolgreiche Integration in den nächsten Jahren. Es ist falsch, was Sie dort machen. Es müssen mehr Mittel für Qualifizierung und Arbeitsmarktintegration zur Verfügung gestellt werden, gerade für die Gruppen, um die es hier geht.
Wie sehr Sie distanziert sind, sieht man an Ihrem anhaltenden und wieder aufflammenden Widerstand gegen die Regelung, dass jeder, der arbeitslos ist, einen Schulabschluss nachholen kann. Es war übrigens ein sozialdemokratischer Arbeitsminister, der durchgesetzt hat, dass in jedem Fall derjenige, der nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügt und arbeitslos ist, zuerst die Sprache erlernen muss und dass es ein entsprechendes Angebot gibt. Wenn das alles so ist, dann darf man nicht nur darüber reden. Dann muss man auch entsprechend handeln. Bei Ihnen fehlen die Taten. Sie reden nur. Das ist zu wenig.
Es ist notwendig, dass die Betreffenden etwas tun, um sich zu integrieren, dass sie sich anstrengen und bemühen. Was wäre ein größeres Zeichen als die Aussage: ?Wer in Deutschland einen Schulabschluss macht, der kann seinen Aufenthaltsstatus damit verbessern und muss als Kind nicht in einem Duldungsstatus verbleiben?? Wo bleibt Ihre entsprechende Regelung? Wir, die sozialdemokratische Fraktion, haben längst einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Sie reden nur und lassen nicht die notwendigen Taten folgen. Das ist das Problem.
Das Gleiche gilt für die Thematik des Anerkennungsgesetzes. In der letzten Legislaturperiode waren Sie erst gar nicht dafür; dann waren Sie dafür, eine Regelung ohne Gesetz zu machen, bei der sich alle ein bisschen abstimmen. Dann haben Sie in Ihren Koalitionsvertrag die vorher abgelehnte Regelung hineingeschrieben, und nun ist das Gesetz immer noch nicht da. Jetzt wird es uns für Dezember angekündigt. Dabei ist die Materie so einfach; das Gesetz hätte längst beschlossen werden können, wenn es nicht an irgendwelchen Widerständen scheiterte, die Sie bisher offenbar nicht überwinden konnten. Wir brauchen ein Anerkennungsgesetz, wir brauchen Taten und nicht weitere Reden zu diesem Thema.
Natürlich ist auch ein Bestandteil dessen, was notwendig ist, dass wir uns darum kümmern, dass diejenigen, die hier als Deutsche aufgewachsen sind, dies auch bruchlos fortsetzen können. Die Optionspflicht, die in unserem Staatsangehörigkeitsrecht enthalten ist, gehört abgeschafft. Sie ist ein falsches Mal gegen die Integration;
es ist die falsche Botschaft, die an dieser Stelle ausgesandt wird. Auch hier reden Sie nur darüber, dass man das einmal prüfen solle. Es wäre eine Tat notwendig, und das Gesetz ist schnell und einfach gemacht. Wir hätten es längst beschließen können.
Das ist es, was wir meines Erachtens hinbekommen müssen. Wir müssen endlich den vielen Reden, die man ständig hört, Taten folgen lassen, damit es stimmt, was wir sagen. Jeder, der jetzt Deutsch lernen und die entsprechende Arbeitsmarktintegration erlangen will, der will, dass sich sein Kind auf der Schule anstrengt, soll wissen, dass es nach unseren Ankündigungen auch Folgen geben wird. Wir sind dafür verantwortlich, dass dies für jedes Detail zutrifft. Deshalb fordere ich Sie auf: Beschränken Sie sich nicht allein auf die Rede, sondern wenden Sie sich der Tat zu! Das ist es, was jetzt in Deutschland notwendig ist, und das wäre ein wirklicher Fortschritt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die FDP erhält der Kollege Hartfrid Wolff jetzt das Wort.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verbindlichkeit ist das Schlüsselwort des vorliegenden achten Ausländerberichts. Verbindlichkeit ist das Schlüsselwort für erfolgreiche Integration und für erfolgreiche Integrationspolitik. Die FDP begrüßt den Wandel der Prioritäten in der migrationspolitischen Debatte, den Wandel hin zu einem Fördern und Fordern, mit verbindlichen Leistungen von beiden Seiten.
Zuwanderung ist ein Kompliment für Deutschland. Wer unseren Staat und unser Land immer nur kritisch beäugt, kann nicht erwarten, dass Zuwanderer sich damit identifizieren. Die kurdischstämmige deutsche Journalistin Mely Kiyak hob in einem Beitrag für das Goethe-Institut hervor, sie habe keine Angst vor Worten wie Kultur, Nation und Deutsch. Diese Worte seien aus ihrer Sicht angefüllt mit vielem, was ihr gefällt, mit Goethe, Schiller oder Heine. Sie forderte uns auf, wieder deutlich selbstbewusster mit unseren Worten, unserer Sprache umzugehen.
Wir sollten dieses Kompliment an unser Land nicht entwerten, indem wir unsere Erwartungen an Zuwanderer auf ein Maß reduzieren, das diesen Menschen nichts mehr zutraut. Ich meine, wir sollten sie als freie und kluge Köpfe achten, die große Anstrengungen unternehmen, sich in unserer Gesellschaft einzubringen. Wir wollen sie dabei fördern, aber auch ganz klar etwas von ihnen fordern. Migranten müssen sich verbindlich in unsere Gesellschaft integrieren, sich mit ihr verbinden, und die Politik muss dafür den verbindlichen Rahmen setzen und die nötigen Hilfestellungen leisten.
Die FDP will die Chancen der Zuwanderung in den Mittelpunkt stellen. Dabei muss der Zusammenhalt der durch Zuwanderer bereicherten deutschen Gesellschaft im Zentrum stehen. Wer dauerhaft hier leben möchte, der muss die eigene Integration aktiv voranbringen und die gebotenen Chancen ergreifen.
Deutschland ist nach der hierzulande gesprochenen Sprache benannt. Es ist eine lebendige, eine aufnehmende und eine einnehmende Sprache. Auch deshalb ist die Kenntnis der deutschen Sprache unerlässliche Voraussetzung für die Integration. Sie zu lernen ist für alle Zuwanderer verpflichtend und eröffnet Chancen, und zwar nicht nur auf dem Arbeitsmarkt. Deutsch ist innerhalb der EU die größte Muttersprache. Weltweit sprechen es rund 110 Millionen Menschen. Im Internet ist Deutsch nach Englisch die am meisten benutzte Sprache. Bei Übersetzungen ist Deutsch die größte Ziel- und drittgrößte Quellsprache überhaupt. Die Integrationskurse sind das wichtigste Instrument von Bundesseite gerade für den Spracherwerb. Wir haben sie gestärkt und stehen zu diesem außerordentlich wichtigen Beitrag des Bundes. An der Zielgenauigkeit und Effizienz werden wir weiter arbeiten.
Die FDP will Sprachstandstests für alle Kinder im Alter von vier Jahren, damit sie alle die gleichen Chancen bekommen. Bei Bedarf sind eine gezielte Sprachförderung vor Eintritt in die Schule sowie darüber hinausgehende unterrichtsbegleitende Sprachprogramme notwendig.
In Deutschland gilt die Meinungs- und Religionsfreiheit. Dies ist fundamental für unsere Werteordnung,
und dazu gehört auch, Religionen kritisieren und karikieren zu dürfen. Religionsfreiheit ist kein Freibrief, sondern findet ihre Grenzen in anderen Grundrechten unserer Verfassung. Toleranz gegenüber religiösen Überzeugungen und Praktiken endet da, wo die freiheitlich-demokratische Grundordnung infrage gestellt wird oder Grundrechte verletzt werden. Vermeintlich religiöses Brauchtum oder Traditionen müssen kritisch hinterfragt werden, wo sie der Kultivierung von Werten dienen, die im Widerspruch zur Werteordnung des Grundgesetzes stehen. Das Bekenntnis zu einer Religion berechtigt nicht zur Aufhebung der Schulpflicht, berechtigt nicht zur Befreiung von ordentlichen Unterrichtsfächern wie Sport und Schwimmen oder zur Nichtteilnahme an Schullandheimaufenthalten.
Wenn heute der Islam, wie es Bundespräsident Wulff richtig sagte, zur Wirklichkeit der deutschen Gesellschaft gehört, so beruht doch das Wertefundament unserer Kultur und Rechtsordnung auf der griechischen und römischen Antike und auf der christlich-jüdischen Tradition. Wer sich dauerhaft in Deutschland niederlässt, akzeptiert das mit diesem Schritt. In Deutschland gilt die Gleichberechtigung der Frau, und das ist für alle hierzulande verbindlich.
Die Zwangsheirat etwa ist damit unvereinbar. Wir werden noch in diesem Jahr einen eigenständigen Straftatbestand zur Bekämpfung der Zwangsheirat einbringen.
Dabei müssen nicht nur die Täter bestraft, sondern auch die Opfer unterstützt werden, etwa indem wir die Hürden beim Rückkehrrecht für Zwangsverheiratete abbauen.
Zuwanderung nach Deutschland ist keine Zuwanderung in einen leeren Raum, sondern in eine in zwei Jahrtausenden gewachsene Kulturlandschaft. Als Sprach-, Rechts- und Wertegemeinschaft räumen wir Zuwanderern die Möglichkeit ein, diese Errungenschaften zu nutzen und zu teilen. Umgekehrt ist niemand gezwungen, in Deutschland zu leben, der das nicht will.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, schauen Sie bitte gelegentlich auf die Uhr.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Vielen Dank, das werde ich tun. - Wir können es erreichen, dass statt abgeschotteten Parallelgesellschaften eine Verbindung zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern entsteht. Die Koalition wird dieses durch Fördern und Fordern gestalten und so den Zusammenhalt unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft stärken.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Berliner Bürgermeister und Senator Harald Wolf.
Harald Wolf, Senator (Berlin):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Republik in den letzten Wochen eine intensive Diskussion über Integration, über Einwanderung geführt. Es war eine Diskussion, in der uns viele Beiträge nicht unbedingt klüger gemacht haben.
Das gilt zuallererst für meinen Exkollegen Sarrazin.
Wer eine ganze Bevölkerungsgruppe, wer eine ganze Religionsgemeinschaft für nicht integrationsfähig erklärt, wer sagt: ?Von denen sind zu viele hier, und die sind per se dümmer als die anderen?, der leistet keinen Beitrag zur Integration, der grenzt aus, der schürt dumme Ressentiments und rassistische Vorurteile, und das ist alles andere als das, was wir brauchen in diesem Land.
Ich sage aber auch - ich teile vieles von dem, was Sie gesagt haben, Herr Scholz -: Wenn eine Partei feststellt, dass es in ihrer Anhängerschaft Sympathien für diese Auffassung gibt
und sie dann in der Diskussion einen Schwerpunkt darauf legt, dass Integrationsverweigerung - das ist ja neuerdings das Wort - mit Sanktionen belegt werden muss, dann geht sie am eigentlichen Thema vorbei, nämlich an der Fragestellung: Was sind die Ursachen für die von ihr beklagte Abschottung, die es bei einzelnen Teilen der Migrationsbevölkerung in der Tat gibt? Das ist nämlich die Tatsache, dass diese Gesellschaft ihnen nicht gleiche Rechte, nicht gleiche Teilhabe gewährt und sie in dieser Gesellschaft nicht sozial partizipieren lässt. Da liegt die Ursache, und daran müssen wir arbeiten.
Meine Damen und Herren, wir brauchen in diesem Land ein Selbstverständnis darüber, dass wir Einwanderung wollen, dass wir eine positive Grundhaltung zur Einwanderung haben. Das ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir die Konflikte, die mit Einwanderung verbunden sind, bewältigen, diskutieren und austragen können.
Hier ist mehrfach das Stichwort Zwangsverheiratung gefallen. Natürlich ist dies etwas, was wir in Deutschland nicht akzeptieren können und was auch nicht akzeptabel ist; darin sind wir uns alle einig. Ich sage aber: Wir müssen auch darüber reden, was alles hinter deutschen Wänden geschieht, welche Gewalt gegen Frauen ausgeübt wird. Das ist ein gesellschaftliches Problem und nicht nur ein Migrationsproblem.
Ich bin froh, dass der Bundespräsident in seiner Rede eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen hat, um nicht zu sagen, eine Banalität, nämlich die Banalität, dass, wenn wir eine Vielzahl von Menschen haben, die eingewandert und islamischen Glaubens sind, die Bestandteil dieser Gesellschaft sind, damit auch der Islam Bestandteil dieser Gesellschaft ist. Das ist eine Banalität, meine Damen und Herren, und ich bin erstaunt darüber, dass es angesichts dessen jetzt wieder diese unsägliche Diskussion zum Beispiel in den Reihen der CDU/CSU über die Frage gibt, was denn die Leitkultur in Deutschland ist. Wenn man sagt, der Islam gehöre nicht zur Leitkultur, dann sagt man diesen Menschen, dass sie nicht zu uns gehörten. Genau das ist die Botschaft, die man auch wieder nicht braucht.
Vielmehr müssen wir klar sagen: Das, was hier Leitkultur ist, sind Demokratie und Menschenrechte und sonst nichts, keine Weltanschauungen und keine religiösen Auffassungen.
Ich habe schon mehrfach gesagt, dass wir eine Willkommenskultur gegenüber Einwanderern in diesem Land brauchen. Dies setzt natürlich auch voraus, dass wir die Immigrantinnen und Immigranten fördern. Sie haben in Ihrer Rede auch gesagt, Frau Böhmer, dass dies notwendig ist, und an den schönen Leitsatz erinnert, den wir auch aus anderen Bereichen kennen: Fördern und Fordern. Ich stelle allerdings fest, dass das Fordern deutlich stärker als das Fördern betont wird. Herr Scholz hat angesprochen, dass die Mittel für Integrationskurse und Deutschkurse nicht ausreichend sind. Teilweise konnten Maßnahmen in diesem Jahr wegen fehlender Mittel nicht durchgeführt werden. Deshalb sage ich: Es ist Integrationsverweigerung vonseiten der Bundesregierung, wenn hier keine ausreichenden Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Ich komme aus einem Bundesland, in dem über 40 Prozent der unter 18-Jährigen einen Migrationshintergrund haben. Wir können uns Integrationsverweigerung nicht leisten. Integration ist eine zentrale Zukunftsfrage für unsere Stadt: die Frage, wie wir den Menschen, die eingewandert sind, gleiche Teilhabe, gleiche Chancen in unserer Stadt geben können. Das geht allerdings nur mit entsprechenden Anstrengungen und Maßnahmen. Wir haben zum Beispiel in den letzten sechs Jahren große Fortschritte bei der Reduzierung der Anzahl der Jugendlichen mit Migrationshintergrund erzielt, die die Schule ohne Abschluss abgebrochen haben. Innerhalb von sechs Jahren konnte deren Anteil um 50 Prozent reduziert werden.
Er ist immer noch zu hoch; aber eine Reduktion um 50 Prozent zeigt: Wenn man sich den Menschen zuwendet, wenn man politische Maßnahmen ergreift, dann kann man auch die Abbrecherquote und das Bildungsversagen reduzieren.
Deshalb haben wir in den zwei Legislaturperioden, in denen diese Koalition in Berlin regiert, zwei Integrationskonzepte mit dem Motto aufgelegt: Vielfalt fördern, Zusammenhalt stärken. Das ist unser Motto in der Integrationspolitik. Dabei ist die Bildungspolitik eine Schlüsselfrage. Wir brauchen eine Veränderung der Institutionen in unserem Bildungssystem. Bildung darf nicht mehr ausgrenzend sein. Wir kommen auch hier, bei der Integrationspolitik, wieder zu diesem Thema. Wir brauchen ein Schulsystem, das nicht die Segregation fördert, das nicht die Kinder frühzeitig auseinandersortiert: nach Einkommen der Eltern, nach Herkunft, nach Nationalität und nach Religion, sondern wir brauchen ein integratives Schulsystem, in dem die Kinder möglichst lange gemeinsam lernen, damit sie auch voneinander lernen können und damit die Integration vorangetrieben werden kann.
Deshalb haben wir uns in Berlin dafür entschieden, die Hauptschule abzuschaffen. Die Hauptschule ist eine Restschule gewesen, in die frühzeitig diejenigen aussortiert worden sind, von denen man gesagt hat: Sie haben keine ausreichende Chance. - Es ist ein Verbrechen an den Kindern gewesen,
ihnen im frühesten Alter zu sagen: Ihr habt keine Perspektive mehr in dieser Gesellschaft.
Das war auch die Grundlage dafür, dass es zu Zuständen wie an der Rütli-Schule gekommen ist. Wir haben an der Rütli-Schule eine Vielzahl an Maßnahmen ergriffen. Sie ist heute eine Vorzeigeschule, an der es gute Bildungserfolge und gute Abschlüsse gibt.
Wir haben das Ganztagsangebot ausgebaut. Mit unserer Schulreform, bei der wir die Sekundarschule eingeführt haben, in der Haupt-, Real- und Gesamtschule zusammengefasst worden sind und die bis zum Abitur führen kann, haben wir ein verbindliches Ganztagsangebot geschaffen. Im Jahr 2011 werden alle Kitajahre gebührenfrei sein. Auch das ist eine wichtige Voraussetzung für Integration und dafür, dass alle in diesem Land die gleiche Chance haben.
Bildung ist das eine Thema, Arbeit ist das andere Thema. Das Stichwort Berufsabschlüsse ist schon angesprochen worden. Wir haben qualifizierte Menschen in diesem Land, die einen Berufsabschluss haben, die in diesem Beruf aber nicht arbeiten können. Das ist unter dem Gesichtspunkt der Integrationspolitik nicht akzeptabel. Es ist aber auch unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Zukunft dieses Landes nicht akzeptabel, dass man die Fähigkeiten, die Qualifikationen und die Talente Zehntausender Menschen ungenutzt lässt und sie da vom Arbeiten abhält, wo sie ihre Qualifikationen und ihre Fähigkeiten einbringen könnten.
Deshalb brauchen wir dringend die Regelung zur Anerkennung der Berufsabschlüsse.
Wenn Menschen mit einem ungesicherten Aufenthaltsstatus per Gesetz vom Arbeiten abgehalten werden, braucht man sich nicht zu wundern, dass Integration nicht funktioniert. Wir müssen für die Menschen, die dauerhaft hier leben, auch dann, wenn sie einen ungesicherten Aufenthaltsstatus haben, den gleichen Zugang zu Bildung und Arbeit gewährleisten. Das ist eine zentrale Voraussetzung für Integration und dafür, dass die Einwanderung in dieses Land gelingt.
Dazu gehört noch etwas, meine Damen und Herren: gleiche politische Rechte in diesem Land. Nur wer hier mitbestimmen kann, nur wer hier an politischen Entscheidungen gleichberechtigt mitwirken kann, wird sich auch mit diesem Gemeinwesen identifizieren können. Man kann doch nicht glauben, dass Menschen, die man vom Wahlrecht ausschließt, die politischen Entscheidungen, die ohne ihre Mitwirkung getroffen werden können, mit Begeisterung hinnehmen. Selbst von denen, die das Wahlrecht haben, werden nicht alle politischen Entscheidungen mit Begeisterung hingenommen.
Das heißt, wir brauchen eine Entwicklung, bei der wir den Menschen, die in dieses Land eingewandert sind, gleiche Teilhabe am politischen Geschehen ermöglichen.
Wir brauchen eine Öffnung aller gesellschaftlichen Institutionen. Wir brauchen mehr Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst. Wir müssen in den Unternehmen das Bewusstsein dafür schaffen, dass zu ihren Kunden auch Menschen mit Migrationshintergrund zählen, dass sich das auch in den Belegschaften und in den Führungsebenen widerspiegeln muss.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Wir haben gegenwärtig in der deutschen Medienlandschaft einen Migrationsanteil von 2 Prozent. Wenn wir der gesellschaftlichen Realität in diesem Land Rechnung tragen würden, müsste dieser Anteil fast zehnmal so hoch sein. Das zeigt, welche Aufgabe wir noch vor uns haben, um in der Integration weiter voranzukommen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist eine große Herausforderung, daran zu arbeiten, dass es soziale, kulturelle und ökonomische Teilhabe für alle Menschen, die in diesem Land leben, gibt. Für uns stellen Integration, gleichberechtigte Teilhabe und gleiche Chancen für Menschen, die in dieses Land eingewandert sind, eine zentrale Frage der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit dar. Hiermit sind neue Probleme verbunden, und hierdurch werden neue Fragen aufgeworfen; so besteht etwa ein erheblicher Veränderungsbedarf auch im Institutionensystem der Bundesrepublik Deutschland. Wir können nicht nur Veränderungen bei denen, die die hier eingewandert sind, verlangen; nein, diese Gesellschaft muss sich ändern, damit sie für Menschen mit Migrationshintergrund aufnahmefähig wird und ihnen gleiche Chancen eröffnet.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Memet Kilic ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Lagebericht der Integrationsbeauftragten ist zwar erneut ein profundes Nachschlagewerk, aber man fragt sich auch: Wie will die Bundesregierung die dargestellten Probleme lösen? Wofür steht diese Bundesregierung überhaupt? Diese Fragen drängen sich auf, auch und gerade nach der inzwischen fünfjährigen Amtszeit von Frau Dr. Böhmer. Das Fehlen notwendiger Schlussfolgerungen aus ihrem Lagebericht ist Ausdruck der Ideen- und Konzeptlosigkeit dieser Bundesregierung.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich Frau Dr. Böhmer nicht als Fürsprecherin von Migrantinnen und Migranten versteht, sondern vielmehr als Sprachrohr der konservativen Regierung. Besonders deutlich wird dies daran, dass gleichzeitig zu der anhaltenden Debatte über vermeintliche Integrationsverweigerer Kürzungen bei den Integrationskursen vorgenommen werden. Im Laufe dieses Jahres hat die Bundesregierung erhebliche Kürzungen bei den Integrationskursen durchgeführt. So wurde insbesondere die Kurszulassung von freiwilligen Teilnehmern eingeschränkt, was dazu führt, dass bereits heute 9 000 hochmotivierte Einwanderinnen und Einwanderer auf einen Kursplatz warten müssen. Bis zum Jahresende wird wegen der Einsparmaßnahmen der Bundesregierung voraussichtlich sogar 20 000 integrationswilligen Personen der Besuch von Deutschkursen verwehrt. Was haben Unionspolitiker dagegen getan? Gar nichts! Sie haben nichts Besseres zu tun, als aufgeregt über weitere Verschärfungen zu reden. Das ist ein falscher Weg. Das ist ein Irrweg. Das ist unverantwortlich.
Erstens wissen wir überhaupt nicht, wie viele Integrationsverweigerer es tatsächlich gibt. Nur 40 Prozent der Einwanderer sind zur Teilnahme verpflichtet; 60 Prozent besuchen die Integrationskurse freiwillig. Wie viele Einwanderer sich ihrer Teilnahmepflicht aus welchen Gründen entziehen, wird überhaupt nicht erfasst. Auf meine schriftliche Frage, wie die Zahl von 10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerer ermittelt wurde, bekam ich eine hilflos zusammengewürfelte Antwort mit Verweis auf verschiedenste Studien, die diese Aussage allerdings überhaupt nicht stützten. Die Studien sagen nichts über den Integrationswillen von Einwanderern aus und beziehen sich überhaupt nur auf bestimmte Teile der Einwanderer.
Zweitens gibt es bereits eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten. Sie reichen von Bußgeld über die Streichung von Sozialhilfe bis hin zur Ausweisung.
Solange die Zahl der Integrationsverweigerer unbekannt ist und die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten angeblich nicht genutzt werden, ist die Forderung nach weiteren Verschärfungen völlig absurd und mehr als ärgerlich. Denn die unseriösen Aussagen über integrationsunwillige Migranten prägen zu Unrecht ein negatives Bild von Einwanderinnen und Einwanderern. Das darf nicht sein. Unsere Mitmenschen haben das nicht verdient, meine Damen und Herren!
Nach jüngsten Umfragen haben 68 Prozent aller deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit unseren Migranten positive persönliche Erfahrungen gemacht. Das ist der beste Beweis dafür, dass entsprechende Phantomdebatten nur unserem Zusammenhalt schaden und das Klima vergiften können. Sie bringen nichts. Deshalb müssen wir diese Debatten wirklich unterlassen.
Auch in anderen Bereichen wie der Einbürgerung und der Bildung, dem Kernstück einer erfolgreichen Integrationspolitik, offenbart der Lagebericht den Reformunwillen der Bundesregierung und die Untätigkeit der Integrationsbeauftragten. Die ohnehin niedrigen Einbürgerungszahlen sind seit 2004 um rund ein Fünftel eingebrochen. In Ihrem Lagebericht findet sich kein Wort dazu, inwiefern das Ausklammern des Themas Einbürgerung bei den Integrationsgipfeln, die Verschärfung bei den Einbürgerungsmöglichkeiten oder das ideologische Festhalten an der Vermeidung der Mehrstaatigkeit zu dieser Entwicklung beigetragen haben, und kein Vorschlag dazu, wie die Integrationsbeauftragte gegensteuern möchte. Keine Meinung, keine Ahnung, kein Konzept - so sieht es aus!
Der Lagebericht enthält auch keine Vorschläge zu Strukturänderungen und keine Empfehlungen an die Bundesländer für den Bildungsbereich. Nach wie vor verlassen Jugendliche mit Migrationshintergrund die Schule annähernd doppelt so häufig ohne Abschluss wie die ohne Migrationshintergrund. Was sind also die Versprechungen der Bundesregierung auf den diversen Integrations- und Bildungsgipfeln wert?
Wir brauchen ein neues Bildungssystem, das Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft dabei fördert, die Schule bis zum Abitur zu besuchen. Das Dreiklassenschulsystem aus dem 19. Jahrhundert bewirkt mit seiner sozialen Selektion genau das Gegenteil. Neunjährige Kinder haben Zukunftsängste, weil sie nicht wissen, bei welcher Schulart sie landen. Wenn sie auf der Hauptschule landen, wissen sie, dass sie auf das Abstellgleis gestellt worden sind. Das kann nicht die Zukunft unserer Republik sein. Wir müssen dieses Schulsystem reformieren.
Wer sich jedoch wie die Bundesregierung hartnäckig weigert, hier ein Problem der strukturellen Diskriminierung zu erkennen, ist auch nicht in der Lage, adäquate Lösungsvorschläge zu entwickeln.
Sehr geehrte Frau Böhmer, es ist nicht sachgemäß, die Integration auf Sprachkenntnisse zu reduzieren. Integration ist Teilhabe. Wir müssen erklären, was wir mit den jungen Menschen machen, die bereits sehr gut Deutsch können. Die Migrantenkinder der dritten Generation haben ein Studium an einer der Universitäten dieses Landes absolviert, sind aber oft nur gut genug, um Taxi zu fahren.
Wir müssen erklären, warum in unserem öffentlichen Dienst so wenige Migrantenkinder beschäftigt sind. Die größte Parallelgesellschaft in unserem Land ist der öffentliche Dienst;
das muss sich ändern.
Frau Dr. Böhmer hat zwar eine Migrantenquote von 20 Prozent im öffentlichen Dienst gefordert; aber ihren schönen Worten folgen keine Taten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, bitte werfen Sie einen Blick auf die Uhr.
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Gerne. - Die populistischen Grabenkämpfe zwischen ?uns? und ?denen? helfen uns wirklich nicht; eine Stigmatisierung ist nicht hilfreich. Deshalb meine ich: Wir müssen ein Wirgefühl entwickeln. Dies ist unser Land; wir Einwanderer und unsere Nachkommen lieben unser Land Deutschland. Wir werden unsere freiheitliche demokratische Grundordnung mit verteidigen. Wir werden unser Land Hand in Hand zu einem besseren Deutschland machen, in einem besseren Europa und einer besseren, friedlicheren Welt; das ist unser Anspruch, unser Traum.
Vielen herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier.
Volker Bouffier, Ministerpräsident (Hessen):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die hessische Landesregierung hat dem Thema der Integration seit über zehn Jahren eine besonders wichtige Rolle zugewiesen.
Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass unsere Politik bundesweite Anerkennung erfahren hat.
Ich möchte deshalb in dieser Debatte einige Bemerkungen machen; sie werden sich unter anderem von dem, was Sie, Herr Senator Wolf aus Berlin, dazu ausgeführt haben, deutlich unterscheiden.
Wir haben als Erste in Deutschland auf Landesebene einen Integrationsbeirat geschaffen. Wir waren die Ersten in Deutschland, die Deutschkurse vor der Einschulung für alle Kinder verbindlich eingeführt haben. Wir waren die Ersten, die - sehr präzise - Einbürgerungskurse gefordert haben. Herr Kollege Scholz, ich kann mich sehr gut erinnern, dass diese Forderung damals heftigst umstritten war, nicht zuletzt bei SPD und Grünen. Heute ist das in Deutschland Allgemeingut. Das ist gut so. Deshalb können wir zunächst gemeinsam feststellen: Wir sind weitergekommen,
nicht zuletzt deshalb, weil manche von Illusionen Abschied genommen haben.
Überhaupt möchte ich feststellen, dass wir in Deutschland die Herausforderungen der Integration besser bewältigt haben als manche unserer Nachbarländer.
Diese Erfolge sind auch das Ergebnis der Arbeit der Bundesregierung
und insbesondere der Beauftragten Frau Staatsministerin Böhmer. Ihnen möchte ich für Ihre Arbeit herzlich danken.
Lieber Kollege Scholz, Ihre Bemerkung war durchaus interessant, aber sie war falsch. Es war nicht die rot-grüne Bundesregierung, sondern die Bundesregierung, die von Angela Merkel geführt wurde, die den Nationalen Integrationsplan, den Integrationsgipfel und die Islam-Konferenz eingeführt hat. Dies hätten Sie auch alles tun können. Warum Sie es nicht getan haben, weiß ich nicht.
Dass es eine christdemokratisch geführte Bundesregierung war, die dies eingeführt hat, erwähne ich heute mit Dankbarkeit und mit Stolz.
Der vorgelegte Bericht ist Zeugnis vielfältiger Initiativen und Aktivitäten. Er bietet eine Fülle von Informationen. Er zeigt Erfolge auf, und er weist auf Defizite hin. Wenn wir die Debatte offen und gründlich führen wollen, müssen wir alle zugeben, dass wir bei der Integration an vielen Stellen noch am Anfang stehen.
Nicht zuletzt die heftigen Debatten der letzten Wochen haben uns gezeigt, wie groß die Herausforderungen auf diesem Wege noch sind.
Viele Menschen in unserem Land empfinden das sichtbare Ausbreiten fremder Kulturen nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung ihrer Identität. Nicht selten haben die Menschen das Gefühl, dass die Politik ihre Sorge nicht ernst nehme,
dass falsch verstandene Political Correctness dafür sorge, dass man über diese Themen am besten nicht spreche.
Nur so kann man sich die massive Wirkung der Thesen eines ehemaligen Vorstandsmitglieds der Deutschen Bundesbank erklären. Es ist deshalb unsere gemeinsame Pflicht, diese Sorgen aufzunehmen und bei den Bürgern das verlorengegangene Vertrauen wiederzuerwerben. Es ist gut, dass wir diese Debatte engagiert und gründlich führen. Ein Klima des Misstrauens kann weder für die angestammte Bevölkerung noch für die Zuwanderer jene Grundlage schaffen, die wir für gelungene Integration brauchen.
Wir müssen diese Debatte offen, ohne Scheuklappen und ohne Schaum vor dem Mund führen.
Wir müssen klar sagen: Gelungene Integration wird länger brauchen, als viele dachten, sie wird schwieriger sein, als sich viele erhofften, und sie wird von uns allen mehr Kraft einfordern, als die meisten glauben. Sie wird und sie kann nur gelingen, wenn wir die Diskussion darüber engagiert und sachlich zugleich führen, mit Sorgfalt in der Sprache, mit Klarheit in der Sache und in gegenseitigem Respekt.
Frau Professor Böhmer hat recht - das haben alle Redner eingeräumt -: Es ist eine Schlüsselfrage für unser Land, wie es uns gelingt, vom Nebeneinander, vom gelegentlichen Gegeneinander zu einem echten Miteinander zu kommen, um gemeinsam die Grundlagen für Erfolg und für friedliche Entwicklung für alle Seiten zu legen.
Wenn das die Aufgabe ist - darauf müssten wir uns gemeinsam verständigen können -, dann wird uns dies nicht gelingen ohne einen Kompass, der uns anzeigt, wie und wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln soll.
In diesem Zusammenhang ist oft und aus meiner Sicht häufig sehr verkrampft auf den Begriff der Leitkultur verwiesen worden. Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, dass der Weg in eine gemeinsame Zukunft Leitplanken braucht, wenn er nicht zum Irrweg werden soll. Deshalb: Wir haben eine Leitkultur. Zu dieser Leitkultur gehört vor allen Dingen die Trennung von Staat und Kirche.
Sie ist das Gegenmodell zur islamischen Scharia. Daraus folgt zwingend, dass die Scharia nicht die Grundlage einer gelungenen Integration in unserem Land sein kann.
Wir brauchen die Herausbildung eines Islams, den Bassam Tibi schon vor etlichen Jahren als europäischen Islam bezeichnete. Es muss uns gelingen, islamgläubigen Menschen in unserem Land durch islamische Autoritäten ein Religionsverständnis zu vermitteln, das ihre Treue zu ihrer Religion mit den Anforderungen eines säkularen Staates des 21. Jahrhunderts versöhnt. Die Politik allein kann das nicht erreichen. Wir können aber helfen, Entwicklungen zu fördern, indem wir zum Beispiel islamische Theologen an unseren Hochschulen ausbilden. Wir müssen hier in Deutschland Religionslehrer ausbilden, die Deutsch sprechen, mit diesem Land vertraut sind und sich als Teil dieser Gesellschaft verstehen.
Wenn wir über die Voraussetzungen einer gelungenen Integration sprechen, müssen wir auch anerkennen, dass die vielen Menschen islamischen Glaubens zu diesem Land gehören. Dies gilt übrigens auch für die nicht wenigen Bürgerinnen und Bürger, die bewusst keine religiöse Bindung haben. Sie alle gehören zu unserem Land und sind Teil unserer Gesellschaft.
Wenn man nach einem Weg sucht, sehr verehrte Frau Künast, die Zukunft gemeinsam zu gestalten, dann ist es wichtig, dass wir uns über unsere Identität im Klaren sind. Die Grundlagen unserer Gesellschaft und unseres Staatsverständnisses sind die christlich-abendländische Tradition, ihre Kultur und die Aufklärung.
Diese Grundlagen müssen auch in Zukunft gelten. Sie müssen das Fundament unserer Gesellschaft bleiben. Wir würden viel verlieren und nichts gewinnen - das gilt insbesondere für den Respekt der Zuwanderer -, wenn wir diese Leitplanken aufgeben. Das bedeutet konkret: Wir dürfen erwarten, dass Menschen, die sich freiwillig entschieden haben, hier zu leben, dieses Land mit seinen Gesetzen und Lebensweisen achten.
Wir dürfen erwarten, dass sie zum Wohlstand des Landes, von dem sie sich ein besseres Leben erhoffen, beitragen, und sich nicht von dessen Bewohnern abgrenzen. Wir müssen erwarten, dass sie selbst ein Teil dieser Gesellschaft werden wollen. Sie müssen ihre Herkunft und ihre Religion nicht verleugnen. Sie sollen aber auch nicht beabsichtigen, der angestammten Bevölkerung ihre Religion und Kultur aufzudrängen.
Als aufnehmende Gesellschaft können wir Wege weisen und Hilfe anbieten. Wir können den Zuwanderern aber nicht die Verantwortung für ihr Leben abnehmen. Zu dieser Verantwortung - darauf könnten wir uns wahrscheinlich alle gemeinsam verständigen - muss es doch gehören, die Landessprache zu lernen und die Kinder in Kindergärten und Schulen zu schicken.
Im Hinblick auf unsere Integrationspolitik setzen wir hohe Maßstäbe. Um es mit den Worten von Max Frisch zu sagen: Wir wollen denen, denen die Heimat zur Fremde, die Fremde aber nicht zur Heimat geworden ist, eine Heimat geben. Wer sich in der Fremde immer wie ein Fremder verhält, wird fremd bleiben und diese Heimat nicht finden. Heimat wird hier nur der finden, der diese Heimat annimmt und sich auch klar zu diesem Land bekennt.
Herr Kollege Kilic, das ist ein offenes und faires Angebot. Es sind klare Leitplanken, die besagen, wie eine Zukunft aussehen soll, und zwar gestützt auf die Erkenntnisse, die wir dem vorgelegten Bericht entnehmen können. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass diese Debatte intensiv weitergeführt wird und über die Schlagzeilen des Tages hinaus wirkt. Ich wünsche der Bundesregierung und vor allem auch Ihnen, Frau Professor Böhmer, für Ihre Arbeit viel Erfolg. Die hessische Landesregierung wird Sie auch in Zukunft engagiert unterstützen.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
Rüdiger Veit (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Punkt beginnen, über den ich mit meinem unmittelbaren Vorredner einer Meinung bin: Auch wir möchten Frau Professor Böhmer und all ihren Mitarbeitern - denen, die hier sind, und auch denen, die das jetzt im Fernsehen verfolgen - ganz herzlich für die herausragende und wirklich gewichtige Arbeit danken. Es ist schon gesagt worden, dass es sich um ein recht profundes Datenmaterial handelt. Ich teile - das liegt in der Natur der Sache - nicht alle Schlussfolgerungen, aber doch manche.
Wenn meine Redezeit dafür reicht, komme ich vielleicht auf das eine oder andere zurück.
Es gibt mindestens zwei aktuelle Ereignisse, deretwegen mehr oder weniger aufgeregt, mehr oder weniger gehaltvoll und mehr oder weniger erkenntnisreich über Integration gesprochen wird. Ein Grund - Frau Professor Böhmer hat das Thema eingebracht - sind die Thesen von Herrn Sarrazin. Herr Bürgermeister und Senator Wolf, wir Sozialdemokraten können mit diesem Problem umgehen und benötigen keine hilfreiche Unterstützung, auch nicht von Ihnen.
Zu den Thesen von Herrn Sarrazin hatte ich übrigens schon vor Veröffentlichung dieses Buches eine außerordentlich kritische Haltung. Ich darf an den Pullover für Hartz-IV-Empfänger und die Verköstigung von armen Kindern erinnern.
Es gibt eine weitere aktuelle Begebenheit, die der Grund dafür ist, dass insbesondere in den Reihen der CDU/CSU aufgeregt über Integration und Religion diskutiert wird. Ich will mich jetzt nicht nur mit dem Thema Religion auseinandersetzen, aber man kann es heutzutage kaum ausklammern - das haben auch meine Vorredner nicht getan -, wenn es um den Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland geht. Da 45 Prozent aller Muslime in Deutschland längst deutsche Staatsbürger sind, trifft sie diese Diskussion nicht, aber die anderen vielleicht. Da ich selten das Vergnügen habe, den Herrn Bundespräsidenten oder die Frau Bundeskanzlerin gegenüber ihren eigenen Parteifreunden in Schutz zu nehmen, kann ich es mir heute nicht verkneifen, zu sagen: Ich persönlich bin der Auffassung, dass das, was Herr Wulff in der Tradition der Äußerungen von Herrn Schäuble zu dem Thema gesagt hat, eine Selbstverständlichkeit ist. Bei dieser Gelegenheit darf ich vielleicht in unser aller Namen die besten Genesungswünsche an das Krankenbett von Wolfgang Schäuble übermitteln.
Das, was der Bundespräsident zum Thema Islam gesagt hat, musste von der Bundeskanzlerin, wenn die Zeitungen das richtig wiedergegeben haben, in der CDU/CSU-Fraktion erst einmal interpretiert werden. Sie hat gesagt, das bedeute natürlich nicht, dass der Islam das Fundament des kulturellen Verständnisses Deutschlands sei. Das hat der Bundespräsident wohl in der Tat nicht sagen wollen. Da er nur auf ein selbstverständliches Faktum hingewiesen hat, ist die Aufregung in der Union für mich nicht verständlich. Ich denke an die Äußerungen von Herrn Geis, Herrn Friedrich, Hans-Peter Uhl und - diesbezüglich grenze ich mich ab - von Herrn Buschkowsky aus unseren Reihen. Ich wünsche mir nicht, dass Sie uns eines Tages bezichtigen, die Äußerungen des Bundespräsidenten uminterpretiert zu haben, weil er etwas gesagt hat, das Sie nicht für gut und richtig halten.
Bevor ich zum sogenannten Ausländerbericht komme, muss ich eine andere wichtige Klarstellung anbringen, und zwar zur Rede meines Vorredners, Volker Bouffier: Bei aller Verbundenheit über nunmehr 30 Jahre darf ich auf einen heftigen Gegensatz hinweisen. Ich wäre bis zum heutigen Tage nicht auf die Idee gekommen, ausgerechnet die hessische CDU dafür zu loben, dass sie seit Jahrzehnten Politik im Zeichen der Integration macht.
Ihr habt in der Tat Nachholbedarf. Dein von mir persönlich wesentlich weniger geschätzter unmittelbarer Amtsvorgänger kam, wenn ich mich richtig erinnere, im Landtagswahlkampf 1998/99 kurz vor Weihnachten auf die Idee, in jeder Hinsicht gegen die doppelte Staatsbürgerschaft
mobil zu machen, weil er glaubte, dass nur noch dadurch das Ruder herumzureißen sei und die Wähler nur durch eine Kampagne gegen Ausländer zu mobilisieren seien. Das war nicht besonders integrationsfreundlich. Das war das genaue Gegenteil.
Ich erinnere mich nicht nur sehr gut daran, dass es im Winter 2008 ekelhaft kalt war - das war der schlimmste Straßenwahlkampf überhaupt -, sondern auch daran, dass damals wiederum dein von mir nicht so sehr geschätzter Amtsvorgänger am Beispiel krimineller jugendlicher Ausländer versucht hat, Wählerstimmen zu fangen. Dabei ist er vom Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Land Hessen, Christean Wagner, noch getoppt worden. In den letzten 14 Tagen dieses Wahlkampfs haben die beiden, wenn ich das richtig beobachtet habe, überwiegend gegen sich selbst und ihre eigenen Äußerungen Wahlkampf geführt. Das war vielleicht der Unterschied zu 1999.
Ich möchte im Rahmen der kurzen mir noch zur Verfügung stehenden Redezeit noch auf etwas hinweisen. Passen Sie bitte in der Debatte jetzt und in Zukunft auf, dass es nicht ausgerechnet die Union ist - und jetzt manchmal auch die FDP -, die sich anhand einer ganzen Reihe von Beispielen folgenden Vorwurf, wie ich finde, noch einmal deutlich anhören muss: Seit nunmehr über zwölf Jahren - ich habe das miterlebt, gelegentlich mitgestaltet, manchmal sogar auch mit gelitten - hat ausgerechnet die Union zu rot-grünen Zeiten und als Koalitionspartner in der Großen Koalition entweder hier oder im Bundesrat, den wir praktisch für jede Gesetzesänderung auf diesem Gebiet brauchen - ausgenommen Integrationskurse; da sind Sie nach dem Motto ?learning by doing? vom Grundsatz her jetzt ganz gut dabei -, verhindert, was wir umsetzen wollten.
Sie reklamieren die Integrationskurse jetzt für sich; das ist gut. Wir haben sie gegen Ihren Widerstand durchgesetzt. Wir haben damals die Staatsbürgerschaftsreform nur um den Preis bekommen, dass wir das Verbot der Hinnahme von Mehrstaatlichkeit in das Gesetz geschrieben haben, was nicht gerade rauschenden Erfolg hatte. Das sieht man, wenn man die Einbürgerungszahlen betrachtet.
Sie waren es, die bei der Abschaffung von Duldung und Kettenduldung blockiert haben, und zwar mit dem Erfolg, dass wir uns noch heute über Bleiberechtsregelungen und die Frage, inwieweit diese Duldungen und Kettenduldungen in der Tat Integrationshemmnisse sind, intensiv Gedanken machen müssen. Dazu gibt es übrigens interessante Ausführungen in dem Bericht - ich habe keine Zeit, es vorzulesen - auf den Seiten 483 ff.
Sie haben erst jetzt entdeckt - spät ist vielleicht noch nicht zu spät -, dass man bei der Gewährung der elementarsten Menschenrechte für hier in Deutschland illegal lebende Menschen vielleicht ein bisschen nachbessern muss, zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob man mit den bestehenden Übermittlungspflichten nicht eine angemessene gesundheitliche Versorgung gerade von Kindern oder den Schulbesuch verhindert. Sie sind es gewesen, die jetzt erst - das war uns in der Großen Koalition leider nicht vergönnt - erkannt haben, dass wir ein erweitertes Rückkehrrecht der Opfer von Zwangsheirat haben müssen.
Sie sind es übrigens bis zum heutigen Tage, die im Bereich des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehörige hier in Deutschland heftig auf der Bremse stehen, die das verhindern wollen, die sich stets und ständig dagegen aussprechen und hier auch dagegen stimmen. Sie sind es, denen wir das diskussionswürdige Problem hinsichtlich des Erwerbs vorheriger Sprachkenntnisse von Ehegatten im Ausland zu verdanken haben.
Schließlich und letztendlich: Sie haben zwar jetzt die Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention formal abgeschafft, aber Sie weigern sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass das entsprechende Veränderungen des Aufenthaltsrechtes bei der Frage der Handlungsfähigkeit von 16- bis 18-jährigen jungen Leuten hat.
Diese ganze Reihe - ich könnte sie beliebig fortsetzen; zwölf Jahre sind eine lange Zeit - zeigt: Sie haben erheblichen Nachholbedarf, wenn es darum geht, durch gesetzliche Änderungen im Aufenthaltsrecht und im Staatsangehörigkeitsrecht die elementarsten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland überhaupt integrieren können.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Rüdiger Veit (SPD):
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Ich hoffe nicht, dass man im Ergebnis sagen muss und dass Sie sich dieses Prädikat anziehen wollen: Wir verweigern von staatlicher Seite die Integration dadurch, dass wir die elementarsten Voraussetzungen im Bereich des Rechtes, das unserer Beeinflussung unterliegt, nicht geschaffen haben. Deswegen hoffe ich, dass Sie im Lichte der jetzigen Debatte und dieses profunden Berichtes vielleicht zu anderen Erkenntnissen kommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das können Sie jetzt aber nicht im Einzelnen auflisten.
Rüdiger Veit (SPD):
Herr Präsident, diese Hoffnung wollte ich noch zum Ausdruck bringen.
Danke für Ihre Geduld.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Serkan Tören ist für die FDP-Fraktion der nächste Redner.
Serkan Tören (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wundere mich sehr, Herr Kollege Veit und Herr Kollege Scholz, über die Forderungen, die Sie zum Schluss Stück für Stück aufgezählt haben. Davon haben Sie unter Rot-Grün nie gesprochen, und Sie haben auch nichts davon umgesetzt.
Ich finde es sehr interessant, dass Sie jetzt, etwa ein Jahr seit Sie nicht mehr in Regierungsverantwortung sind, diese Forderungen aufstellen.
Das verstehen Sie unter Integrationspolitik. Übrigens, Herr Kollege Scholz, reden und nicht handeln, das kann man Ihnen vorwerfen. Welche Bilanz hatten Sie nach sieben Jahren? Nennen Sie mir eine einzige Maßnahme im Bereich der Integrationspolitik, die Sie durchgesetzt haben. Nennen Sie etwas, das uns weitergeholfen hat. Dazu findet sich nichts in Ihrer Bilanz, im Gegenteil: Sie sperren sich auch einer Diskussion, die wir jetzt benötigen. Herrn Buschkowsky hörten Sie meist gar nicht zu; Sie laden ihn jetzt ein, wo es Ihnen genehm ist. Jahrelang war er für Sie gar nicht sichtbar; auch das muss man einmal feststellen. Erst jetzt, da es Ihnen genehm ist, fangen Sie an, Herrn Buschkowsky zu zitieren oder in Fernsehsendungen einzuladen. Entschuldigen Sie, aber das verstehe ich nicht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Kollege Tören, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Serkan Tören (FDP):
Ja, gerne.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Tören, Sie sind ja neu im Hohen Hause. Wären Sie vielleicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, das wegen der Neinstimmen aus dem Lager von Union und FDP leider zwei Anläufe brauchte, das erste Ausländerrecht war, in dem Integrationskurse für Neuzuwanderer verbindlich festgelegt wurden - es war ein Rechtsanspruch und eine Pflicht für die Zuwanderer, innerhalb von zwei Jahren von diesem Rechtsanspruch Gebrauch zu machen -, dass wir unter den vorherigen schwarz-gelben Koalitionen jahrzehntelang ein Ausländerrecht hatten, in dem die Integration in keiner Weise geregelt war, und dass wir die gesamte Debatte um nachholende Integration nicht führen müssten, wenn wir das, was wir im Zuwanderungsgesetz beschlossen haben, 30 Jahre früher beschlossen hätten, weil wir die Probleme, über die wir heute reden, dann gar nicht erst bekommen hätten?
Damals war es Ihre sogenannte bürgerliche Mehrheit, die sich verweigert hat, zu akzeptieren, dass Zuwanderung stattfindet. Sie haben von Gastarbeitern, die wieder gehen, gesprochen und der Bevölkerung Sand in die Augen gestreut,
statt sich von Anfang an mit dem Thema Integration zu befassen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Beck, Sie wollten eine Zwischenfrage stellen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja. Das habe ich auch getan.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ach so. Das war mir nicht aufgefallen. Deswegen habe ich nur daran erinnern wollen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es kam ein Fragezeichen. Ich werde es Ihnen im Protokoll zeigen.
Serkan Tören (FDP):
Herr Kollege Beck, ich merke schon: Die Kritik, die ich gerade geäußert habe, schmerzt Sie. Das, was ich gesagt habe, scheint wohl richtig zu sein.
Keine der Maßnahmen, die Herr Veit vorhin genannt hat, haben Sie umgesetzt; das muss man einmal feststellen.
?Warum Deutschland an der Integration scheiterte?, so titelte vor ein paar Wochen ein großes deutsches Nachrichtenmagazin. Ich sage Ihnen ganz offen: Als Bürger mit Migrationshintergrund, wie es so schön heißt, und Innenpolitiker halte ich diesen Titel für verfehlt.
Es ist doch mittlerweile Konsens: Wir haben jahrzehntelang versäumt, eine aktive und gestaltende Zuwanderungspolitik zu machen. Integration passiert nicht einfach so. Integration muss begleitet, gefördert und - das sage ich ganz klar - auch eingefordert werden.
Die Versäumnisse sind Mahnung und Begründung für viele der heutigen Herausforderungen in der Integrationspolitik, nicht mehr und nicht weniger. Ewiges Lamentieren und rückwärtsgewandte Debatten bringen uns nicht weiter.
- Genau.
Anders als einige Menschen, die Tabubauer und -brecher in Personalunion sind, erlebe ich eine sehr offene Debatte um die Integrationsprobleme in Deutschland. Das ist auch gut so. Denn harte Auseinandersetzungen gehören zur Streitkultur in einer demokratischen Einwanderungsgesellschaft; es wird mit harten Bandagen und Emotionalität diskutiert. Aber auch hier gilt: Grenzen einhalten und Spielregeln beachten! Die Grenze ist da, wo Menschen einfach nur diffamiert und ausgegrenzt werden. Es ist mühsam und nicht immer einfach, das durchzuhalten. Aber wir müssen mehr Pragmatismus und Differenzierung in die Debatte bringen; das ist ganz wichtig. Pauschal von den Integrationsproblemen der Ausländer oder der Muslime zu sprechen, bringt uns nicht weiter. Ich bin der Integrationsbeauftragten aufgrund ihres Engagements und der regelmäßigen Publikationen für die sehr differenzierte Auseinandersetzung mit den sehr unterschiedlichen Lagen der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland sehr dankbar.
Meine verehrten Damen und Herren, zur Wahrheit gehört: Wir haben bereits viele wichtige Antworten gegeben und Erfolge vorzuweisen; zu nennen sind insbesondere die Integrationskurse. Es ist nicht richtig, dass wir an dieser Stelle gekürzt haben - das stimmt nicht -, sondern wir haben die Mittel sogar erhöht.
Ich sage an dieser Stelle ganz offen: Natürlich gibt es noch Verbesserungsbedarf; die Baustellen sind uns bekannt. Dennoch: Die Integrationskurse sind eine Erfolgsgeschichte. Seit 2005 haben mehr als 600 000 Migranten an einem solchen Kurs teilgenommen; weit mehr als die Hälfte davon waren Freiwillige. Das ist eine tolle Bilanz. Diese Erfolgsgeschichte wird weitergehen. Trotz angespannter Haushaltslage werden wir hierfür 2011 einen Betrag von 218 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Das ist ein klares Bekenntnis zur Integrationspolitik.
Ich möchte ein Thema ansprechen, dem wir uns wieder viel bewusster stellen müssen; die aktuelle Debatte um die Äußerungen unseres Bundespräsidenten zeigt diesen Bedarf deutlich. Es geht um die Fragen: Was wollen wir von unseren Zuwanderern verlangen? Was können Zuwanderer von uns erwarten? Es geht um Zielstellungen und um ein gemeinsames Leitbild. Diese sind unabdingbar für die Motivation von Migranten und insbesondere auch für unser Gemeinwesen. An dieser Stelle warne ich aber auch vor einer falsch verstandenen Toleranz. Sie ist in meinen Augen das andere Spektrum der unsachlichen Debatte.
Mitglieder von Migrantengruppen und ihre Nachkommen verdienen es, als Individuen gleichbehandelt zu werden. Ich sehe keinen Anlass, ein muslimisches Mädchen vor dem Gesetz anders zu behandeln als ein christliches oder jüdisches. Das gilt beispielsweise für den Schwimmunterricht, den gemeinsamen Sportunterricht oder für Klassenfahrten.
Wir dürfen uns nicht neutral verhalten und wegsehen, wenn Gruppierungen diese Prämissen nicht akzeptieren und mit Füßen treten. Dann haben diese Menschen in unserer Gesellschaft keinen Platz. Das müssen wir klarmachen.
Mit ?wir? meine ich alle, auch die Zugewanderten, die in der Mehrzahl ihren Platz in Deutschland gefunden haben.
Wir müssen uns die Frage stellen: Was kann oder was muss das verbindende Glied sein? Vielfältigkeit und Toleranz dürfen nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Ich denke, in diesem Saal besteht Einigkeit darüber, dass das Grundgesetz selbstverständlich die Richtschnur ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist nicht an der Integration gescheitert, und Deutschland wird auch nicht an der Integration scheitern. Integration ist ein gesellschaftlicher Prozess, der nicht irgendwann abgeschlossen sein wird, sondern stetig weitergeht. Wie erfolgreich er weiterhin verlaufen wird, hängt von vielen Faktoren ab.
Aber der nachhaltige Erfolg hängt vor allem von den Antworten auf folgende Fragen ab: Wie werden wir die im Grundgesetz formulierten Werte in die Praxis umsetzen und sie durchsetzen? Wie werden wir eine gemeinsame Identität jenseits von kulturellen Unterschieden schaffen können?
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende.
Serkan Tören (FDP):
Das ist die Herausforderung, der wir uns mit Offenheit und Selbstbewusstsein zugleich stellen werden.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich eben Frau Böhmer richtig verstanden habe, hatte sie gemeint, dass die Probleme, die bei der Integration von Ausländerinnen und Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland bestünden, Rot-Grün oder die Ausländer selbst verursacht hätten, indem sie sich nicht integrieren wollten. Sie sprachen von falsch verstandenem Multikulti. Ich sage Ihnen - das wurde eben schon vom Kollegen Veit angesprochen -, was das Hauptproblem der Integrationspolitik in diesem Lande ist: Erst unter Rot-Grün wurde zum ersten Mal Integrationspolitik in diesem Land gemacht.
Sie haben sich auch in dieser Zeit noch verweigert. Sie haben die Sprachkurse im Vermittlungsausschuss bekämpft.
Die Grünen und die SPD haben verpflichtende Deutschkurse für Ausländerinnen und Ausländer durchgesetzt. Sie wollten das Geld dafür nicht in die Hand nehmen. Sie haben gesagt, die Leute könnten doch zur Volkshochschule gehen. Sie bekämen schließlich Sozialhilfe und sollten die Kurse davon bezahlen.
Nun zur Zwangsheirat: Auch Sie, Herr Senator Wolf, haben gesagt, das sei nicht akzeptabel. - Zwangsheirat war in diesem Land noch nie legal. Wer über so etwas überhaupt nur nachdenkt, ist völlig neben unserem Rechtsverständnis.
Die rot-grüne Bundesregierung hatte das klargestellt und gesagt: Das ist selbstverständlich ein besonders schwerer Fall der Nötigung und mit bis zu fünf Jahren Gefängnis zu bestrafen. Jetzt sagen Sie: Das ist alles ?lirum larum dumdideldarum?;
wir machen einen eigenen Straftatbestand. Dann kann es mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. - Bis zu fünf Jahre Haft? Das ist ja eine grandiose Idee! Sie kommen jetzt mit fünf Jahren Haft; dabei wird es bis jetzt auch schon mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft.
Wir müssen etwas gegen Zwangsheirat machen; das ist klar. Es gibt Zwangsheiraten. Allein die Tatsache, dass sie strafbar sind, verhindert sie nicht. Aber wo ist denn da Ihr Konzept? Einen neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch einzuführen, wird keine einzige Zwangsheirat verhindern.
Jetzt zur Rede des Bundespräsidenten. Wenn ich höre, dass der Bundespräsident sagt, wir fußen natürlich auf der christlich-jüdischen Tradition, sage ich: Selbstverständlich, wer hat das Gegenteil behauptet?
Wenn er sagt, natürlich seien in diesem Land Millionen von Muslimen hinzugekommen, sie blieben auch und würden wohl nicht wieder auswandern, wer könnte ihm widersprechen? Da kann ich nur sagen: Ich halte das, was in der Union dazu gesagt wird, für völlig abwegig.
Kollege Kauder, der eben noch hier war, hat dazu ein Interview gegeben und gesagt: Zu dieser Rede sind ?erklärende Interpretationen notwendig geworden?.
Wie bitte? Zu was ist denn da eine Interpretation notwendig? - Er sagte:
Ein Islam, der die Scharia vertritt und in dessen Namen die Unterdrückung der Frau geschieht, kann nie und nimmer zu Deutschland gehören.
Der Maßstab für unser Zusammenleben ist das Grundgesetz, das auf unserem christlich-jüdischen Erbe beruht.
Ja, hallo? Wo sind wir denn hier?
Was hat denn der Bundespräsident gesagt? - Natürlich hat er nicht gesagt: Der Islam, der Frauen unterdrückt, gehört zu Deutschland, und wir sind froh, dass er da ist. - So ein dummes Geschwätz habe ich schon lange nicht mehr gehört.
Dazu sage ich - auch als Katholik -: Der Apostel Paulus hat gesagt, das Weib schweige in der Gemeinde. Dieser Aspekt des Christentums hat in unserem Grundgesetz auch nichts verloren - also, bitte schön.
Zusammenfassend kann ich nur sagen: Ich verlange von Ihnen, dass Sie sich beim Bundespräsidenten entschuldigen, dass Sie ihm zuhören, wenn er eine Rede hält, und dass Sie das friedliche Zusammenleben der Religionen in unserem Land nie mit solchen Reden - ich sage manchmal sogar fast ?Hetzreden? - stören.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun erhält der Kollege Stefan Müller das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Winkler, eines ist ja sehr beruhigend: Die Tatsache, dass Sie den Bundespräsidenten, den Sie nicht gewählt haben,
mittlerweile so gut finden, scheint ja Beleg dafür zu sein, dass Sie die Erkenntnis gewonnen haben, dass wir seinerzeit genau den richtigen Kandidaten aufgestellt und jetzt einen guten Bundespräsidenten haben.
Wir führen heute ja eine wichtige gesellschaftspolitische Debatte. Ich finde, diese Debatte ist hier im Haus besser aufgehoben als in irgendwelchen Talkshows oder bei Buchbesprechungen oder Lesungen. Hier im Parlament ist die Debatte über Integrationspolitik zu führen. Es ist gut, dass wir das heute Vormittag tun.
Durch den Integrationsbericht wird gezeigt: Die Bundesregierung nimmt die Integration ernst. Wir werden das fortsetzen, was in den letzten Jahren auch in der Großen Koalition auf den Weg gebracht worden ist, das heißt, auch die guten Initiativen der letzten Wahlperiode werden fortgesetzt.
Herr Kollege Scholz, ich schätze Sie ja. Leider sind Sie offensichtlich Opfer von temporärer Amnesie geworden. Anders lässt es sich nicht erklären, dass Sie heute überhaupt kein gutes Haar mehr an dem lassen, was wir in den vergangenen Jahren auch gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Ich finde, das kann sich in der Tat sehen lassen.
Erstens. Es haben drei Integrationsgipfel stattgefunden -
der vierte steht kurz bevor -, bei denen alle Akteure und alle am Thema Interessierten an einen Tisch gebracht und verbindliche Vereinbarungen getroffen worden sind.
Zweitens. 2007 wurden die Integrationskurse überarbeitet. Seitdem ist mehr Geld in die Hand genommen worden, und das Angebot an Integrations- und Deutschkursen wurde ausgebaut. Bisher haben über 600 000 Personen einen Integrationskurs absolviert, wovon übrigens zwei Drittel Frauen waren. Wenn man also überhaupt irgendetwas gemeinsam feststellen kann, dann doch die Tatsache, dass die Integrationskurse wirklich eine Erfolgsgeschichte und ein wesentliches Instrument erfolgreicher Integrationspolitik sind.
Wir haben auch dafür gesorgt, dass Sprachkenntnisse schon vor der Einreise erworben werden müssen, weil gerade für uns immer klar war, dass das Beherrschen der deutschen Sprache die Grundlage für erfolgreiche Integration und für gesellschaftliche Teilhabe ist. Hier kann ich Ihnen nur zurufen: Besser spät als nie. - Wir sind seinerzeit von Ihnen diffamiert worden. Von Zwangsgermanisierung war die Rede, als wir diese Forderung immer wieder erhoben haben. Insofern: Danke schön für diese Einsicht.
Nun kommt die Nörgelei der Opposition ja nicht wirklich überraschend. Sie kann damit aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Integrationspolitik Erfolge gibt und dass Erfolge sichtbar sind. Zum Beispiel haben junge Migranten ihren Rückstand aufgeholt, wenn es darum geht, Schulabschlüsse zu erwerben. Heute erwerben mehr junge Migranten einen weiterführenden Schulabschluss. Sie besuchen häufiger weiterführende Schulen und absolvieren in zunehmendem Maße ein Hochschulstudium. Die Erfolge sind auch nachgewiesen. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration hat erst vor wenigen Wochen sein Jahresgutachten 2010 vorgelegt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Integration in Deutschland besser gelingt, als es zum Teil in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, und vor allem auch besser als in vielen unserer europäischen Nachbarländer.
Ich finde, das ist ein Erfolg, auf den wir durchaus gemeinsam stolz sein können. Auch so etwas muss in einer solchen Debatte angesprochen werden.
Angesprochen werden muss aber auch die Tatsache, dass es in der Integration auch Probleme gibt - das wird niemand bestreiten -: Zum einen ist die Arbeitslosenquote von Migranten immer noch doppelt so hoch wie die der deutschen Bevölkerung. Das ist in zweierlei Hinsicht ein Problem, weil erstens mit Arbeitslosigkeit immer ein größeres Armutsrisiko einhergeht und zweitens Arbeit mehr bedeutet als den Erwerb von Einkommen. Eine Arbeitsstelle bedeutet nämlich auch gesellschaftliche Teilhabe, und diese führt letztlich zur Integration.
Deswegen ist es wichtig, dass wir mit der Anerkennung der im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse in Deutschland vorankommen. Das Potenzial, das es in Deutschland gibt, muss auch gehoben werden. Derzeit können nämlich viele Migranten nicht in dem Maße beschäftigt werden, wie es ihrer Berufsausbildung entspricht. Deswegen wird unsere Koalition dieses Thema angehen.
Zum anderen ist auch im Bereich Schule und Ausbildung bei allen Erfolgen, die erzielt wurden, nicht zu bestreiten, dass wir noch nicht dort angekommen sind, wo wir hinwollen. Was die Tatsache angeht, dass immer noch zu viele junge Migranten die Schule ohne Schulabschluss verlassen, sind selbstverständlich die Länder in der Pflicht, entsprechend gegenzusteuern. Dabei muss der Bund mithelfen, wo er dies kann.
Bei allen Problemen, die es gibt, muss man aber auch eines feststellen: Integration braucht einen langen Atem. Was in der Vergangenheit nicht rechtzeitig angegangen worden ist, lässt sich nun einmal nicht in fünf Jahren aufholen. Aber wir sind - das zeigen auch alle Stellungnahmen und Gutachten - an dieser Stelle auf einem guten Weg.
Integration braucht aber auch Konsequenz und Verbindlichkeit. Das heißt: Geltendes Recht muss auch angewandt werden. Wenn es in Deutschland nachweislich Fälle von Integrationsverweigerung gibt und jemand, der staatliche Fürsorgeleistungen bekommt und im Rahmen seiner Eingliederungsvereinbarung aufgefordert ist, einen Integrationskurs zu besuchen, dies nicht tut, dann können schon heute Sanktionen verhängt und Regelleistungen gekürzt werden. Ich finde, dieses Recht muss durchgesetzt werden. Es gibt ein Vollzugsproblem; auch das müssen wir ohne Zweifel angehen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, bitte achten auch Sie auf die Zeit.
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Ja. - Zusammenfassend kann man feststellen, dass in Deutschland in der Integrationspolitik leider zu viel über Defizite und zu wenig über Erfolge geredet wird
und dass Integration besser gelingt, als dies zum Teil in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Man darf aber trotzdem vor den Ängsten und Sorgen in der Bevölkerung nicht die Augen verschließen. Wir müssen gegen Missstände vorgehen. Diese Koalition wird diese Aufgabe mutig angehen. Ihre Unterstützung würde uns selbstverständlich freuen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Daniela Kolbe ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist überall im Hause angekommen: Deutschland ist ein buntes und vielfältiges Land mit Millionen von unterschiedlichen Geschichten. Eine dieser Geschichten ist die von Ardalan, um die 40, aus Leipzig. Er ist Lehrer für Physik und Mathematik. In den 90er-Jahren ist er als Flüchtling aus dem Irak nach Deutschland gekommen.
Er darf in Deutschland nicht als Lehrer arbeiten. Sein Diplom wurde nicht anerkannt. Darum hat er eine Ausbildung zum Techniker gemacht und sich nach erfolgreichem Abschluss um Arbeit bemüht, leider erfolglos. Heute arbeitet er als Fahrscheinkontrolleur bei den örtlichen Verkehrsbetrieben.
Wenn Ardalan seine Geschichte erzählt, dann tut er das in einem charmanten breiten Sächsisch mit leichtem Akzent. Die Freunde, die ihm damals Deutsch beigebracht haben, waren eben waschechte Sachsen. Sprachkurse für Zuwanderer waren damals noch nicht vorgesehen.
Ardalan ist, wie ich finde, ein sehr gutes Beispiel für gelungene Integration. Er ist in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integriert. Er beherrscht die deutsche Sprache, engagiert sich in Vereinen für seinen Stadtteil und darüber hinaus in einer großen demokratischen Partei. Das sind auch die drei großen Themen, wenn wir über Integration sprechen: Arbeit, Sprache, soziale Teilhabe. Dass wir in allen drei Bereichen noch riesigen Handlungsbedarf haben, sieht man auch an einem positiven Beispiel wie dem von Ardalan.
Beispiel Sprache. Es war erst die rot-grüne Koalition, die 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz endlich Integrationskurse eingeführt hat, ein probates Mittel, um erwachsenen Migrantinnen und Migranten den Erwerb der deutschen Sprache zu ermöglichen, den Schlüssel zur Teilhabe an unserer Gesellschaft. Diese Kurse sind - das sagen alle - eine Erfolgsgeschichte. Immer mehr Menschen nehmen teil oder wollen teilnehmen; denn derzeit warten aufgrund von Zulassungsbeschränkungen mindestens 9 000 Menschen auf einen Integrationskurs - täglich werden es mehr -, und das, weil Schwarz-Gelb sehenden Auges nicht ausreichend Finanzmittel zur Verfügung stellt.
Etwa 15 Millionen Euro fehlen im laufenden Haushalt. Von diesen 9 000 Menschen sind 4 000 auf Wartelisten gelandet. Sie wissen überhaupt nicht, wann ein Kurs beginnen soll. Sie wissen nur: dieses Jahr nicht mehr. - So lautet die Mitteilung, die das Bundesamt an sie geschickt hat. Das sind gerade diejenigen Menschen, die sich schon lange in Deutschland aufhalten, ohne die deutsche Sprache in ausreichendem Maße erworben zu haben. Das sind genau die Menschen, denen die Regierung jeden Tag sagt: Nun integriert euch doch endlich! Aber einen Integrationskurs wird es vielleicht erst nächstes Jahr geben. - Diese Argumentation ist doch schlicht scheinheilig.
Erwachsene Migranten sind nur eine Gruppe. Für junge Menschen mit und auch ohne Migrationshintergrund entscheidet die Qualität der Bildung darüber, ob man sich verständigen und mitmischen kann. Deshalb wurden unter SPD-Regierung sowohl der Ausbau der Kitas als auch das Ganztagsschulprogramm auf den Weg gebracht. Wo bleibt denn der Beitrag dieser Regierung? Wo bleibt denn die ausreichende Finanzierung des Kitaausbaus? Was soll denn dieses Betreuungsgeld? Es ist nichts anderes als eine Fernhalteprämie und einfach nur bildungsfeindlich.
Wo sind die Ideen für den Ausbau der Ganztagsschulen? Fehlanzeige! Wenn es um Bildungsgerechtigkeit geht, dann setzen Sie entweder gar keine oder die falschen Signale. Sie manifestieren die Ungerechtigkeiten im Bildungssystem. Das geht nicht nur, aber auch zulasten der Integration.
Beispiel Arbeitsmarkt. Menschen mit Migrationshintergrund haben noch höhere Hürden als wir Deutsche zu überwinden. Die Arbeitslosigkeit ist bei ihnen doppelt so hoch; das wurde schon angesprochen. Es mangelt an Anerkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse. Ardalan ist nur ein Beispiel. Olaf Scholz hat am Ende der letzten Legislaturperiode ein gutes Papier dazu vorgelegt. Seitdem müssen wir uns leider mit Eckpunkten von Frau Schavan - sie verlässt gerade den Saal -
begnügen. Von einem Gesetz ist leider nichts zu sehen. Da hilft auch nicht die wirklich große Anzahl der Ankündigungen. Liebe Bundesregierung, es besteht dringender Handlungsbedarf. Bitte gehen Sie das schnell an. Wir vergeuden wertvolle Ressourcen Hunderttausender Menschen.
Viele Menschen mit Migrationshintergrund berichten zudem, dass es für sie schwer ist, einen Arbeitsplatz zu finden. Ardalan ist wieder ein Beispiel dafür. Studien belegen, dass junge Schulabgänger mit Migrationshintergrund es selbst bei gleicher Leistung deutlich schwerer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Hier findet Diskriminierung statt. Das steht auch in dem vorliegenden Bericht so knallhart. Was tut denn die Bundesregierung? Seien es anonymisierte Bewerbungsverfahren - diese sind in vielen Ländern üblich - oder sei es eine aktive Arbeitsmarktpolitik, bei der jetzigen Bundesregierung sehe ich schwarz. Sie setzen massiv den Rotstift bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik an und konterkarieren jegliche Bemühungen, für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen.
Beispiel soziale Teilhabe. Integration wird vor Ort, in den Kommunen, gestaltet, zum Beispiel durch kluge Stadtentwicklung. Dazu hat der Bund unter SPD-Beteiligung wirksame Programme - ?Soziale Stadt? ist das Programm, das man hier hervorheben kann - entwickelt. Was machen Sie? Sie kürzen die Mittel für die entsprechenden Programme nicht nur dramatisch. Sie sorgen auch noch für Beschränkungen. Geld aus dem Topf ?Soziale Stadt? darf zukünftig nicht mehr für - Zitat - ?Zwecke wie Erwerb der deutschen Sprache, Verbesserung von Bildungsabschlüssen, Betreuung von Jugendlichen sowie im Bereich der lokalen Ökonomie? eingesetzt werden. Der einzige, der sich darüber wirklich freuen dürfte, ist Patrick Döring; der verkehrspolitische Sprecher der FDP war da und ist inzwischen auch schon gegangen.
Er hat schon im März von dieser Stelle aus in Bezug auf das Programm ?Soziale Stadt? gesagt - Zitat -:
Die Zeit der nichtinvestiven Maßnahmen, zum Beispiel zur Errichtung von Bibliotheken für Mädchen mit Migrationshintergrund, ist vorbei ...
Wenn ich das höre, geht mir das Messer in der Tasche auf.
Liebe Koalition, liebe Regierung, bitte erzählen Sie uns nichts über Integration. Bitte ändern Sie einfach Ihre Politik!
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Im Übrigen hoffe ich, dass nicht nur bei Integrationsdebatten die Mitglieder dieses Hauses ohne Messer in der Tasche, also unbewaffnet, erscheinen.
Nun hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDP-Fraktion das Wort.
Sibylle Laurischk (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Böhmer, vielen Dank für den vorgelegten Bericht, ein dickes Buch, das wirklich lesenswert ist. Ich möchte diesen Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland mit einem besonderen Blick auf die Ausländerinnen in Deutschland kommentieren. Dazu spreche ich drei Aspekte an.
Der erste Aspekt ist die Bedeutung der Frauen in der Integrationspolitik. Wir müssen einfach sehen, dass sie für den Integrationserfolg von Familien und ganz besonders von Kindern von großer Bedeutung sind. Sie sind in der Familie der zentrale Bezugspunkt und insofern eben auch diejenigen, die für die Sprachfähigkeit in der Familie besondere Verantwortung tragen. Sie sind diejenigen, die ihren Kindern Sprache vermitteln. Hierbei ist es natürlich besonders wichtig, dass sie auch den Zugang zur deutschen Sprache vermitteln können. Sie sind daher auch besonders gefordert, selbst die deutsche Sprache zu beherrschen. Wir verfügen über Lösungsansätze, die mittlerweile erfolgreich sind, beispielsweise das Programm ?Mama lernt Deutsch?. Damit werden auch Kinder sprachfähig gemacht, weil sie so Deutsch auch in der Familie sprechen können. Selbstverständlich ist ebenso, dass sie neben ihrer Muttersprache auch eine andere Sprache lernen. Wenn sie mehr als Deutsch können, sind Kinder aus Migrantenfamilien sicherlich in ihrer weiteren schulischen und beruflichen Entwicklung erfolgreich.
Damit bin ich beim zweiten Aspekt, nämlich dem Zugang von Migrantinnen zum Arbeitsmarkt. Wer arbeitet, hat einen wichtigen Zugangsweg zur Gesellschaft überhaupt. Hierzu müssen wir feststellen, dass gerade junge Migrantinnen mittlerweile gute Schulerfolge vorweisen können, bessere Ergebnisse als die jungen Männer. Dennoch sind sie in der Berufswahl nicht wirklich konkurrenzfähig. Sie sind in Ausbildung schwächer vertreten, sie finden überhaupt schwerer Zugang zu Ausbildung, und entsprechend sind sie dann auch nicht wirklich in der Gesellschaft etabliert und nicht in der Lage, sich selbstständig in der deutschen Gesellschaft zurechtzufinden. Hier muss mehr getan werden. Die Ausbildungsfähigkeit von Frauen ist ein wichtiges Thema, das im Bericht auch seinen Niederschlag findet.
Ein dritter Aspekt ist mir wichtig; dies ist das Thema Gewalt gegen Frauen. Dem Familienministerium wurden drei Studien vorgelegt, in denen zum Ausdruck kommt, dass bestimmte Gruppen von Migrantinnen häufiger von Gewalt betroffen sind. Das sind insbesondere Frauen türkischer Herkunft und Frauen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Man muss deutlich sagen, dass Migrantinnen sehr viel weniger Zugang zum Hilfesystem und weniger Beratungserfahrung haben, seltener psychosoziale Unterstützungseinrichtungen aufsuchen und insofern in ihrer Situation als gewaltbetroffene Frauen häufig allein bleiben. Hier muss mehr geschehen. Wir können es nicht nur damit bewenden lassen, beispielsweise die Zwangsheirat unter besondere Strafe zu stellen, was richtig ist; wir brauchen aber darüber hinaus entsprechende Beratung, damit Frauen aus diesem Teufelskreis herausfinden können.
Die Situation von Migrantinnen ist sozusagen die Spitze des Eisbergs der gesamtgesellschaftlichen Situation. Gewalt gegen Frauen darf in keinerlei Hinsicht hingenommen werden und schon gar nicht aus religiösen Gründen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion.
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Scholz, Sie haben gesagt: Den Reden müssen Taten folgen. - Ich will Ihnen einmal den ?SPD-Integrationsexperten? Sigmar Gabriel zitieren. Er hat sich vor kurzem gegenüber Spiegel Online so geäußert:
Wer auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt, der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Es war die SPD in der Großen Koalition, die sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat, dass wir genau das ins Aufenthaltsrecht schreiben. Nur so viel zum Thema ?Übereinstimmung von Reden und Taten?.
Was ich auch nicht verstehe, lieber Kollege Veit, ist, dass Sie plötzlich sagen, es sei ein Problem, dass wir jetzt Deutschkenntnisse von denjenigen verlangen, die auf dem Wege des Familiennachzugs zu uns kommen. Was spricht denn dagegen, dass als Beitrag zur Integration einfache Deutschkenntnisse vor der Übersiedlung nach Deutschland verlangt werden? Durch eine Evaluierung dieser Vorschrift ist nachgewiesen, dass wir damit in Einzelfällen Zwangsehen bekämpfen.
Aber was noch wichtiger ist: Durch diese Vorschriften erreichen wir, dass wir in die Familien, die bisher einen weiten und großen Bogen um Integrationsangebote gemacht haben, zum ersten Mal die klare Botschaft hineinsenden: Ohne Deutsch geht es nicht. Das ist ein Beispiel dafür, wie man durch ein Gesetz ganz praktische Integrationspolitik gestalten kann.
Herr Senator Wolf, Sie haben den Begriff der Leitkultur kritisiert. Ich frage mich: Warum dürfen wir nicht Erwartungen formulieren und gemeinsame Grundlagen für unser Zusammenleben definieren? Zur Integration gehört, dass wir von muslimischen Eltern erwarten dürfen, dass sie ihre Kinder auf der Grundlage unserer gemeinsamen Rechts- und Werteordnung erziehen. Unsere Aufgabe ist es, dass wir denjenigen entschlossen entgegentreten, die andere daran hindern, sich zu integrieren, die Jugendklubs bekämpfen, weil dort Muslima ihre Freizeit verbringen wollen, die etwa systematisch islamischen Religionsunterricht bekämpfen, weil er unter der Regie der deutschen Schulverwaltung stattfindet, und die, wie es Moscheevereine tun, Eltern zwingen, ihre Kinder dort herauszunehmen und in Koranschulen anzumelden. Wir müssen genauer hinhören, was in Moscheen gepredigt wird. Wir müssen ein Interesse daran haben, dass Imame in Deutschland ausgebildet werden.
Unser Bundespräsident hat sich sehr zutreffend zur Lebenswirklichkeit des Islam in Deutschland geäußert. Ich möchte seiner Rede einen zusätzlichen Gedanken anfügen: Ja, der Islam gehört zu Deutschland; aber fundamentaler Islamismus gehört nicht zu Deutschland. Ihm müssen wir entgegentreten, und zwar entschlossen.
Wir haben bei der Integration keine Erkenntnisprobleme; wir haben Umsetzungsprobleme. Die Wahrheit ist doch, dass wir vielfältige gesetzliche Vorschriften haben, um den Grundsatz ?Fördern und Fordern? tatsächlich umzusetzen. Wir haben viel mehr Sanktionsmöglichkeiten, als man nach der Lektüre des Buches von Herrn Sarrazin vermuten würde. Es muss nur auf allen staatlichen Ebenen an konsequenter Integration gearbeitet werden. Es reicht eben nicht aus, wenn die Ausländerbehörden nur zu einem Integrationskurs verpflichten. Es muss auch kontrolliert werden, ob der Ausländer tatsächlich diesen Integrationskurs besucht. Die Hartz-IV-Behörden müssen die Chance nutzen, Langzeitarbeitslose, die schon deshalb nicht vermittelt werden können, weil sie nicht hinreichend Deutsch sprechen, zu verpflichten, an Integrationskursen teilzunehmen.
Ich sage in aller Deutlichkeit: Wenn nicht alle Ebenen - Bund, Länder und auch Kommunen - gemeinsam die Chancen, Integration umzusetzen - sie sind bereits jetzt gesetzlich verankert -, nutzen, dann können wir hier im Bundestag beschließen, was wir wollen; wir werden nicht erfolgreich sein. Wir brauchen alle staatlichen Ebenen.
Für mich gehört dazu, an dieser Stelle einmal die Integrationsarbeit unserer Sportvereine zu würdigen. Am Vortag des Europameisterschaftsqualifikationsspiels zwischen Deutschland und der Türkei darf man sicher darauf verweisen. Was Trainer und Betreuer bei der Integration von Ausländern und Aussiedlern leisten, ist einfach beeindruckend und fabelhaft. Dafür auch von dieser Stelle ein herzliches Wort des Dankes.
Einen Gedanken lassen Sie mich gerade mit Blick auf unsere ausländischen und insbesondere unsere türkischen Mitbürger formulieren, wenn morgen Abend im Olympiastadion das Spiel angepfiffen werden wird: Im deutschen Team stehen Spieler mit Migrationshintergrund, die gut integriert sind und ihren Weg gemacht haben. Aber auch im türkischen Team stehen Spieler, die hervorragend Deutsch sprechen und sich bei uns integriert haben. Integration bedeutet eben nicht Aufgabe der eigenen Identität. Aber morgen Abend werden sie alle nach denselben Spielregeln spielen, und darauf kommt es an.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich hatte gehofft, Herr Kollege Grindel, Sie würden uns auch noch das Ergebnis dieses Spiels mitteilen. Aber darauf werden wir dann doch wohl noch einen Tag warten müssen.
Ich schließe die Aussprache.
Die Vorlage auf Drucksache 17/2400 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, gratuliere ich der Kollegin Müller-Gemmeke - sie sitzt im Moment links neben mir - zu ihrem heutigen runden Geburtstag.
Liebe Kollegin, Sie beginnen ein neues Lebensjahrzehnt in prominenter Umgebung und besonders guter Gesellschaft. Dies lässt für die nächsten Jahre die schönsten Hoffnungen zu. Alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr!
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Auswege aus der Krise: Steuerpolitische Gerechtigkeit und Handlungsfähigkeit des Staates wiederherstellen
- Drucksache 17/2944 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ?Wir haben gezeigt, was in uns steckt?, gab Frau Merkel in ihrer Haushaltsrede freimütig zu. Ja, und das steckt in ihrer Politik: das sinnlose Auftürmen neuer Schulden, sinnlose Ausgaben für Kriegseinsätze und Waffen, massive Kürzungen im Sozialbereich. Die Begründung ist die alte Leier: Wir könnten nur ausgeben, was wir erwirtschaften, und wir hätten über unsere Verhältnisse gelebt.
Hier stellt sich die Frage, wer über seine Verhältnisse gelebt hat. Die Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen vielleicht, die Alleinerziehenden oder die Menschen, die trotz Arbeit ihre miesen Löhne aufstocken müssen? Die Linke sagt: Sie verhöhnen all diese Menschen. Dabei machen wir nicht mit.
Die Wahrheit ist, dass Sie in den nächsten Jahren weiterhin massiv Schulden anhäufen werden; insgesamt sind 218 Milliarden Euro geplant. All dies wollen Sie uns nun als alternativlose Politik verkaufen, gar als ?Zukunftspaket?. Pardon, das klingt doch wie Hohn.
Sie haben gezeigt, was in Ihnen steckt. Wir zeigen Ihnen mit unserem Antrag, was in linker Politik steckt: eine wirkliche Alternative zu Ihrer Politik. Es gibt Alternativen; aber nur, wenn man die alles entscheidende Frage stellt: Wie verteilt man gerecht, was erwirtschaftet wird?
Statt immer wieder bei den Menschen zu kürzen, die sowieso wenig haben, brauchen wir endlich ein politisches und wirtschaftliches Umdenken. Es kann doch nicht sein, dass auf der einen Seite die Vermögen einiger weniger immer weiter in die Höhe schießen und auf der anderen Seite die Zahl der armen Familien und Kinder zunimmt. Die Vermögen in Deutschland wachsen nämlich schneller als die Schulden; dies halte ich für sehr interessant. Der Schuldenzuwachs pro Jahr beträgt derzeit etwa 70 Milliarden Euro, der Vermögenszuwachs pro Jahr rund 220 Milliarden Euro. Das zeigt doch wohl eindeutig, dass eine Umverteilung von oben nach unten erfolgen muss und dass die Aussage ?Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt? reiner Unfug ist.
Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie dem Sachverständigen Professor Bofinger! Deutschland, so sagte er, habe gesamtwirtschaftlich unter seinen Verhältnissen gelebt. Er plädiert für durchschnittlich 3 Prozent Lohnzuwachs; die Löhne müssten wieder gemäß dem Produktivitätsfortschritt und der Teuerungsrate angepasst werden. - Na bitte!
Aber da, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, hören Sie weg - ebenso wie bei den Hinweisen der EU-Kommission. Sie sollten aber hinhören, wenn Christine Lagarde und Dominique Strauss-Kahn deutlich auf die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa hinweisen, denn die deutsche Exportstrategie, getragen durch Lohndumpingpolitik und Steuersenkung, hat eine große Mitschuld daran. Ich frage Sie von der Koalition: Wo leben Sie eigentlich? Wie kann man in dieser Situation noch sagen, wie Frau Merkel, Deutschland werde seine Stärken nicht aufgeben? Durch die Lohndumpingpolitik, die Sie mit zu verantworten haben, werden die Menschen, die den Reichtum dieser Gesellschaft erarbeiten, von diesem immer weiter abgekoppelt. Ein flächendeckender Mindestlohn muss her - und das schnell!
Während die Reallöhne zwischen 2000 und 2008 in vielen EU-Staaten zum Teil stark stiegen, gingen sie in Deutschland sogar um 0,8 Prozent zurück. Das belegt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Die Linke sagt: Das ist ein Skandal.
Durch die Politik der Steuersenkung für Reiche und Unternehmen werden diese sogar doppelt bevorzugt. Kapital wird bevorzugt, unter anderem - das ist allgemein bekannt - durch die Abgeltungsteuer. Sie geben den Reichen und nehmen den Menschen, die Sie ohnehin schon immer abzocken.
Sie wissen genau, dass zwischen den Vermögen Welten liegen. So besaß laut einer DIW-Studie aus dem Jahr 2007 jeder Deutsche ein individuelles Geld- und Sachvermögen von rund 88 000 Euro, mit Pensions- und Rentenanwartschaften rund 150 000 Euro. Gehen Sie einmal auf die Straße und fragen Sie zum Beispiel die Leute bei mir in Leipzig, ob sie sich da wiederfinden! Fragen Sie die Verkäuferin, den Fernfahrer, Handwerker aus kleinen und mittelständischen Betrieben, Rentnerinnen und Rentner!
Viele von ihnen, genau 27 Prozent, verfügen über gar kein individuelles Geld- und Sachvermögen. Sie sind zudem oftmals noch verschuldet. Viele Menschen müssen beim Amt aufstocken - trotz Vollzeitarbeit. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn das reichste Zehntel der Bevölkerung über ein Netto-Geld- und Sachvermögen von mindestens 222 000 Euro verfügt. Es ist nicht so, dass wir ihnen das nicht gönnen,
aber wir sind strikt der Ansicht, dass allen Menschen hierzulande ein Leben in Würde, mit Chancen für die Zukunft ihrer Kinder zusteht.
Noch eines. Frau Merkel ist zwar nicht da, aber ich sage es trotzdem. Ein Fakt, der Frau Merkel als aus dem Osten stammende Frau doch wirklich die Schamesröte ins Gesicht treiben müsste, ist: Die Vermögensunterschiede zwischen Ost und West sind im Jahr 20 der deutschen Einheit immer noch wie Tag und Nacht.
Während das Nettovermögen von 2002 bis 2007 in Westdeutschland um rund 11 Prozent stieg, sank es in Ostdeutschland um knapp 10 Prozent.
Da ist Ihre Forderung an die Menschen, privat für das Alter vorzusorgen, doch glatter Unfug. Wovon sollen die Menschen denn das bezahlen, frage ich Sie. Sollen sie das von den Niedriglöhnen bezahlen, die Sie politisch zulassen?
Offensichtlich fragen sich immer mehr Menschen: Was macht die Regierung da oben? Hat sie überhaupt noch eine Ahnung von unserem Leben? Was machen die da in Stuttgart, wo gegen den Willen vieler Bürgerinnen und Bürger sinnlos Milliarden verbuddelt werden?
Wieso stimmen Sie zu, wenn die Atomlobby sich Sondergewinne in Milliardenhöhe organisiert? Frau Merkel, liebe Koalition, hier wieder die Frage: Haben Sie einmal die Hartz-IV-Empfängerin gefragt, wie sie bei der 5-Euro-Erhöhung Geburtstagsgeschenke für ihre Kinder kaufen kann, wie sie sich mit dieser minimalen Erhöhung einrichten soll, wie sie da mit ihrer Menschenwürde ?zurechtkommen? soll?
Zum Glück ändern sich die Zeiten. Ich sage Ihnen: Wir brauchen endlich eine sozial gerechte und ökonomisch wie ökologisch sinnvolle Politik. Genau das will auch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger.
Mit Ihrer Steuersenkungsideologie, die Sie, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, seit den 90er-Jahren immer wieder vor sich her chauffieren, haben Sie zu verantworten, dass wir in den letzten zwölf Jahren Steuermindereinnahmen in Höhe von etwa 335 Milliarden Euro hatten. Das ist ein Skandal. Wenn Sie endlich einmal vom hohen Ross der Arroganz Ihrer Macht absteigen und zuhören würden, was die Menschen in unserem Lande denken, hätten wir vielleicht alle wieder die Chance, dass eine vorwärtsweisende Politik betrieben wird.
Wir brauchen vernünftigerweise erstens eine Vermögensteuer. Auf Basis unseres Vorschlags einer Vermögensteuer, nämlich 5 Prozent auf das Nettovermögen abzüglich eines Freibetrages von 1 Million Euro - ich wiederhole: 1 Million Euro -, könnten bis zu 80 Milliarden Euro eingenommen werden,
80 Milliarden Euro, die die Bundesländer dringend für öffentliche Investitionen brauchen.
Wissen Sie eigentlich, wie viele Vermögensmillionäre es im vergangenen Jahr in der Bundesrepublik gab? Nach einem Report von Merrill Lynch waren es 861 000, fast 50 000 mehr als noch vor zwei Jahren. So sehen die Zahlen aus. Ich finde, auch die Vermögensmillionäre müssen ihren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten.
Wir brauchen zweitens eine Reform der Erbschaftsteuer. Bei der Reform vor zwei Jahren haben Sie bewusst darauf verzichtet, mehr Geld einzunehmen.
Selbst wenn man diese Reform so durchführte, dass Oma ihr klein Häuschen geschützt bleibt und kein Unternehmen im Erbfall pleitegeht, könnten trotzdem 6 Milliarden Euro eingenommen werden. Der entsprechende Vorschlag liegt auf dem Tisch.
Liebe Dame und liebe Herren der FDP, wir könnten tatsächlich die Bezieherinnen und Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen steuerrechtlich entlasten, nämlich drittens durch eine Reform der Einkommensteuer. Nach unserem Vorschlag würden im Vergleich zum Tarif 2010 alle Menschen mit einem zu versteuernden Einkommen bis zu 70 245 Euro im Jahr entlastet werden; alle Menschen, deren zu versteuerndes Einkommen darüber liegt, würden belastet werden. Das ist ganz einfach durch eine Neugestaltung des Tarifs zu erreichen. Wir schlagen Ihnen vor, ausgehend von einem Eingangssteuersatz von 14 Prozent und einem Grundfreibetrag von 9 300 Euro eine linear-progressive Gestaltung, hochgeführt bis zu einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent, vorzunehmen und durch diese Korrektur die Einkommensteuer gerecht auszugestalten.
In aller Deutlichkeit: Durch die Umsetzung unserer Vorschläge - im Antrag sind ja noch mehr aufgeführt; ich kann sie jetzt nicht alle erläutern - würde die wirtschaftliche Entwicklung nachhaltig gestärkt werden, denn dadurch würde die Binnennachfrage angekurbelt und die Kassen der Kommunen wären nicht mehr so klamm. Werfen Sie endlich Ihre absurde Steuersenkungspolitik über Bord. Sie gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wohin Gier und Spekulation führen, haben wir in der Finanzkrise gesehen. Ich sage Ihnen: Vermögenskonzentration befördert Spekulation.
Lassen Sie mich persönlich enden: Wenn mich meine siebenjährige Tochter fragt, warum einige Kinder in ihrer Schule arm sind, dann möchte ich ihr eigentlich nicht mehr sagen müssen, dass das noch lange so bleibt. Tun Sie etwas, damit ich das nicht mehr sagen muss! Tun Sie endlich etwas; denn dieses Land gehört allen Menschen, nicht nur den Reichen, den Lobbyisten und den Regierenden.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.
Olav Gutting (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke fordert als Ausweg aus der Krise, wie wir gerade gehört haben, zwölf steuerpolitische Maßnahmen, darunter vor allem Steuererhöhungen:
die Abschaffung des Ehegattensplittings, die Erhöhung der Körperschaftsteuer um 60 Prozent, ganz allgemein die Besteuerung von Extraprofiten, die Einführung einer Kerosin- und einer Schiffsbenzinsteuer, eine Erhöhung der Erbschaftsteuer,
eine Boni-Steuer in Höhe von 50 Prozent, die Erhebung der Vermögensteuer und nicht zuletzt die Anhebung des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer.
Offensichtlich ist es das Allheilmittel der Linken gegen alles, den Menschen in diesem Land immer mehr Geld aus der Tasche zu ziehen.
Nun muss man kein Wirtschaftswissenschaftler sein, um zu erkennen, dass die von Ihnen jetzt - in der Phase des Aufschwungs - geplanten massiven Steuererhöhungen den Aufschwung beenden würden.
Sie beklagen in Ihrem Antrag die Steuersenkungen der letzten Jahre. Sie sprechen gar von ?Steuerdumping? in unserem Land. Sie haben vorhin die Hartz-IV-Empfänger angesprochen. Haben Sie schon einmal die Menschen, die in diesem Land Steuern zahlen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmer, die den Karren ziehen, gefragt, ob sie das Gefühl haben, in einem Niedrigsteuerland zu leben?
Die jährlichen Steuereinnahmen sind in den letzten fünf Jahren um 72 Milliarden Euro gestiegen. Das sind 72 Milliarden Euro Mehreinnahmen.
Schauen wir uns einmal die Steuer- und Abgabenquote an: Eine Familie in Deutschland bezahlt Abgaben und Lohnsteuern in Höhe von etwa 40 Prozent. Damit sind wir im internationalen Vergleich an dritter Stelle der Rangliste der Belastungen. Bei der Unternehmensbesteuerung, bei der Sie beklagen, dass sie zu niedrig ist, liegt Deutschland mit einer tariflichen Gesamtbelastung für Kapitalgesellschaften von knapp über 30 Prozent weltweit auf Rang acht in der Hitliste der Höchststeuerländer.
Sie behaupten, Folge des angeblichen Steuerdumpings seien unsoziale Ausgabensenkungen.
Schauen wir uns doch einmal die Sozialausgaben der letzten Jahre an: Sie sind allein beim Bund von 50 Milliarden Euro im Jahr 1990 auf heute, im Jahr 2010, 173 Milliarden Euro gestiegen.
Die Ausgaben im sozialen Bereich haben sich also mehr als verdreifacht. Die Staatsquote ist nicht etwa gesunken. Nein, sie ist auf über 50 Prozent gestiegen.
Ich frage Sie: In welcher Welt leben Sie? Wenn man den Antrag der Linken liest, dann hat man, mit Verlaub, das Gefühl, einige von Ihnen denken immer noch, um dieses Land herum wäre eine Mauer. Wachen Sie auf! Wir stehen im internationalen Wettbewerb; wir befinden uns mitten in der Globalisierung. Das gilt auch für den Bereich der Steuern.
Man kann das beklagen. Ja, Wettbewerb ist unangenehm. Man muss sich anstrengen. Man kann nicht handeln, als wäre man auf einer einsamen Insel.
Die Globalisierung führt auch dazu, dass wir in der Politik manchmal Getriebene sind. Das ist nicht schön; aber es ist eine Tatsache. Da können Sie den Kopf nicht in den Sand stecken: Wir sind in eine internationale Entwicklung eingebettet, der wir uns als einzelne Nation nicht verschließen können. Wir müssen reagieren, um dieses Land im internationalen Wettbewerb vorne zu halten. Nur wenn wir in diesem internationalen Wettbewerb mithalten, können wir die Arbeitsplätze in diesem Land sichern und den breiten sozialen Wohlstand in diesem Land erhalten.
Wir haben uns in der Regierung, auch in der Vorgängerregierung, angestrengt, und zwar mit Erfolg: Zu Beginn der letzten Legislaturperiode sind wir mit 5 Millionen Arbeitslosen in diesem Land gestartet; heute, fünf Jahre später, liegt die Zahl bei 3 Millionen, Tendenz weiter sinkend.
In Baden-Württemberg haben wir sogar Vollbeschäftigung. Das ist soziale Gerechtigkeit. Wir werden international dafür bewundert, wie wir diese Krise meistern, wie wir sie bisher überstanden haben. Auch unsere Steuerpolitik hat dafür gesorgt, dass dieses Land zurzeit boomt und viele Menschen in diesem Land, nämlich 2 Millionen mehr als noch vor fünf Jahren, wieder auskömmliche Arbeit finden.
Sie hinken mit Ihrem Antrag zur Überwindung dieser Krise ziemlich hinterher.
Mittlerweile liegen die Prognosen für das Wirtschaftswachstum für das laufende Jahr bei über 3 Prozent.
Wir haben Wachstum, es entstehen neue Arbeitsplätze, es gibt Lohnerhöhungen, und die Binnenkonjunktur zieht an. Lesen Sie die Statistiken: Die Verbraucherstimmung in unserem Land ist wieder hervorragend.
Mit den Steuererhöhungsorgien, die Sie vorschlagen, machen Sie einen doppelten Salto rückwärts direkt in die Krise.
Was glauben Sie denn, was passiert, wenn Sie eine fünfprozentige Abgabe auf Vermögen mit einem Wert von über 1 Million Euro einführen? Das klingt zunächst herrlich gut: Ich nehme es den Reichen und gebe es den Armen; Robin Hood lässt grüßen.
Aber es gilt der Grundsatz: Sie machen die Schwachen nicht stark, indem Sie die Starken schwächen. - Sie schlagen vor, eine jährliche, fünfprozentige Steuer auf Vermögen zu erheben. Wissen Sie, wie hoch die durchschnittliche Immobilienrendite ist? Wenn man ein Immobilienvermögen hat - in Ihren Augen sind das die bösen Menschen -, dann erzielt man eine durchschnittliche Rendite von 3,5 Prozent pro Jahr. Sie wollen nun 5 Prozent abgreifen; damit nehmen Sie den Menschen nicht nur den Gewinn, sondern Sie enteignen sie.
Ich frage mich: Wer investiert dann noch in unserem Land? Wer soll dann die Mietwohnungen bauen?
Wer soll in Mietwohnungen investieren? Sie schaden mit Ihrem Vorschlag genau denjenigen, denen Sie eigentlich helfen wollen.
Zusätzlich zur Vermögensteuer wollen Sie nun auch noch den Spitzensteuersatz erhöhen.
Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, dass in diesem Land 10 Prozent der Bezieher der oberen Einkommen bereits mehr als die Hälfte, nämlich 55 Prozent, des gesamten Steueraufkommens schultern?
Ich mag dieses Land. Ich lebe gern in Deutschland. Wie viele andere Menschen in diesem Land zahle ich klaglos meine Steuern, weil ich weiß, dass unser Land viel bietet.
Wir haben eine gute Infrastruktur, wir haben Sicherheit und gute Bildung. Wir leben in Freiheit, wir haben eine hervorragende Gesundheitsversorgung, soziale Gerechtigkeit und breiten Wohlstand. Wenn Sie die Steuerlast und die Abgabenlast immer weiter nach oben schrauben, wenn sich Leistung in diesem Land nicht mehr lohnt,
wenn das Steuerrecht zur Enteignung pervertiert, dann sind die Grenzen in diesem Land offen. Dann werden Sie erleben, dass immer mehr Leistungsträger in unserem Land den Verlockungen anderer Gesellschaften und anderer Staaten nicht mehr widerstehen.
Irgendwann gibt es einen Punkt, an dem Leistung und Gegenleistung in keinem Verhältnis mehr stehen. Die meisten Menschen sind so - Sie mögen das beklagen -: Sie strengen sich nicht an, wenn es sich nicht lohnt.
Das müssen Sie akzeptieren. Sie müssten das am besten wissen. Haben Sie nicht das Experiment mit Ihrem real existierenden Sozialismus gemacht? Hat Ihnen das nicht die Augen geöffnet? Menschen sind, wie sie sind. Es muss sich lohnen, dann strengt man sich an.
Unser Weg aus der Krise sieht anders aus. Mit den Konjunkturpaketen und dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz sowie dem Bürgerentlastungsgesetz haben wir gezeigt, wie wir dieser Krise begegnen, und zwar erfolgreich, wie man an den aktuellen Zahlen erkennen kann.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidtin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicolette Kressl für die SPD-Fraktion.
Nicolette Kressl (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich hätten wir es in dieser Debatte über Steuerpolitik verdient, ein bisschen weniger Ideologie von beiden Seiten präsentiert zu bekommen.
Herr Michelbach fragt mich gerade: Was ist denn Ideologie? Wenn Herr Gutting sagt: ?Leistung muss sich wieder lohnen? - und damit die Steuerlast anspricht -, dann vergisst er dabei völlig, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten und zum Sozialamt müssen, um eine Aufstockung zu bekommen, nicht den Eindruck haben, dass sich ihre Leistung lohnt. Dazu hat er überhaupt nichts gesagt. Ich finde, das ist ganz schön viel Ideologie.
- Ich weiß gar nicht, warum Sie jetzt so aufgeregt sind. Man merkt schon manchmal: Wenn die Hündchen bellen, sind sie getroffen. Das müssen Sie aber mit sich selbst klären.
Die Debatte heute könnte eigentlich Anlass sein, darüber nachzudenken, warum wir Steuern brauchen. Das wäre eine spannende Debatte, aufgrund derer dann damit aufgehört würde, dass die einen möglichst viele Steuern als gut und die anderen niedrige Steuern als Freiheitsideal per se bezeichnen. Darum geht es nämlich nicht. Die Menschen haben es verdient, dass wir einmal genau überlegen, warum wir überhaupt Steuern brauchen.
Daraus muss dann die Schlussfolgerung gezogen werden, wie viele Steuern wir brauchen. Wenn ich von ?wir? spreche, meine ich damit nicht uns hier vor Ort. Wer mit ?wir? gemeint ist, sollte in der Steuerdebatte öfter thematisiert werden. Es geht um die Gesellschaft. Wir wollen dafür sorgen, dass eine solidarische Gemeinschaft entsteht. Das ?wir? steht nämlich für diejenigen, die hier leben, die hier arbeiten, die hier aufwachsen und die hier Arbeitsplätze schaffen.
Bei der Analyse kann man zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Ich finde es allerdings schade - das habe ich bei beiden Rednern heute hier gemerkt -, dass vorher keine ordentliche Analyse erfolgt ist.
Wir gehen sehr kritisch mit der Frage der Steuerlast um. - Herr Gutting, bei den Niedrigeinkommen ist es übrigens die Abgabenlast, die zu den 40 Prozent führt, und nicht allein die Steuerlast.
Darüber können wir reden. Sie sagen aber immer: Eine niedrige Steuer ist gut. Ob die Steuern niedrig oder hoch sind, ist für Geringverdiener nicht die Problematik; sie werden Sie durch Ihre Einsparungen auch nicht entlasten.
Wir müssen deutlich machen, dass uns bewusst ist, dass es sich bei den eingenommenen Steuern um die Mittel der Menschen handelt, die arbeiten. Diese Steuern brauchen wir für die Gemeinschaft. Das bedeutet - ich habe das schon gesagt -: Wenn es um die Höhe der Steuern geht, müssen wir uns daran orientieren, wie viel der Staat braucht. Der Staat ist in diesem Fall ausdrücklich nichts Negatives. Der Staat ist in unserer gesellschaftspolitischen Betrachtungsweise derjenige, der durch Ausgleich für gleiche Chancen für alle Menschen sorgen kann. Das ist der entscheidende Punkt. Dazu gehört für mich auch, dass Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, von Anfang an Chancen auf Bildung und Aufstieg haben.
In Bezug darauf sind Steuern nichts Negatives. Durch sie können wir organisieren, dass Menschen Chancen auf Bildung und Aufstieg haben.
Meine Schlussfolgerung lautet: Es ist falsch, Steuersenkungen und möglichst niedrige Steuern als Selbstzweck hinzustellen. Es ist auch falsch, möglichst hohe Steuern nur wegen der Umverteilungswirkung als Selbstzweck hinzustellen.
Ich möchte trotz meiner kurzen Redezeit eine Analyse einbringen. Ich finde, dass die Höhe der verteilten Steuern kein Kriterium für die Beurteilung sein kann, wie gerecht es in einem Staat zugeht. Damit es kein Missverständnis gibt: Die Frage der Verteilung der Steuerlast ist sehr wohl ein Kriterium für die Frage, wie gerecht es in einer Gesellschaft zugeht.
- Herr Michelbach, ich weiß, dass Sie immer mit dem progressiven Tarif kommen.
Der entscheidende Punkt bei der Analyse ist, dass man sich nicht nur auf die Frage der Einkommensbesteuerung konzentrieren darf. Zu einer Gesamtanalyse gehört die Frage, wie die Steuerlast in Deutschland insgesamt verteilt ist.
Herr Michelbach, bei der Analyse hilft ein Blick auf die Statistik der OECD.
- Das ist interessant, Herr Michelbach. Weil Ihnen die Statistik der OECD nicht passt, behaupten Sie einfach, sie sei falsch.
Mit dieser Statistik - ich sage das, damit alle verstehen, worüber wir sprechen - hat die OECD Deutschland eindeutig bescheinigt, dass im internationalen Vergleich nicht die Einkommensteuer, die Sie immer als Alibi anführen, sondern die Vermögensbesteuerung weit unter dem Durchschnitt liegt. Deswegen muss man zwar nicht gleich nach einer Steuererhöhung schreien; aber es gehört selbstverständlich zu unserer Pflicht, darüber nachzudenken, wie wir diese Schieflage verändern können. Das gehört einfach zu unseren Pflichten.
Bei der Analyse der Situation muss man sich einige Fragen stellen. Wir Sozialdemokraten fragen uns zum Beispiel: Können Kommunen im Moment optimale Bildungs- und Fördermöglichkeiten für unsere Kinder anbieten? Können die Kommunen gute Lebens- und Arbeitsbedingungen für Unternehmen und Einwohner sicherstellen? Ich sage Ihnen: Bei einem Finanzierungsdefizit von 12 bis 15 Milliarden Euro, das die Kommunen erwarten - das sind ihre eigenen Angaben -, können diese Fragen nicht mit Ja beantwortet werden. Deswegen haben wir als Steuergesetzgeber die Pflicht, uns zu überlegen, wie wir das ändern können.
Wir sagen deswegen nicht, dass bei der Gewerbesteuer in den letzten Jahren der falsche Weg eingeschlagen wurde. Sie tun immer so, als seien nur die Gewerbesteuereinnahmen eingebrochen. Die Zahlen sagen etwas anderes. Sie zeigen, dass die Gewerbesteuereinnahmen trotz kleiner Einbrüche ständig steigen. Deshalb sagen wir Sozialdemokraten: Mit uns wird es eine Abschaffung der Gewerbesteuer nicht geben. Wir wollen eine Stabilisierung und nicht das, was Sie auf den Weg bringen wollen.
Wir müssen auch fragen: Können die Länder mit den derzeitigen Steuereinnahmen ein optimales Bildungsangebot schaffen? Wir finden, dies ist nicht nur eine Frage der individuellen Chancengerechtigkeit, sondern auch eine ökonomische Frage. Wenn wir uns im Bildungsbereich nicht bewegen, werden wir wirtschaftspolitisch in wenigen Jahren am Ende des Zuges angekommen sein. Das können wir uns nicht leisten. Wir müssen ehrlich miteinander umgehen und nicht möglichst niedrige Steuern als Wert an sich propagieren.
Wir müssen auch fragen: Ist die Bundesebene in der Lage, ihre Aufgabe, eine gute Infrastruktur für Bürger und Unternehmen zu schaffen, zu erfüllen? Können wir tatsächlich genügend wirtschaftspolitische Impulse setzen? Können wir genügend Geld für Investitionen und Forschung ausgeben? Können wir tatsächlich für eine positive Konjunkturentwicklung sorgen? Können wir dafür sorgen, dass wir in Zukunft ökologisch und nachhaltig wirtschaften? Das sind die Fragen.
Ich finde, es steht uns in der Politik gut an, einzugestehen bzw. klarzumachen, dass sich die Analyse ändern kann. Wir befinden uns in der Zeit nach der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise. Deswegen sehen einige Schlussfolgerungen jetzt anders aus; das ist doch klar. Wir haben massiv mit Steuermitteln eingreifen müssen. Das wurde von großen Teilen dieses Parlaments akzeptiert; aber das hat alle staatlichen Ebenen belastet. Also müssen wir jetzt überlegen, welche Konsequenzen wir daraus ziehen müssen.
Wir sind der Überzeugung, dass Ziel der Steuer- und Abgabenpolitik ist, für eine angemessene und verlässliche Finanzierung der Aufgaben aller staatlichen Ebenen zu sorgen. Auch die Verteilung der Lasten auf dem Weg zu diesem Ziel muss gerecht sein.
Deshalb sprechen wir uns - ich habe das schon angesprochen - für eine stärkere Besteuerung der privaten Vermögen aus. Aber, Frau Höll, ehrlich gesagt: 80 Milliarden Euro durch 5 Prozent - das ist illusorisch. Das ist völlig daneben und wirtschaftsfeindlich. Ich finde, wenn man über eine gerechte Verteilung redet, muss man auch die Arbeitsplatzwirkung im Kopf haben. Deswegen sage ich: Weder die Ideologie von links noch die von ganz rechts passt. Wir müssen überlegen, was wir tun können, um unser Land nach vorne zu bringen, und zwar auch steuerpolitisch. Für uns gehört die verstärkte Vermögensbesteuerung dazu, aber nicht in dem Ausmaß, wie Sie sich das vorstellen.
Wir wollen - das hat die Sozialdemokratie beschlossen - bei der Einkommensbesteuerung einen höheren Spitzensteuersatz greifen lassen, jedoch später als jetzt. Er soll bei verheirateten Paaren ab einem zu versteuernden Einkommen von 200 000 Euro greifen. Wir glauben, das ist ein guter, aber gemäßigter Weg, der in diesem Fall auch dafür sorgen kann, dass Aufgaben besser erfüllt werden. Ich habe vorhin schon gesagt - ich möchte es jetzt bei der Darstellung des Gesamtpakets wiederholen -, dass wir auch eine Stärkung der Gewerbesteuer wollen. Im Übrigen - das finde ich ganz wichtig, wenn wir über Föderalismus reden - wollen wir, dass der Steuervollzug der bestehenden Gesetze besser durchgeführt wird; denn auch das gehört zur Steuergerechtigkeit.
Der entscheidende Punkt wird sein, das Ganze zu einem stimmigen Paket zusammenzufügen:
solidarische Finanzierung auf der einen Seite, Möglichkeit für Investitionen in Bildung, Forschung und Wirtschaft auf der anderen Seite.
Beim Begriff ?stimmig? lohnt sich ein Blick in den Antrag der Linken; das kann ich Ihnen nicht ganz ersparen. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, dass darin steht: Viel ist auf jeden Fall gut. - Auf den zweiten Blick finde ich es noch interessanter. Dort steht zum Beispiel: Wir wollen 10 Milliarden Euro Steuern weniger einnehmen, indem wir in vier Bereichen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz einführen. - Ich verstehe nicht, dass Sie nicht lernfähig sind. Spätestens ein Jahr nachdem die Koalition diese grandiose Hotelsteuerermäßigung beschlossen hat, wissen Sie doch, dass das Geld nicht bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ankommt.
Sie fordern zum Beispiel ernsthaft, bei Medikamenten auf 4 Milliarden Euro Steuereinnahmen zu verzichten, obwohl wir nach der Erfahrung mit der Hotelsteuerermäßigung davon ausgehen müssen, dass das Geld bei den internationalen Konzernen hängen bleibt. Was soll daran gerecht sein? Ich bitte Sie!
Die Forderung bezüglich einer Umsatzsteuerermäßigung, die, wie wir wissen, nicht bei den Verbrauchern ankommt, ist nicht nur populistisch, sondern, ehrlich gesagt, steuerpolitisch ganz schön naiv und blind. Deshalb werden wir diesem Antrag nicht zustimmen können.
Das ist nicht das, was wir für nötig halten, nämlich ein ausgewogenes Verhältnis von sinnvollen Investitionen und gerechter Steuerverteilungspolitik.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-Fraktion.
Dr. Volker Wissing (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbst die SPD sagt, dass Ihre Forderung nach einer Vermögensteuer, die 80 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen ergeben soll, bestenfalls lächerlich ist. Frau Kollegin Höll, finanzieren können Sie mit dieser Luftbuchung in diesem Staat gar nichts.
Sie können damit der Wirtschaft schaden, Sie können diesem Standort schaden, Sie können Arbeitsplätze gefährden, aber Sie können so überhaupt nichts erreichen.
Das gilt für Ihren gesamten Antrag. Sie haben nicht ein positives Wort über die Menschen geschrieben, die den Sozialstaat finanzieren. Sie haben kein positives Wort über Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geschrieben.
Ihre Devise ist: Wer in diesem Land viel arbeitet, der soll sich schämen und möglichst hohe Steuern zahlen, damit die Linken das verteilen können. Das ist der Geist Ihres Antrags.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?
Dr. Volker Wissing (FDP):
Ja, bitte.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Herr Kollege Wissing, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Kollegin Dr. Barbara Höll vorhin in ihrer Rede deutlich gemacht hat, dass die Linke auch für die Einkommensteuersenkung all derer eintritt, die null bis 70 000 Euro brutto im Jahr verdienen und dass wir damit selbstverständlich die Leistung derjenigen goutieren, die viel und gut arbeiten? Denn für wenig Arbeit bekommt man ein solches Einkommen nicht. Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass wir insofern einerseits die Partei der sozial Benachteiligten, andererseits auch die Partei der Mittelschicht sind?
Dr. Volker Wissing (FDP):
Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie die ungeheuerliche Behauptung aufstellen, dass die Linke die Partei der Mitte sein möchte.
Das nehme ich zur Kenntnis. Ich weise das aber, Herr Kollege, mit aller Entschiedenheit zurück; denn Sie haben in diesem Parlament bisher nur Anträge vorgelegt, die einen Angriff nach dem anderen auf die Mitte dieses Landes darstellen. Diese Angriffe wehren wir entschlossen ab, weil wir der Meinung sind, dass die leistungsfähige Mitte dieses Landes
nicht durch die Linken in diesem Hause beschädigt werden darf. Sie braucht vielmehr Unterstützung, weil die Leistungsträgerinnen und Leistungsträger der Bundesrepublik Deutschland ungerecht besteuert werden. Es gibt einen Mittelstandsbauch
und eine kalte Progression. Dieses Problem müssen wir angehen. Man löst es aber nicht, indem man diese Menschen ständig beschimpft, so wie Sie es tun, und man löst es auch nicht, indem man für die Bezieher von mittleren Einkommen ständig noch höhere Steuern fordert.
Sie sind nicht ansatzweise eine Partei für den Mittelstand. Sie sind auch keine Partei für die Mitte. Wenn man sich vergegenwärtigt, Herr Kollege, dass Sie 80 Milliarden Euro jährlich
- lassen Sie mich doch antworten! - durch eine Vermögensteuer aus der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Mittelstand
- ich bin noch nicht fertig - herausziehen möchten, dann können Sie sich nicht hinstellen und behaupten, Sie seien eine Partei, die sich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einsetzt. Denn das Schlimmste, was man den Menschen antun kann, ist, ihren Arbeitsplatz zu gefährden. Das tun Sie mit Ihrem Antrag.
Lassen Sie uns über den Geist Ihres Antrags reden. Wenn der Kollege Gutting, bezogen auf unser Steuersystem - nur darüber hat er gesprochen -, völlig zu Recht sagt, dass sich Leistung lohnen muss, dann hat er die Wahrheit gesagt und eine Kernaussage der sozialen Marktwirtschaft betont. Dass die Sozialdemokraten dem widersprechen und das als Ideologie diffamieren, zeigt, wohin Sie sich entwickeln, meine Damen und Herren.
Sie haben das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nicht verstanden. Leistung ist nämlich nichts Schlechtes, sondern Leistung ist der Kern, auf dem dieses System beruht. Soziale Marktwirtschaft heißt nicht nur Verteilen, sondern vor allem erst einmal Erwirtschaften, bevor es etwas zu verteilen gibt. Dass die Linke das nicht versteht, wundert uns nicht. Dass die SPD zunehmend ins gleiche Horn bläst, ist bedauerlich.
Ihre Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit sind im Kern unsozial. Sie reduzieren den Sozialstaat auf einen Verteilungsstaat;
deswegen hat auch Frau Kressl nur vom Verteilen gesprochen. Ihr Sozialstaat ist auch kein aktivierender, sondern er ist vor allen Dingen ein kassierender Sozialstaat.
Was Sie auf der Verteilungsseite an sozialer Gerechtigkeit erreichen wollen, konterkarieren Sie durch soziale Ungerechtigkeiten auf der Steuerseite.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Wissing, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Troost?
Dr. Volker Wissing (FDP):
Ja. Auch der Kollege Troost darf eine Zwischenfrage stellen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte sehr.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
Herr Kollege Wissing, auch unter Ihrer Mitwirkung hat Helmut Kohl 16 Jahre lang regiert. Die Frage ist: Hat sich Leistung damals gelohnt oder nicht? Wenn wir heute noch das Steuersystem von 1998 hätten, hätten die öffentlichen Haushalte jedes Jahr um über 50 Milliarden Euro höhere Steuereinnahmen. Insgesamt ist über eine halbe Billion Euro durch die Steuersenkungspolitik, die seitdem gemacht wurde, verloren gegangen.
Ist es tatsächlich so, dass wir diejenigen sind, die Leistung bestrafen? Oder kann man nicht, wenn man Steuermehreinnahmen erzielt, auch für mehr Steuergerechtigkeit sorgen?
Dr. Volker Wissing (FDP):
Herr Kollege, Ihre Frage beruht auf einem Irrtum. Das Problem der Linken ist: Sie nehmen immer irgendwelche Zahlen, glauben, Sie könnten diese Zahlen der Realität überstülpen und würden dann ein auch nur ansatzweise realistisches Ergebnis erzielen. Das ist, wie gesagt, ein Irrtum der Linken.
Fakt ist, dass sich die Wirtschaft in diesem Land unter der Regierung von Helmut Kohl positiv entwickelt hat. Fakt ist, dass sich die Wirtschaft unseres Landes auch unter dieser christlich-liberalen Koalition sehr positiv entwickelt. Der IWF hat die Wachstumszahlen erneut nach oben korrigiert.
Was auch Sie freuen sollte - hier sollten Sie wirklich etwas Positives für die Regierung übrig haben -, ist, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt.
Das ist die Messlatte, an der wir uns messen lassen wollen. Das sind die ersten Erfolge unserer wachstumsorientierten Politik. Ihre Vergleiche hinken.
Fest steht: Die Bundesrepublik Deutschland ist auf einem guten Weg, weil diese christlich-liberale Koalition wie eine Eins zur sozialen Marktwirtschaft steht. Sie tun es nicht.
Meine Damen und Herren, Sie stellen Steuergerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit immer wieder als Widerspruch dar. In Wahrheit sind Steuergerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille.
Ein gerechtes Steuersystem ist ein ganz erheblicher Beitrag für soziale Gerechtigkeit. Da Sie in Ihrem Antrag wieder schreiben, dass das Steuerrecht Spitzensteuersatzzahler bevorzuge, will ich Ihnen die Fakten vorhalten. Seit 1958, Frau Kollegin Höll, wurde bei nahezu jeder Steuerreform der Einkommensfreibetrag angehoben und der Eingangssteuersatz gesenkt. Das ist die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Kontinuierlich wurde immer mehr für die Bezieher der unteren Einkommen getan.
1958 lag der Einkommensfreibetrag bei rund 860 Euro bei einem Eingangssteuersatz von 20 Prozent. Heute liegt er bei 8 004 Euro bei einem Steuersatz von 10 Prozent. Sie beklagen, dass sich die Entwicklung für die Empfänger niedriger Einkommen negativ und für Spitzensteuersatzzahler positiv darstelle.
Jetzt reden wir über die Einkommensgrenze beim Spitzensteuersatz. 1958 lag sie bei 56 000 Euro, während sie heute bei 52 000 Euro liegt. Das ist die gegenteilige Entwicklung.
Der Staat hat den Spitzensteuersatz immer mehr zu einem Steuersatz der Mitte gemacht.
Sie behaupten, dass Spitzensteuersatzzahler reiche Leute seien. Das ist Unfug. Sie können das so oft wiederholen, wie Sie wollen. Sie führen die Leute damit hinter die Fichte. Der Spitzensteuersatz in Deutschland ist der Steuersatz für Facharbeiter und für gut ausgebildete Angestellte. Das ist nicht der Steuersatz von reichen Leuten oder von Millionären.
Deswegen sind Sie keine Partei, die sich um die Mitte in Deutschland bemüht. Sie sind eine Partei, die die Mitte in Deutschland angreift, weil Sie sie abkassieren wollen.
Ihre falschen Behauptungen führen darüber hinaus dazu, dass die Leute Ihnen auch noch glauben.
Klargestellt werden muss, dass der Spitzensteuersatz der Steuersatz für Facharbeiter und der Steuersatz der Mitte ist. Eine Partei, die hier Hand anlegt, kann nichts mit sozialer Gerechtigkeit im Sinn haben, meine Damen und Herren.
Wir haben einen gesellschaftlichen Konsens, dass starke Schultern viel tragen. Bei Ihnen lautet die eigentliche Forderung, starke Schultern sollten alles tragen und auch alles ertragen. Wir sagen: Auch dabei gibt es Grenzen. Für mittlere Einkommen und für die aufstrebende Mitte in Deutschland muss es noch Luft zum Atmen geben. Sie braucht die soziale Marktwirtschaft.
Dort ist Leistungsbereitschaft vorhanden. Dort wird unser Wohlstand erwirtschaftet.
Hören Sie auf, diese Leute zu diffamieren. Sagen Sie doch einmal Danke an alle Empfänger mittlerer Einkommen in Deutschland,
die hohe Steuern zahlen und die mit Mittelstandsbauch und kalter Progression auch während der Krise dazu beigetragen haben, dass der Staat handlungsfähig bleibt und dass sich das Steueraufkommen positiv entwickelt. Das ist die Leistung der Mitte in Deutschland.
Dass man diese Leute gegenwärtig nicht entlasten kann, ist bedauerlich. Denn die Krise, Frau Kollegin Kressl, liegt noch nicht hinter uns. Wir sind noch mitten in der Krise. Aber man darf auch einmal der Mitte in Deutschland danken:
danke für die Leistungsbereitschaft, danke für die Finanzierung dieses Staates und des Sozialstaates. Das hätte in Ihrem Antrag stehen müssen.
5 Prozent der oberen Einkommensschichten erwirtschaften heute bereits 42 Prozent des Einkommensteueraufkommens.
Sie können natürlich sagen: Warum erwirtschaften 5 Prozent nur 42 Prozent? Sie können sagen: Die sollen alles machen.
Das ist eben die Frage. Irgendwann kippt die Gerechtigkeitsfrage.
In Deutschland darf gesagt werden - Herr Kollege Gutting hat es ausgeführt -: Leistung darf sich lohnen; Leistung muss sich lohnen. Man darf sich mit den Menschen freuen, die sich in Deutschland anstrengen, die ihrer Arbeit nachgehen, die Risiken auf sich nehmen und die investieren. Ich denke dabei an mittelständische Unternehmen, an Handwerker, die auch in der Krise Risiken eingehen, die an dieses Land und den Zusammenhalt in dieser Gesellschaft glauben.
Man darf diesen Leuten danken und muss nicht fordern, immer mehr abzukassieren. Ihre Umverteilungsfantasien sind schlicht und einfach nicht finanzierbar.
Selbst wenn Sie Ihren Angriff auf die Mitte in Deutschland durchsetzen könnten, wären Ihre Umverteilungsfantasien immer noch nicht finanzierbar.
Deswegen: Hören Sie auf, dieses Ziel weiterzuverfolgen. Dafür finden Sie keine Mehrheiten in diesem Land. Das ist gut so, weil Sie den Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland in Wahrheit abbauen und nicht aufbauen helfen.
Meine Damen und Herren, es bleibt dabei, dass die Linke für höhere Sozialleistungen durch höhere Steuern kämpft. Die CDU/CSU und die FDP kämpfen dafür, dass die Menschen Lohn und Arbeit haben, damit sie auf Sozialleistungen nicht angewiesen sind. Das ist unsere Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Wir verfolgen sie weiter. Wir sind auf einem guten Weg. Die Zahlen sprechen für sich. Deswegen brauchen wir Ihre nicht einmal sinnvollen, geschweige denn gut gemeinten Ratschläge nicht.
Sie führen die Menschen mit falschen Informationen hinter die Fichte
und leisten keinen Beitrag zur Stärkung des Wohlstandes dieses Landes. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag selbstverständlich ab.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich den Antrag gelesen habe, habe ich auch kurz darüber nachgedacht, wie man mit diesem Antrag eigentlich umgehen soll. Man kann es so machen wie Frau Kressl: ein bisschen Nachdenklichkeit darüberschütten.
Der Grund ist, dass wir von Bündnis 90/Die Grünen die Ziele, die Sie mit dem Antrag vorgeblich versuchen zu erreichen, dass wir unser Land gerechter machen wollen, dass wir die gewachsene Umverteilung zwischen Arm und Reich umkehren müssen und dass wir die Binnenkonjunktur stärken wollen, natürlich teilen.
Ich habe Ihren Antrag gelesen und mich, weil Ihr Konzept von einer Umsetzbarkeit wirklich so weit entfernt ist wie das Wasser von der Wüste, dermaßen darüber geärgert, dass ich mich doch einmal inhaltlich mit Ihrem Antrag auseinandersetzen muss.
Sie legen das ja als Ihr steuerpolitisches Gesamtkonzept vor. Das muss man dann auch entsprechend würdigen.
Was schlagen Sie vor? Eine Aneinanderreihung von Steuererhöhungen und eine Liste, in der Sie zum Teil pseudogenau, an anderen Stellen, wie zum Beispiel bei den ökologischen Steuern und bei der Einkommensteuer, dagegen erstaunlich vage Angaben darüber machen, wie hoch die Steuereinnahmen ausfallen werden. Unter dem Strich haben Sie sich sage und schreibe 179 Milliarden Euro zusammengerechnet. Wie das allerdings mit Ihrem Ziel, die Binnenkonjunktur zu stärken, zusammenpassen soll, wenn Sie 179 Milliarden Euro an Kaufkraft entziehen, ist zumindest für jeden Volkswirt, den ich kenne, ein Rätsel.
- Das steht da aber nicht. - Ich habe noch einmal in Ihren Pressemitteilungen nachgesehen. Sie schlagen ein Konjunkturprogramm von 30 Milliarden Euro vor. Das ist eine Mininummer gegenüber diesen 179 Milliarden Euro. Das passt also schon einmal hinten und vorne nicht zusammen.
Jetzt könnte man natürlich beschwichtigend einwerfen: Wenn man diese 179 Milliarden Euro nicht ernst nimmt, sondern sich Ihre Steuervorschläge im Einzelnen ansieht und versucht, das noch einmal seriös durchzurechnen, dann kommt man vielleicht auf 50 Milliarden Euro. Gut, aber, werte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, was sollen wir denn nun tun? Sollen wir Ihre Steuervorschläge inhaltlich ernst nehmen, aber die Finanzierungszahlen nicht, oder sollen wir die Finanzierungszahlen ernst nehmen, aber Ihre Steuervorschläge nicht? Wie man es dreht und wendet: Dieser Antrag ist schlichtweg nicht ernst zu nehmen.
Das bedauere ich wirklich; denn bei der Aufgabe, vor der wir in Deutschland stehen, nämlich die wachsende Schere zwischen Arm und Reich in diesem Lande wieder zu schließen, brauchen wir Verbündete, aber es braucht nun einmal ernstzunehmende Verbündete.
Die Aufgaben sind eben nicht klein: Bis heute leistet die Finanzwirtschaft, die vom Steuerzahler teuer vor dem Kollaps gerettet werden musste, eben keinen Beitrag zur Finanzierung der Kosten der Krise. Bis heute - so hat das Umweltbundesamt ausgerechnet - leistet sich Deutschland jährlich 48 Milliarden Euro an umweltschädlichen Subventionen. Bis heute sind Finanzämter, insbesondere in schwarz-gelb regierten Bundesländern, personell so unterbesetzt, dass Steuerhinterziehung inzwischen zum Volkssport geworden ist und die Finanzämter nicht in der Lage sind, für einen gleichmäßigen Steuervollzug zu sorgen. Diese Liste lässt sich fast unendlich fortführen. Das ist nicht hinnehmbar.
Die Stimmung in Deutschland ist prekär geworden. Am 3. Oktober 2010 hat beispielsweise die Journalistin Tissy Bruns, sicherlich stellvertretend für viele, angesichts der wachsenden Ungleichheit, die viele Menschen verunsichert, stresst und entmutigt, im Tagesspiegel sehr grundsätzlich noch einmal die Frage aufgeworfen:
Sind wir noch das Land der sozialen Marktwirtschaft, das Spitzenprodukt des europäischen Sozialstaatsmodells?
Nicht weniger als der Grundkonsens unserer Gesellschaft ist inzwischen dank Schwarz-Gelb gefährdet. Darauf brauchen wir Antworten, aber keine scheinkonkreten, sondern tatsächlich machbare und umsetzbare Vorschläge, werte Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion.
Besonders geärgert habe ich mich über Ihre sogenannte Millionärsteuer. So nennen Sie ja Ihre Vermögensteuer. Endlich gibt es in dieser Gesellschaft wieder eine aufkommende Bereitschaft, ernsthaft über die Erhebung einer Vermögensteuer oder Vermögensabgabe, die wir fordern, zu reden. Vermögende tun sich zusammen, werben öffentlich für die Idee und schalten Anzeigen. Andere Bündnisse beginnen sich zu sammeln. In dieser Situation legen Sie einen Antrag vor, in dem Sie allen Ernstes vorschlagen, eine Vermögensteuer mit einem Steuersatz von 5 Prozent einzuführen. Aber damit nicht genug: Zusammen mit Ihrem Einkommensteuerkonzept müssen Millionäre sichere Durchschnittsrenditen von nicht 5 Prozent, nein, von 11 Prozent erzielen, um die Steuern zahlen zu können und bei plus/minus null herauszukommen. Das heißt, jeder Anleger macht mit seiner Vermögensanlage im besten Fall keinen Verlust. Im Normalfall zahlt er, egal bei welcher Anlage, drauf. Das freut natürlich jeden Schwundgeldtheoretiker.
Aber ich frage Sie allen Ernstes: Was soll der Quatsch?
Sie müssten wissen, dass Vermögen seinen Marktwert verliert, wenn keine Erträge erwirtschaftet werden. Bei einer Vermögensteuer von 5 Prozent wäre der Preisverfall bei Aktien, Häuser, Unternehmen und Betriebsvermögen gigantisch. Ein Verfall von mindestens 80 Prozent ist nicht unrealistisch. Das würde, ehrlich gesagt, nicht nur die Börsenspekulanten sehr nervös machen.
Mein Problem ist: Mit solchen steuerpolitischen Konzepten schaden Sie nicht nur sich und Ihrer politischen Glaubwürdigkeit - das kann mir herzlich egal sein -, sondern Sie diskreditieren damit die gesamte Idee einer Vermögensteuer oder Vermögensabgabe.
Sie stellen sich damit schlichtweg außerhalb einer jeden ernsthaften Debatte um das Wie einer stärkeren Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Mit diesem Antrag erweisen Sie deshalb sich, aber vor allem der Sache, einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit, einen Bärendienst. Deswegen fordere ich Sie ernsthaft auf: Ziehen Sie den Antrag zurück! Fangen Sie noch einmal neu an!
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Dr. Höll.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Danke, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Kollegin Paus, ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass Sie in der Auseinandersetzung versuchen, unseren Antrag als unernst zu bezeichnen. Wir können festhalten, dass wir als Linke seit Jahren dafür kämpfen, wieder eine Vermögensbesteuerung einzuführen. Sie, die SPD und die Grünen, waren die ganze Zeit absolut nicht dafür. Es freut mich, dass Sie inzwischen dazugelernt haben und das Thema wieder angehen wollen.
Wir können uns gerne über die Höhe streiten. Wir haben jetzt 5 Prozent vorgelegt. Man kann darüber streiten. Sie können auch 1 Prozent oder 2 Prozent vorschlagen. Aber das ist eine andere Frage. Ich denke, es sollte politisch darum gehen, zu zeigen, dass die Vermögen besteuert werden müssen.
Es wird auch nicht alles wegbesteuert. Wir haben einen Freibetrag von 1 Million Euro vorgeschlagen. Sie wissen selbst, dass es riesige Unterschiede gibt. Es geht um Privatvermögen, Herr Gutting und Herr Wissing. Das haben Sie vorhin nicht ganz richtig mitbekommen. Wer großes Vermögen hat, kann hier oftmals ganz andere Renditen erwirtschaften.
Ich persönlich finde es bei einem Freibetrag von 1 Million Euro nicht sakrosankt - das ist damals selbst in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht einheitlich abgelehnt worden -, wenn man mit einer Besteuerung zu einer Umverteilung kommen will und vielleicht auch ein kleines bisschen an die Substanz herangeht. Darüber sollte man tatsächlich nachdenken. Aus welchen Gründen sollen riesige Vermögen so aufgehäuft bleiben und als sakrosankt erklärt werden?
Hier ist über die Leistungsträger gesprochen worden. Dazu möchte ich sagen: Erstens haben wir eine Verschiebung. Über 50 Prozent der Steuern, die eingenommen werden, kommen aus der indirekten Besteuerung. Jede Hartz-IV-Bezieherin und jede alleinerziehende Mutter, die für ihr Kind einkauft, muss indirekte Steuern zahlen. Das heißt, alle zahlen einen großen Beitrag. Auch alle, die leider keine Arbeit haben oder so niedrig bezahlt werden, dass sie Sozialleistungen beziehen müssen, zahlen Steuern. Sie zahlen nämlich Verbrauchsteuern. Das muss man vorneweg stellen.
Herr Wissing, ich verlange, dass Sie den Antrag richtig lesen. Wir haben darin aufgenommen, was wir in der letzten Legislaturperiode gefordert haben, nämlich die Streichung des Waigel-Bauches, den die schwarz-gelbe Koalition eingeführt hat.
Ein linear-progressiver Tarif bedeutet eine Entlastung der mittleren Einkommensgruppen. Wir entlasten bis zu einem zu versteuernden Einkommen von über 70 245 Euro. Wir gehen mit unserer Verschiebung nämlich auch auf die kalte Progression ein.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, ich darf Sie unterbrechen. Die Redezeit für die Kurzintervention beträgt nur drei Minuten.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Das ist eine ordentliche Politik für die Bezieher mittlerer Einkommen. Das können Sie nicht einfach beiseitewischen. Wenn Sie das Gegenteil behaupten, ist das die Unwahrheit.
Danke.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Zur Erwiderung, Frau Paus.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Dr. Höll, ich will mit Ihnen darüber diskutieren, wie Umverteilung gehen kann, allerdings anhand von machbaren Konzepten. Deswegen ärgert mich Ihr jetziger Vorschlag. Darüber haben wir schon im Februar dieses Jahres geredet. Selbst wenn Ihr versammelter Sachverstand es vorher nicht bemerkt hat, sollten Sie spätestens nach der Debatte über die von Ihnen vorgeschlagene Millionärsteuer im Februar eigentlich in sich gegangen sein. Sie selber rühmen sich mit Ihrem Sachverstand. Die Linksfraktion hat einen Chefvolkswirt, Herrn Schlecht. Die Linksfraktion hat in ihren Reihen einen emeritierten Professor der Volkswirtschaftslehre, Herrn Dr. Schui. Die Linksfraktion hat einen promovierten Volkswirt, der gerade neben Ihnen sitzt, Herrn Dr. Axel Troost. Dieser versammelte Sachverstand kommt zu dem unsinnigen Ergebnis, dass eine Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent ein Aufkommen in Höhe von 80 Milliarden Euro bringen soll. Wenn ein solcher Unsinn erzählt wird, dann ist irgendwann - es tut mir leid - die Grenze der Diskussionsfähigkeit erreicht.
Ich möchte mit Ihnen darüber reden, wie wir Deutschland tatsächlich sozial gerechter gestalten können, aber anhand von machbaren Vorschlägen. Ich möchte mich mit den unsinnigen Vorschlägen der schwarz-gelben Koalition auseinandersetzen. Aber Sie leisten uns einen Bärendienst und spielen der Koalition in die Hände, weil Sie Vorschläge machen, die nicht funktionieren.
Das nutzt niemandem. Deswegen habe ich hier die Gelegenheit ergriffen, zu sagen: Kehren Sie zu einer vernünftigen Grundlage zurück, auf der man diskutieren kann!
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Frank Steffel für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht sollte die Opposition ihre Bewertung und Kritik noch einmal untereinander klären. Normalerweise sollten Opposition und Regierung hier miteinander ringen.
Ich will auf einen Punkt hinweisen - ich habe der Debatte sehr intensiv gelauscht -, der mir auffällt. Ich habe den Eindruck, dass sich vier Fraktionen sehr ernsthaft bemühen, im Detail darum zu ringen, welches der richtige Weg hin zu sozialer Gerechtigkeit ist, welche die richtige Verteilung der Lasten ist - das betrifft letztendlich rund 82 Millionen Deutsche -, die dazu beiträgt, dass die Politik ihrem Auftrag, soziale Gerechtigkeit herzustellen - Starke müssen gefordert und Schwache gefördert werden -, nachkommen kann. Keiner von uns hat heute die Lösung für die nächsten zehn Jahre. Die Welt verändert sich. Wir müssen uns anpassen. Deutschland muss sich anpassen. Die Politik muss sich anpassen. Europa muss sich auf neue Herausforderungen einstellen. Deswegen ist die Debatte zwischen den vier genannten Fraktionen aus meiner Sicht zielführend und richtig.
Es lässt uns alle nicht kalt, wenn wir wissen, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland - übrigens am stärksten unter Rot-Grün - immer weiter auseinandergeht. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wissen, dass Alleinerziehende mit geringem Einkommen es in diesem Land verdammt schwer haben, ihren Kindern einen Lebensweg, einen Berufsweg und eine Perspektive zu eröffnen. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wissen, dass 58-, 59- und 60-jährige Menschen unverschuldet ihren Job verlieren und dann am Rand der Gesellschaft, am Rand des sozial Zumutbaren in diesem Land leben müssen. Wir alle gemeinsam sind mit der Beantwortung der Frage befasst, was wir tun können. Woher können wir Geld nehmen, das wir dringend brauchen, wohlwissend, dass Schulden zulasten der nächsten Generation nicht die richtige und verantwortungsvolle Antwort sein können?
Im Übrigen haben Sie intensiv gegen die Einführung der Schuldenbremse gearbeitet; das sei nur erwähnt.
Ich gebe Ihnen recht, Frau Höll. Sie haben gesagt - ich fand diesen Satz ein Stück weit entlarvend; Sie fanden ihn wahrscheinlich ehrlich -: Es gibt eine Alternative. - Ja, den Eindruck habe ich auch. Es gibt vier Parteien, die um die Ausgestaltung des Erfolgsmodells soziale Marktwirtschaft ringen. Es gibt eine Partei, die eine Alternative hat. Sie haben eine Alternative, die mit der heutigen sozialen Marktwirtschaft nichts zu tun hat. Sie wollen Sozialismus. Sie wollen Kommunismus. Ich werfe Ihnen das nicht vor; das ist völlig legitim.
Dafür werden Sie gewählt. Das ist Ihre Alternative. Ich sage Ihnen: Erstens. Diese Alternative ist gescheitert. Sie ist nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt gescheitert.
Zweitens. Wir wollen diese Alternative nicht. Auch das gehört zur Wahrheit. Wir haben eine andere Vorstellung von dieser Gesellschaft.
Man könnte es sich sehr leicht machen. Ich habe den letzten Wahlkampf aufmerksam verfolgt. Die Linke hat damals an der einen Laterne plakatiert - Sie erinnern sich vielleicht -: ?Reichtum für alle?. An der nächsten Laterne hing ein Plakat: ?Reichtum besteuern?. Ja, meine Damen und Herren, das heißt im Ergebnis höhere Steuern für alle.
Es disqualifiziert Sie und zeigt, worum es Ihnen wirklich geht. Zumindest hat es mit seriöser Politik überhaupt nichts zu tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es auch mit den Fakten. Es ist eine wichtige und eine schwierige Debatte, und ich habe den Eindruck, dass zumindest zum Teil ein falsches Bild von diesem Land gezeichnet und damit ein falscher Eindruck erweckt wird. Ich weiß auch, Frau Kressl, dass Lohn- und Einkommensteuer nicht alles sind; das ist völlig klar. Wir haben Unternehmensteuern, sowohl bei Körperschaften als natürlich auch bei Privatunternehmen, die übrigens sehr massiv dazu beitragen, dass in diesem Land und gerade in den Kommunen erhebliche Steuermittel zur Verfügung stehen. Außerdem gibt es in Deutschland Erbschaftsteuern. Das ist eine ganz schwierige Debatte; wir alle kennen aus unseren Wahlkreisen, aus dem familiären Umfeld das Argument, das sei ja alles schon einmal versteuert, man habe es gespart und müsse jetzt noch einmal Steuern bezahlen. Das sind ganz schwierige Themen.
Aber lassen Sie uns bei Lohn- und Einkommensteuern bleiben. Dazu nenne ich noch einmal drei, vier Zahlen, auch für unsere zumeist jungen Zuschauer. Meine Damen und Herren, 10 Prozent der Steuerpflichtigen in Deutschland schultern 55 Prozent unserer Lohn- und Einkommensteuern.
Diese Zahl müssen wir einfach einmal ganz nüchtern zur Kenntnis nehmen.
Ich nenne in diesem Zusammenhang die zweite Zahl: 50 Prozent der Steuerpflichtigen - das sind übrigens auch fleißige Menschen, die in diesem Land jeden Morgen aufstehen und arbeiten - zahlen nur 5 Prozent der Lohn- und Einkommensteuern in Deutschland. Die Hälfte der Menschen trägt also nur mit 5 Prozent bei. Wer jetzt den Eindruck erweckt, das wäre ein ungerechtes Steuersystem, der streut den Menschen bewusst Sand in die Augen.
Ich will einen zweiten Punkt nennen. Durch die Entscheidung dieser schwarz-gelben Koalition ist seit diesem Jahr der Grundfreibetrag für Kinder auf 7 000 Euro erhöht, und gleichzeitig können Krankenversicherungsbeiträge abgesetzt werden.
Meine Damen und Herren, das bedeutet, dass eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern in Deutschland bis zu 36 000 Euro Jahreseinkommen keinen Cent Steuern mehr bezahlt. Auch das ist eine ganz soziale und gerechte Politik. Man könnte sagen, gerechter und sozialer geht es zumindest für diesen Teil der Gesellschaft schon überhaupt nicht mehr.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Steffel, der Herr Kollege Troost würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU):
Nein. - Wir haben weitere Fakten, die spannend sind. Was ist der Spitzensteuersatz? Ich will Ihnen auch das kurz vortragen. Diesen Steuersatz hat übrigens Rot-Grün gesenkt. Als Rot-Grün 1998 antrat, betrug der Spitzensteuersatz 53 Prozent, übrigens primär, um nach der deutschen Einheit die Lasten Ihrer SED-Erbschaft zu bewältigen, um das auch einmal klar zu sagen.
Der Spitzensteuersatz wurde von Rot-Grün von 53 Prozent bis 2005 auf 42 Prozent gesenkt. Ich sage auch das nur zur Versachlichung der Debatte.
Er liegt heute bei 42 Prozent. Wir haben 3 Prozent Reichensteuer, wir haben 5,5 Prozent Soli. Das sind 47,48 Prozent. Hinzu kommt - dies möchte ich auch einmal erwähnen -, dass 55 Millionen Deutsche Mitglied einer Kirche sind. 61,3 Prozent der Steuerzahler oder fast 25 Millionen Deutsche zahlen zusätzlich 9 Prozent Kirchensteuer, die übrigens vielfach auch für sehr sinnvolle soziale Dinge eingesetzt wird. Das heißt im Ergebnis: 51 Prozent ist der Spitzensteuersatz für diese Menschen. Oder um es umzudrehen: Von jedem Euro, den man verdient, wird die Hälfte weggesteuert. Auch das gehört zur Wahrheit in diesem Land.
Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen. Sie reden von Millionären. Jetzt sage ich einmal für unsere jungen Zuschauer, wovon wir eigentlich reden. 2002 gab es in Deutschland 9 462 Menschen, die mehr als eine Million verdient haben. 2003 gab es 8 509 und 2004 gab es 9 524 Menschen, die in Deutschland mehr als eine Million verdient haben. Ich will gar nicht beurteilen, ob sie zu viel verdienen oder zu wenig oder ob es gerade recht ist. Ich sage nur eines: Selbst wenn Sie diese Menschen brutal enteigneten, trüge das zur Gerechtigkeit und zum Sozialstaat überhaupt nichts bei. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen eher unser Land verlassen und in die Schweiz oder in andere Länder gehen, halte ich für größer. Deshalb ist auch hier Sachlichkeit in der Debatte hilfreich und nicht Polemik gegen vermeintliche Millionäre.
Ich will Ihnen auch einen zweiten Punkt nennen, indirekte Steuern. Meine Damen und Herren, was gibt es Gerechteres, als Folgendes zu sagen: Für die Waren des täglichen Bedarfs, insbesondere Lebensmittel, zahlt man in diesem Land etwa ein Drittel der Mehrwertsteuer, nämlich 7 Prozent, der 19 Prozent, die man ansonsten für alle anderen Dinge bezahlt. Auch hier haben wir in den letzten Jahren immer darauf geachtet, dass diese 7 Prozent nicht erhöht wurden. Egal was wir mit der Mehrwertsteuer tun, ist völlig klar, dass Lebensmittel - das betrifft gerade Menschen in Deutschland, die wenig Geld haben - weiterhin nur mit 7 Prozent besteuert werden. Auch das ist ein Teil einer sozial verantwortungsvollen und gerechten Politik.
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass von den Steuern, über die wir hier alle reden und streiten, im Bundeshaushalt 56 Prozent für Soziales aufgewandt werden. Mehr als die Hälfte der Steuereinnahmen der Bundesrepublik Deutschland wird für Sozialtransfers, wird für die Unterstützung von Menschen aufgewandt, die unser aller Unterstützung bedürfen und die wir ihnen übrigens alle gerne geben.
Da ich gerade über das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft rede: Lassen Sie mich mit einem Gedanken von Ludwig Erhard enden. Ludwig Erhard hat, wie ich finde, zu Recht darauf hingewiesen, dass am Ende des Versorgungsstaates der soziale Untertan steht und nicht der eigenverantwortliche Bürger. Ich glaube, wir tun nach über 60 Jahren Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gut daran, unseren Bürgern Freiheit zuzutrauen, ihnen aber durch das Modell der sozialen Marktwirtschaft Sicherheit zu geben und sie nicht durch permanente Umverteilung zu sozialen Untertanen zu machen, was erstens Leistung und Leistungsbereitschaft hemmt und zweitens nach meiner Einschätzung dieses Land im weltweiten Wettbewerb zurückwirft und nicht voranbringt.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Troost.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
Ich fasse mich kurz. Es geht in der Tat um Statistik. Ich fordere alle auf, die das interessiert, sich auf meiner Internetseite einfach einmal die entsprechenden Tabellen anzuschauen. Es ist zwar immer schön, zu sagen: ?Soundso viel Prozent bringen soundso viel Prozent der Steuereinnahmen?; aber man muss auch einmal zur Kenntnis nehmen, wie die Vermögens- und Einkommenskonzentration in diesem Land ist. Wenn diejenigen 10 Prozent der Bevölkerung, die für 50 Prozent des Steueraufkommens sorgen, über 60 Prozent des gesamten Vermögens haben, dann ist das, was wir wollen, eben keine riesige Umverteilung, sondern nur gerecht. Man kann also nicht immer nur bestimmte Zahlen nennen, sondern man muss auch sagen, wie Vermögen und Einkommen in der Bundesrepublik verteilt sind. Da sieht man eben eine ganz starke Konzentration. Das Ganze ist eine Frage der Empirie, und die sollte man sich einfach einmal genau anschauen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Hinz für die SPD-Fraktion.
Petra Hinz (Essen) (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein Armutszeugnis - das muss ich in der Tat so sagen -, dass hier von der Regierungskoalition immer wieder deutlich gemacht wird, dass sich Leistung lohnen muss.
- Herr Wissing, melden Sie sich.
Ansonsten ist es für alle anderen schwierig, nachzuvollziehen, was Sie sagen. Die Zeit zur Beantwortung einer Zwischenfrage nehme ich mir gerne. - In der Tat müssen Menschen, die den ganzen Tag arbeiten und von dem, was sie durch ihre Arbeit erhalten, letzten Endes nicht leben können, ihre Familie nicht ernähren können, anschließend aufstocken. Diesen Menschen sagen Sie bitte noch einmal, und zwar vis-à-vis, also ins Gesicht: Leistung muss sich lohnen.
Auch wenn ich nicht weiß, ob es parlamentarisch ist oder nicht, traue ich mich einfach, zu sagen: Ich finde es menschenverachtend.
Im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise gab es hier Situationen, in denen ich in der Tat den Eindruck gewinnen konnte, dass wir gemeinsam über alle Fraktionen hinweg die Krise bewältigen wollen, dass wir hier gemeinsam erkannt haben, was die Krise unter anderem verursacht hat. Wir können sicherlich nicht alle Punkte der Krise im Einzelnen beschreiben und national bewältigen. Ich hatte schon den Eindruck, dass alle Fraktionen hier mit der Wirtschafts- und Finanzkrise fertig werden wollten. Doch was jetzt nach der Bundestagswahl hier von der Regierung - zu einem gewissen Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, es handele sich teilweise um einen Selbstfindungsklub - auf den Weg gebracht worden ist, war, muss ich sagen, alles andere als steuerfreundlich für die Menschen, obwohl Sie unbedingt für die Leistungsträger Politik machen wollen.
Ich möchte das ganz gerne einmal herunterbrechen auf die kommunale Ebene. All das, was auf EU-Ebene oder auf dieser Ebene beschlossen wird, hat letzten Endes Konsequenzen auf der kommunalen Ebene. Frau von der Leyen hat uns noch vor kurzem hier im Rahmen der Haushaltsdebatte mitgeteilt, wie sozial sie eingestellt ist; es müsse ein Bildungsgutschein eingeführt werden; die Kinder brauchten einen Gutschein dafür, dass sie in Sportvereine und woandershin gehen können.
Aber wissen Sie, warum die Kommunen in dieser Finanzsituation stecken?
Sie haben im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise jetzt noch einen draufgesetzt und mit den ganzen Beschlüssen, die Sie hier gefasst haben - Klientelpolitik und Geschenke -, den Kommunen in dieser schwierigen Situation noch zusätzlich Finanzkraft entzogen. Weil alles so schön ist, müssen jetzt diejenigen, die am wenigsten haben, aufgrund der neuerlichen Abgaben- und Gebührensteigerungen noch mehr zahlen. Das ist das Ende vom Lied.
Auch hier bemühe ich gar nicht meine Statistiken oder Erfahrungen aus meiner Kommune, sondern dafür gibt es offizielle Zahlen, die jetzt schon deutlich machen, dass 46 Prozent der Kommunen in Deutschland darüber nachdenken, ihren Grundsteuerhebesatz zu erhöhen, um eine einigermaßen erträgliche Einnahmesituation vorzufinden. Wenn Sie über Abgaben keine ausreichenden Einnahmen erreichen, werden sie ihre Gebühren für Bibliotheken, Kultureinrichtungen wie Theater und sonstige Bereiche erhöhen, die von Frau von der Leyen ach so sozial gefördert werden sollen. Sie geht ja förmlich in der Aufgabe auf, dass all unsere Kinder eine Bildungschance haben. Ich muss Ihnen sagen: Das ist heuchlerisch, weil Sie auf der einen Seite den Kommunen und damit den Menschen vor Ort die Gelder nehmen und auf der anderen Seite so tun, als gäben Sie ihnen ganz generös, ganz großzügig Gelder zurück. Das sind dann diejenigen, von denen Sie sagen, es seien keine Leistungsträger, sondern Menschen, die alimentiert würden.
Sie hätten in den zurückliegenden Monaten, seitdem Sie die Verantwortung haben oder wenigstens hätten übernehmen sollen - Sie sollen endlich einmal dazu stehen, dass Sie Verantwortung haben -, dazu beitragen können, dass die Kommunen entlastet werden. Aber nein, was machen Sie? Sie setzen eine Kommission ein, die letzten Endes keinen anderen Auftrag hat, als die Gewerbesteuer abzuschaffen.
In der zurückliegenden Wahlperiode haben wir gemeinsam alle Gutachter gehört, die es zu diesem Thema überhaupt gibt, und dann festgestellt, dass es keine Alternative zur Gewerbesteuer gibt.
Jetzt bin ich gespannt, was aus diesem großen Überraschungspaket herauskommen wird; denn wir bekommen im Fachausschuss, dem Finanzausschuss, auf die Nachfrage, wie weit der Stand der Umsetzung sei, immer nur einen Brosamen hingelegt, ohne dass wir tatsächlich darauf reagieren könnten. Wir haben in der Großen Koalition dafür gesorgt, dass in unserem Land ordentlich mit der Finanz- und Wirtschaftskrise umgegangen wurde. Nicht zuletzt war es unser Finanzminister Peer Steinbrück, der sehr intelligente Konzepte auf den Tisch gelegt hat, etwa das Konjunkturpaket, aber auch intelligente Konzepte, um die Kommunen zu entlasten.
Das einzige, was in dieser Wahlperiode bei Ihrer Klientelpolitik herausgekommen ist, ist die Entlastung der Hoteliers. Außerdem haben Sie dazu beigetragen, dass die Kommunen weitere Steuerausfälle hinnehmen mussten. Auch im Bereich der Unternehmensteuern haben Sie entsprechende Kürzungen zulasten der Kommunen vorgenommen. Ihre Steuer- und Finanzpolitik ist absolute Klientelpolitik.
- Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich, weil Sie sich doch standhaft weigern, einen Mindestlohn einzuführen. Sie sagen zwar immer, wir brauchten ihn nicht, weil Tarife eingehalten würden; aber wenn doch alles so klar ist, warum trauen Sie sich dann nicht, diesen Schritt mit uns zu gehen und einen Mindestlohn einzuführen? Wissen Sie denn eigentlich, wie viele Steuern und Abgaben ein Alleinstehender, der gerade einmal 8,50 Euro bekommt - das wäre gerade so eben ein Mindestlohn - zu leisten hat? Davon haben Sie gar keine Idee, weil Sie sich in ihn gar nicht hineinversetzen können.
Dieser Alleinstehende, der gerade einmal 8,50 Euro verdient - es muss richtig heißen: erhält; er verdient eigentlich mehr -, zahlt 270 Euro an Abgaben und 70 Euro an Steuern. Wenn wir über ein Konzept reden, dann gehören die Abgaben und Steuern dazu, um tatsächlich den Menschen helfen zu können.
Zum Antrag der Linken muss ich Ihnen sagen - -
- Damit Sie alle mitbekommen, was der Herr hier lächelnd gesagt hat: Endlich komme ich zum Antrag. - Wissen Sie mein lieber Kollege, wenn Sie so mit den Nöten der Menschen umgehen, dann wundert es mich auch nicht, dass Sie nicht nachvollziehen können, warum wir einen Mindestlohn brauchen.
Damit Menschen von ihrer Arbeit leben können! Über diese Menschen müssen wir uns unterhalten
und nicht über die, die sehr viel Vermögen haben und für das Gemeinwohl etwas geben können. Nur dann, wenn wir insgesamt das Gemeinwohl stärken, können wir alles das angehen, was meine Kollegin schon sehr deutlich angesprochen hat: Bildung, Sicherheit vor sozialen Notlagen, öffentliche Infrastruktur.
Zum Antrag der Linken ganz kurz. Auch ich muss sagen: Er ist leider ein Sammelsurium von vielen Punkten, über die man im Einzelnen reden müsste.
Die eine oder andere Darlegung, die Sie im Rahmen Ihrer Statistik gemacht haben, ist für uns nicht ganz nachzuvollziehen. Insofern bin ich auf die Diskussion im Ausschuss gespannt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Daniel Volk.
Dr. Daniel Volk (FDP):
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Frau Hinz, ich fand es gerade sehr faszinierend,
dass Sie aufgezählt haben, was wir in den letzten zwölf Monaten alles nicht gemacht haben,
aus Ihrer Sicht aber hätten machen müssen.
Sie hatten elf Jahre Zeit, um all das, was Sie hier als Wunschkalender aufgeblättert haben, in Regierungsverantwortung umzusetzen. Angesichts dessen war Ihr Beitrag in diesem Hause ein großes Armutszeugnis.
- Wenn Sie darauf verweisen, dass Sie nicht allein regieren durften, kann ich Ihnen nur empfehlen: Schauen Sie sich einmal an, wie wir in der christlich-liberalen Koalition in bester Partnerschaft Regierungspolitik zum Wohle unseres Landes gestalten,
im Gegensatz zu der Finanzpolitik Ihrer SPD-Finanzminster - einer ist jetzt bei der Linkspartei; das ist so -, gerade im Bereich der Kommunalfinanzen.
Sie beklagen jetzt, dass die Kommunen zu wenig Einnahmen hätten, zu wenig Finanzmittel zur Verfügung hätten.
Diese Situation war bereits im Jahre 2009 gegeben, und das war ja wohl noch zur Zeit Ihrer Regierungsverantwortung.
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass die Übertragung von Aufgaben an die Kommunen, ohne ihnen gleichzeitig die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen, ein sehr beliebtes Projekt der damaligen rot-grünen Bundesregierung war. Das müssen Sie der Ehrlichkeit halber auch einmal erwähnen.
Ich fand die bisherige Debatte sehr faszinierend. Es hat sich gezeigt, was eine rot-grüne oder rot-grün-rote Regierung in diesem Land machen würde.
Frau Kressl hat uns dargelegt
- pastoral -, man müsse sich zunächst Gedanken darüber machen, wie viel Geld der Staat brauche,
erst danach müsse man überlegen, wie hoch die Steuerbelastung sein müsse.
Ich kann dazu nur sagen: Jeder Bürger dieses Landes sollte bei einem solchen Ansatz Angst bekommen.
Sie haben in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Duldung der Linkspartei.
Das Erste, was diese rot-grüne Minderheitsregierung unter Duldung der Linkspartei macht, ist, deutlich - ganz deutlich - in die Erhöhung der Neuverschuldung zu gehen.
Das ist keine seriöse Finanzpolitik. Sie würden Selbiges auf Bundesebene genauso machen. Sie würden wahrscheinlich das eine oder andere Lieblingsprojekt der Linkspartei finanzieren, damit die Linkspartei Sie duldet.
Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist nicht unser Ansatzpunkt.
Unser Ansatzpunkt ist zunächst, sich zu überlegen, wie eine Balance, ein vernünftiger Ausgleich
zwischen den staatlichen Aufgaben und der Steuerlast der Bürger aussieht.
Ich will einmal ganz klar sagen, was Sie machen würden. Sie haben ja die Maßnahmen genannt.
Es würde eine Vermögensabgabe geben. Sie, Frau Paus, haben ja bestätigt, dass Sie eine Vermögensabgabe einführen wollen.
Sie würden also auf die Vermögen zugreifen. Ich finde es übrigens sehr putzig, dass die Linkspartei eine Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent will. Das würde dazu führen, dass diejenigen, die ihr Geld relativ sicher bzw. konservativ anlegen - Kollege Gutting hat es ausgeführt -, aus der Rendite gar nicht die Steuern bezahlen könnten. Sie würden damit die Vermögenden zu hochriskanten Spekulanten machen.
Ihnen bliebe gar nichts anderes übrig. Das ist ja etwas, was Sie ansonsten bekämpfen und verurteilen.
Frau Kressl hat dann gesagt, was in einem anderen Bereich kommen würde, wenn es eine linke Mehrheit in diesem Land geben würde und diese an die Macht käme. Diese würde - Sie sagen das so schön - für eine Verstetigung der Gewerbesteuer sorgen.
Aber was steckt hinter der Forderung nach einer Verstetigung der Gewerbesteuer? Eine massive Substanzbesteuerung.
Damit gefährden Sie Arbeitsplätze. Damit gefährden Sie Betriebe. Sie provozieren damit, dass Betriebe in Deutschland Arbeitsplätze abbauen und ins Ausland ziehen. Nur so wäre für sie nämlich eine wirtschaftliche Betriebsführung überhaupt noch möglich.
Es ist also sehr interessant, was passieren würde, wenn eine linke Mehrheit in diesem Land die Macht übernehmen würde: Wir hätten eine Vermögensteuer, es gäbe eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, übrigens mit entsprechenden Folgen auch für die darunterliegenden Einkommensklassen.
Über die Gewerbesteuer würde eine Substanzbesteuerung vorgenommen. Im Übrigen gäbe es bei der Erbschaftsteuer vermutlich eine derartige Verschärfung, dass Erben von solchen Kleinunternehmen, die innerhalb der Familie weitergegeben werden sollen, so stark zur Kasse gebeten werden, dass sie gezwungen wären, diese Unternehmen plattzumachen.
Das ist keine wirtschaftlich sinnvolle Politik.
Was wirtschaftlich sinnvolle Politik ist, zeigt diese Bundesregierung. Schauen Sie sich die Arbeitsmarktdaten an. Dann sehen Sie, was wirtschaftlich sinnvolle Politik ist. Leistung muss sich wieder lohnen. Leistung kann erbracht werden, wenn die Arbeitslosenzahlen sinken. Das ist der Kurs unserer christlich-liberalen Koalition.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Thomas Gambke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Paus hat es schon gesagt: Angesichts der Mehreinnahmen in Höhe von 179 Milliarden Euro, davon 40 Milliarden Euro von den Unternehmen, könnte man für Nichtbefassung plädieren und sagen: Wir reden nicht weiter darüber. Aber die Themen Steuergerechtigkeit und solide Finanzierung des Staates haben eine große Bedeutung. Ich will deshalb zu zwei Punkten etwas sagen: Unternehmensteuern und Reform der ermäßigten Umsatzsteuersätze.
Unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit ist es natürlich richtig, dass Unternehmen einen Beitrag zur öffentlichen Daseinsvorsorge, zur kommunalen Infrastruktur leisten. Eine Verlagerung dieser Steuerlast von den Unternehmen auf die Bürgerinnen und Bürger ist inakzeptabel.
Unsere Kommunen stellen die Infrastruktur für die Unternehmen bereit. So ist es nur angemessen und gerecht, wenn die Unternehmen auch an den Kosten beteiligt werden. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Fachkräftemangel begegnet man mit besserer Bildung; diese muss finanziert werden. Unternehmen brauchen schnelle Datennetze; auch diese müssen finanziert werden. Es ist also ein Gebot der Steuergerechtigkeit, Unternehmen an der Finanzierung der entsprechenden Ausgaben zu beteiligen.
- Hören Sie zu.
So ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer auf die freien Berufe überfällig.
Es ist nicht nachvollziehbar, dass ein Architekt für eine Statikberechnung keine Gewerbesteuer zahlt, aber ein Ingenieurbüro für dieselbe Leistung gewerbesteuerpflichtig ist.
- Herr Volk, natürlich muss die Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer berücksichtigt werden; natürlich ergibt sich dadurch eine Verschiebung der Steuereinnahmen von Bund und Ländern zu den Kommunen.
Unter der Maßgabe der Aufkommensneutralität würde ein geringes Mehraufkommen vielleicht sogar Spielraum für eine Senkung der Gewerbesteuer schaffen. Ich persönlich bin der Auffassung, dass mit der Erweiterung auf die freien Berufe der Druck bei der Hinzurechnung genommen würde.
Steuergerechtigkeit heißt, alle Gewerbetreibenden zur Finanzierung der kommunalen Infrastruktur heranzuziehen und dabei auch die Leistungsfähigkeit der Unternehmen zu berücksichtigen.
Es geht um eine faire Belastung von Konzernen und kleinen Unternehmen. Es gibt Hinweise darauf, dass zum Beispiel die Sparkassen und Genossenschaftsbanken einen größeren Anteil an der Gewerbe- und Körperschaftsteuer zahlen als die Geschäftsbanken. Auch bei den Unternehmensteuern müssen wir auf einen fairen Ausgleich achten. Wir müssen die großen Konzerne genauso heranziehen wie die kleinen Unternehmen. Es muss ausgewogen sein; dort, wo es nicht ausgewogen ist, müssen wir Steuergerechtigkeit herstellen.
Kommen wir zur Umsatzsteuer. Ich hätte vermutet, dass uns der ordnungspolitische Sündenfall der Koalition vor weiteren Maßnahmen bewahren würde. Denn wir wollen nicht weiter in das Gestrüpp der Ausnahmen, der verminderten Mehrwertsteuersätze, gehen. Man kann es fast als amüsant bezeichnen, dass sich die Fraktion der Linken hier zum Sprachrohr der Pharmalobby macht,
wenn es nicht solch eine fatale Fehleinschätzung wäre.
Das Gleiche gilt für die Forderung nach einer Ermäßigung bei Kinderartikeln. Nein, die Umsatzsteuer ist nicht das geeignete Instrument, um zielgerichtet zu fördern und zu unterstützen; sie ist das falsche Instrument. Das wissen wir doch letztendlich aus der Diskussion um die Hotelbeglückungssteuer.
Wir Grüne schlagen eine sofortige Abschaffung der rein branchenspezifischen und nicht ausreichend begründeten Ermäßigungen bei der Umsatzsteuer vor. Dazu zählen wir die Ermäßigung auf Übernachtungen in den von Ihnen beglückten Hotels, die von der CSU durchgesetzte Ermäßigung für Skilifte sowie Ermäßigungen für Schnittblumen und Sportpferde. Durch eine Abschaffung erzielen wir zusätzliche Steuereinnahmen von 3 bis 4 Milliarden Euro. Das wäre ein schneller, sofort zu realisierender Beitrag zur Steuergerechtigkeit und zur Stabilisierung der staatlichen Einnahmen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Gambke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lutze?
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Gerne.
Thomas Lutze (DIE LINKE):
Herr Kollege, Sie haben schon einige Bereiche aufgezählt, in denen Sie die Ermäßigung der Mehrwertsteuer aufheben wollen. Ist Ihnen klar, dass Sie damit auch den öffentlichen Nahverkehr treffen, bei dem zurzeit ein ermäßigter Steuersatz erhoben wird?
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mir ist vollkommen klar, dass hier ein ermäßigter Steuersatz erhoben wird. Wenn Sie mir noch etwas zuhören, werden Sie meine Aussage dazu hören.
Herr Dautzenberg von der CDU/CSU zitiert richtig aus dem Beschluss der Bundestagsfraktion der Grünen vom Juli dieses Jahres. Er sagt nämlich: Wir müssen Lebensmittel, den öffentlichen Nahverkehr und die Kultur bei der Streichung von Mehrwertsteuerermäßigungen ausnehmen.
Natürlich müssen wir nach einem ersten Schritt der Abschaffung von Branchensubventionen - Hotelbeglückung - die verbleibenden Abgrenzungsschwierigkeiten lösen. Sie können aber Herrn Finanzminister Schäuble davon leider nicht überzeugen. Zudem verteidigt die CSU - so hört man - noch immer eifrig ihre Klientelgeschenke.
Die Koalition drückt sich vor Reformen in diesem schwierigen Feld.
Das gilt für die überfällige Reform der Mehrwertsteuersätze genauso wie für die staatliche Forschungsförderung. Angesichts der Kürzungen im sozialen Bereich im Rahmen der Sparbeschlüsse der Bundesregierung ist es schlicht ein Skandal, hier nicht weiterzumachen.
Lassen Sie mich zum Schluss auf das eigentliche Anliegen der Linken zurückkommen. Ja, wir müssen um mehr Steuergerechtigkeit kämpfen. Ja, ein wichtiger Beitrag dazu kann sein, weniger Ausnahmen bei der Umsatzsteuer zuzulassen, ebenso eine Gewerbesteuer, die um die freien Berufe erweitert ist, und ein Unternehmensteuerrecht, das kleine und mittlere Unternehmen fördert und die Steuergestaltung der großen Konzerne verhindert. Das müssen wir umsetzen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Der Kollege Dr. Hans Michelbach ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Gysi wirft in diesen Tagen seiner Partei Selbstbeschäftigung vor. Er muss den vorliegenden Antrag gemeint haben. Interessant und bunt wird es, wenn sich die vereinigte Opposition darüber streitet, wer am besten Umverteilungsorgien gestalten kann.
Wir sollten dabei nicht mitmachen. Der einzige Vorteil dieses Antrages ist, dass wir über die Zukunftsfähigkeit der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik debattieren können.
Ich sage frank und frei - das möchte ich für die Unionsfraktion festhalten -: Die CDU/CSU-Fraktion möchte nach wie vor eine aktive Steuerpolitik betreiben, um den gezielten Konsolidierungs- und Wachstumskurs zur Krisenbekämpfung erfolgreich zu gestalten. Dazu gehört für uns prioritär zunächst einmal eine Verbesserung unseres Steuersystems durch eine umfassende Steuervereinfachung. Wir werden im Januar des kommenden Jahres hierzu einen konkreten Vorschlag unterbreiten. Die Arbeiten dafür sind von vielen, auch von der Kollegin Tillmann und unserer Arbeitsgruppe, intensiv vorbereitet worden.
Wir wollen eine neue ordnungspolitische Linie im Steuersystem, sowohl bei der Mehrwertsteuer als auch bei der Einkommensteuer erreichen, Herr Gambke. Wir werden eine Kommission einsetzen.
Wir werden die Abgrenzungen und die neuen Weichenstellungen mit einer Mehrwertsteuerreform bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen vornehmen. Wir werden die Mehrwertsteuerreform zügig angehen und nicht auf die lange Bank schieben, weil die momentane Situation nicht so bleiben kann. Nun zu sagen: ?Es waren die Wünsche der einzelnen Fraktionen, die zu den schwierigen Abgrenzungen geführt haben?, ist falsch. Ich kann mich an die lange, intensive Diskussion mit der Kollegin Scheel über Schnittblumen noch sehr gut erinnern. Sie müssen beachten, wer zu welchem Sachverhalt beigetragen hat.
Wenn der ermäßigte Mehrwertsteuersatz künftig auf den Bereich der Daseinsvorsorge - Lebensmittel und kulturelle Leistungen; auch den öffentlichen Personennahverkehr halte ich für wichtig - beschränkt werden würde, könnten wir dadurch erzielte Einsparungen verwenden, um die kleinen und mittleren Einkommen in Verbindung mit einer Steuervereinfachung zu entlasten. Wir müssen auf ein Volumen in Höhe von etwa 5 Milliarden Euro kommen, um die unteren und mittleren Einkommen, insbesondere was den Mittelstandsbauch anbelangt, zu entlasten. Das muss unser Ziel sein. Ohne einen Leistungsanreiz werden wir nicht die Wachstumsziele erreichen, die wir erreichen wollen. Es muss unser Ziel sein, unser Konzept konzentriert voranzubringen, und das werden wir auch tun.
Wir haben mit dem Haushaltsbegleitgesetz unser Vorhaben in ein Konzept eingebunden. Es geht nicht ohne Ausgabenreduzierungen. Man kann die Überschuldung nicht nur über die Einnahmeseite bekämpfen.
Auch die Haushaltskonsolidierung durch Ausgabenreduzierung gehört dazu. Deswegen wollen wir auf beiden Seiten etwas tun. Bei den Verbrauchsteuern haben wir dort eine Erhöhung vorgesehen, wo wir es für sinnvoll und notwendig erachten, aber wir wollen keine Ertragsteuererhöhungen, weil letzten Endes dadurch die Grundsätze für die Zukunftsgestaltung, die Eigenkapitalbildung sowie die Konsummöglichkeit gestaltet werden. Es wäre absolut kontraproduktiv, wenn wir in diesem Bereich etwas tun würden.
Wir haben bereits - das war wesentlich für die Krisenbekämpfung - die unteren und mittleren Einkommen entlastet. Was wir getan haben, ist familienfreundlich. Eine Familie mit zwei Kindern wird durch die hohen Freibeträge erst ab einem Einkommen von 36 000 Euro in die Besteuerung kommen. Das ist gute Steuerpolitik.
Wir wollen, dass wir mehr Steuerzahler und weniger Transferempfänger haben. Ich habe den Eindruck, dass Sie grundsätzlich mehr Transferempfänger haben wollen.
Das ist natürlich ein völlig falscher Ansatz, den Sie auch in Ihrem Antrag verfolgen.
Unser Ziel ist es, den Haushalt zu konsolidieren, die Schuldenbremse einzuhalten und die Staatsfinanzen zukunftsfest zu machen, auch um Währungssicherheit zu schaffen. Unser Ziel ist es auch, Arbeit und Wohlstand für alle zu erreichen. Das geht nur mit einer gerechten Besteuerung, die Leistungswillige und Leistungsfähige nicht überfordert. Es ist notwendig, Leistungsanreize zu schaffen. Leistung muss sich lohnen.
Wenn Leistung sich lohnt, dann lohnt sie sich auch für den Fiskus. Nur so wird ein Schuh daraus. Jede Steuerstatistik zeigt, dass der Fiskus die besten Ergebnisse verzeichnet, wenn der Wirtschaftskreislauf funktioniert. Unser Fiskus steht im internationalen Steuerwettbewerb. Dem müssen wir uns stellen. Man kann nicht einfach so tun, als wäre man allein auf der Welt.
Der von Ihnen eingebrachte ideologische Gegenentwurf ist kein Ausweg aus der Krise. Er ist ein Irrweg. Ihr Konzept führt nicht aus der Krise, sondern es ist eher ein Weg zurück.
Wir dürfen uns nicht den Dingen widmen, die vielleicht zurück zu einer Kommando- und Staatswirtschaft, sonst aber zu keinem Ergebnis führen. Schauen Sie sich die Statistik über die Steuerzahler und die Belastungswirkungen an. Die Verbrauchsteuern betreffen alle Menschen gleichermaßen. Wer einen Verbrauch hat, zahlt natürlich dafür. Derjenige, der mehr Geld zur Verfügung hat und somit mehr konsumiert, muss natürlich mehr Verbrauchsteuern zahlen. Wichtig ist deshalb die Grundlage der Einkommensteuerstatistik. Es ist so, wie der Kollege Dr. Steffel gesagt hat:
Die unteren 50 Prozent der Steuerzahler zahlen 5 Prozent, die oberen 50 Prozent zahlen 95 Prozent des Steueraufkommens.
Das ist die Realität.
Jetzt sagt Herr Troost, dass die Einkommenskonzentration betrachtet werden muss. Es gibt in diesem Land 9 500 Einkommensmillionäre. Wenn diese über Anlage- oder Betriebsvermögen verfügen, dann leisten sie auch automatisch eine Gemeinwohlarbeit; denn sie stellen Arbeitsplätze zur Verfügung. Sie können diese Menschen nicht einfach aus dem Land treiben. Gönnen Sie ihnen doch, dass sie mehr haben. Sie tragen auch mehr Risiko und mehr Verantwortung für dieses Land. Sie sind sich im Großen und Ganzen - wir müssen sie im Einzelnen betrachten - ihrer Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl und den Arbeitsplätzen in diesem Land sehr wohl bewusst. Wir können es nicht zulassen, dass diese Leute an den Pranger gestellt werden.
Ob Spitzensteuersatz, Solidaritätszuschlag oder auch die Vermögensteuer: Sie wollen, dass wir die Leute in vielen Bereichen mit einem Satz von über 50 Prozent besteuern.
Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist zu kurz gedacht. Wenn Sie zum Beispiel die Vermögensteuer auf Anlagevermögen und Immobilien erheben, dann führt das zu einer Erhöhung auch der Mieten; das muss man ganz klar sehen. Wenn die Menschen zusätzlich belastet werden, dann reichen sie die Kosten dafür natürlich weiter. Es ist also alles zu kurz gedacht. Das ergibt in diesem Fall alles keinen Sinn.
Gleiches gilt für die Gemeindewirtschaftsteuer, die Sie anstelle der Gewerbesteuer fordern. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wenn die Betriebe keinen Gewinn machen, es also zur Substanzbesteuerung kommt, dann müssen sie die Steuern praktisch aus ihren liquiden Mitteln zahlen. Das kommt einem Anschlag auf diese Betriebe gleich. Das kann nicht sein. Sie müssen mit Vernunft an die Steuerpolitik herangehen. Natürlich braucht der Staat Geld. Die Leistungsfähigkeit muss aber erhalten bleiben. Das kann nur durch Leistungsanreize geschehen. Leistung muss sich lohnen. Dafür ist die Steuerpolitik eine wesentliche Voraussetzung. Steuerpolitik ist Gesellschaftspolitik. Wir wollen Wohlstand und Arbeit für alle. Das geht nur mit einer Steuerpolitik der Vernunft, wie wir sie betreiben.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion.
Antje Tillmann (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Aus dem Sammelsurium an Vorschlägen für Steuererhöhungen möchte ich einen herausnehmen, der die Kommunalpolitik betrifft. Sie haben heute erneut versucht, Fakten zu schaffen und die Gewerbesteuer zu verändern,
ohne die Ergebnisse der Gemeindefinanzkommission abzuwarten. Ich weiß nicht, warum Sie so viel Angst vor den Ergebnissen der Gemeindefinanzkommission haben und warum Sie nicht die Ruhe haben, die Ergebnisse, die im Herbst vorliegen sollen, abzuwarten. Ich finde es denjenigen gegenüber, die in der Kommission viel Zeit und Mühe investieren und Vorschläge erarbeiten, unfair, die Ergebnisse nicht abzuwarten. Herr Kollege Troost, erst recht finde ich es unfair, dass wir die Debatte hier führen, wo die kommunalen Vertreter nicht mitdiskutieren können. In der Kommunalkommission dürfen sie mitgestalten. Es ist das gute Recht der Vertreter der Kommunen und der kommunalen Spitzenverbände, über die Zukunft der kommunalen Steuern mitzuentscheiden.
Wir werden diese Ergebnisse abwarten und mit den Vertretern der Kommunen und der kommunalen Spitzenverbände gemeinsam nach Lösungen suchen.
Auch inhaltlich kann ich Ihrem Antrag nichts abgewinnen. Sie wollen die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer umarbeiten
und sprechen in diesem Zusammenhang von Mehreinnahmen in Höhe von 7 Milliarden bis 14 Milliarden Euro.
Da kann ich Frau Kollegin Paus nur zustimmen: Sie gehen mit den Milliardenbeträgen recht locker um. Für die Unternehmer spielt es schon eine Rolle, ob sie 7 oder 14 Milliarden Euro Steuern mehr zahlen sollen.
Ich hätte mich gefreut, wenn dieser Antrag etwas seriöser ausgestaltet gewesen wäre. Dann hätte man sich inhaltlich besser mit ihm befassen können.
Es wird behauptet, dass die Hinzurechnung der Gewerbetreibenden dazu führt, dass die Schwankungen bei der Gewerbesteuer nicht so hoch ausfallen. Die Erfahrungen zeigen aber genau das Gegenteil: Die Hinzurechnung der Finanzierungsaufwendungen führt nicht zu einer Stabilisierung des Gewerbesteueraufkommens. Die Unternehmen werden dadurch vielmehr zusätzlich in die Krise geführt, und zwar nicht die reichen Unternehmen, die Sie immer besteuern wollen, sondern die Unternehmen, die geringe Gewinne oder gegebenenfalls sogar Verlust machen. Diesen Unternehmen wollen Sie in der Verlustphase zusätzliche Steuern aufbürden, was mit Sicherheit Arbeitsplätze gefährden würde. Das werden wir nicht mitmachen. Ganz im Gegenteil: Wir werden versuchen, die ertragsunabhängigen Komponenten zurückzunehmen, und hierfür einen Ausgleich für die Kommunen finden. Dazu werden wir gemeinsam mit der Kommission Vorschläge unterbreiten.
Herr Kollege Gambke, ich bin kein großer Fan der Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler, und zwar nicht, weil ich als Steuerberaterin selbst davon betroffen wäre - Sie wissen selbst, dass mich das aufgrund der Anrechnung auf die Einkommensteuer nicht belasten würde -, sondern weil wir uns in anderen Gremien viel Mühe machen, um die Bürokratiekosten zu senken. Was würde die Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler bedeuten? Wir haben in Deutschland 1 Million Freiberufler. Das würde 1 Million zusätzliche Gewerbesteuererklärungen, 1 Million zusätzliche Gewerbesteuermessbescheide und 1 Million zusätzliche Gewerbesteuerbescheide bedeuten. Das wären 3 Millionen zusätzliche Vorgänge, durch die keine Mehreinnahmen erzielt würden;
denn in ganz großem Umfang würde das über die Einkommensteuer ausgeglichen werden. Dazu sage ich Ihnen sehr ernsthaft: Es wäre besser, wenn der Bund das Geld einfach so an die Kommunen überweist. Die Bürokratie und die damit verbundenen Kosten könnten wir uns dann sparen.
- Das darf er sehr wohl. Natürlich kann er das. Er kann den Kommunen Aufgaben entziehen und in die eigene Zuständigkeit überführen. Wir sind verfassungsrechtlich beschlagen genug, um Möglichkeiten dafür zu finden. In der Krise hat er das ja auch getan.
Frau Kollegin Hinz, ich bin froh, wenn Wahrheiten komplett dargestellt werden. Es wäre nett, wenn Sie mir zuhören würden, wenn ich mit Ihnen rede. Sie können das aber auch im Protokoll nachlesen. Es gab keine Phase, in der die Kommunen stärker belastet wurden als zwischen 2002 und 2005.
SPD-Regierungen haben die Kommunen fast in den Ruin getrieben. Erst seit 2005 verbessert sich die Einnahmesituation der Kommunen wieder, nicht zuletzt aufgrund der 10 Milliarden Euro, die mit dem Konjunkturpaket zur Verfügung gestellt wurden, durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm und durch die Arbeit der Gemeindefinanzkommission. Ich glaube, wir alle sind sicher, dass wir die Arbeit dieser Kommission nicht ohne Ergebnis beenden können.
Herr Kollege Troost, ich komme zum Thema Gewerbesteuerumlage. Auch diesbezüglich teile ich die Aussage der Kollegin Paus: Es macht keinen Spaß, sich mit Ihnen auseinanderzusetzen. Sie hören einfach nicht zu. Selbst wenn Sie ein Argument aufgegriffen haben, hält Sie das nicht davon ab, den gleichen Blocksatzantrag, den Sie hier schon fünfmal gestellt haben, ein weiteres Mal zu stellen. Die Gewerbesteuerumlage hilft natürlich nur den Kommunen, die viel Gewerbesteuer abführen. Vom Bund kämen dann zwar 1,2 Milliarden Euro, 2 Milliarden Euro von den Ländern. Ich kenne keinen einzigen Antrag der Linken in den Ländern, in dem darum gebeten wird, auf die Gewerbesteuerumlage zu verzichten. Sie machen das hier immer sehr öffentlichkeitswirksam, aber Fakten schaffen Sie nicht.
Ich bin sehr gespannt, ob Sie diesmal in den Haushaltsberatungen den Antrag stellen, der Bund solle auf 1,2 Milliarden Euro verzichten. Ich möchte ein Beispiel nennen, das zeigt, wie sich das auswirken würde: Die Städte Coburg und Frankfurt am Main hatten beispielsweise im Jahr 2008 ein Gewerbesteueraufkommen pro Einwohner von 2 600 bzw. 2 700 Euro; Weimar und Delmenhorst liegen hier bei 190 Euro. Wenn Sie also die Gewerbesteuerumlage abschaffen würden, würden Sie Städten helfen, die sowieso ein hohes Gewerbesteueraufkommen haben; Städten, die erhebliche finanzielle Sorgen haben, würde das gar nicht nutzen.
Das Blöde an der Diskussion ist, dass Sie so etwas zugestehen. Sobald die Kameras abgestellt sind, sagen Sie, dass genau das das Problem ist. Einen Monat später aber legen Sie denselben Antrag mit denselben Vorschlägen, die Sie vorher als unsinnig dargestellt haben, erneut vor.
Während Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken aus dem Finanzausschuss, sich als Retter der Kommunen üben, werfen Ihre Sozialpolitiker die Haushalte der Kommunen verbal komplett über den Haufen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Troost?
Antje Tillmann (CDU/CSU):
Gerne.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte sehr.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
Frau Kollegin Tillmann, es ist in der Tat so - das wissen wir -, dass das Gewerbesteueraufkommen zwischen den Kommunen, zwischen unterschiedlichen Strukturen von Städten, zwischen Großstadt und Umlandgemeinden und auch zwischen Ost und West sehr stark differiert. Deswegen sagen wir aber nicht, dass wir jetzt keine Gewerbesteuer mehr wollen. Wir wollen vielmehr eine eher gerechtere Verteilung.
Daher fordern wir die Einführung einer Gemeindewirtschaftsteuer, bei der die freien Berufe einbezogen werden, die wesentlich weniger streuen als Gewerbebetriebe. Das werden auch die Ergebnisse der Kommission zeigen. Es ist nicht unser Konzept, sondern das Konzept des Deutschen Städtetages, das wir hier vortragen. Natürlich profitieren erst einmal diejenigen Kommunen besonders, die ein hohes Gewerbesteueraufkommen haben bzw. dieses schon immer hatten. Die anderen bekommen durch andere Zuweisungen mehr. Das würde zu einer ersten Entlastung der Kommunen führen; denn es gibt keine anderen Schritte, um die Haushalte auf der kommunalen Ebene für 2011 und 2012 einigermaßen zu stabilisieren.
Antje Tillmann (CDU/CSU):
Lieber Kollege Troost, selbstverständlich gibt es andere Schritte, und wir werden Ihnen zusammen mit der Gemeindefinanzkommission diese Schritte aufzeigen.
Ich hatte gehofft, dass Sie mir jetzt erklären, warum Sie immer noch bei Ihrem Antrag zur Abschaffung der Gewerbesteuerumlage bleiben. Das haben Sie jetzt nicht getan.
- Dazu haben Sie jetzt nichts gesagt. - Ich würde jetzt gern auf Ihre Frage reagieren. Sie haben behauptet, dass die Verwerfungen bei freiberuflichen Einkommen nicht so stark sind wie bei Gewerbetreibenden. Das kann ich nicht nachvollziehen. Sowohl die Ärzte als auch die Steuerberater und die Wirtschaftsprüfer in den neuen Ländern erzielen natürlich andere Einkommen als die in den alten Ländern. Also werden die Verwerfungen bleiben. Wir können diese Diskussion gern fortführen.
Ich glaube, dass Sie übersehen haben, dass die Gewerbesteuerumlage eingeführt worden ist, um die Verwerfungen bei der Gewerbesteuer zwischen den Gemeinden zu ändern. Sie nicken; Sie wissen das. Sie ziehen daraus aber keine Schlüsse. Ich finde nach wie vor, dass dieser Antrag sinnlos ist. Sie haben in den Haushaltsberatungen ja die Möglichkeit, dies erneut zu beantragen.
- Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich auf dem einen Ohr nicht ständig Ihre Zwischenrufe hören müsste; denn das lenkt mich von meiner Rede ab.
Lassen Sie mich noch einen weiteren Aspekt ansprechen. Ich wiederhole: Während Sie als Finanzpolitiker sich als Retter der Kommunen darstellen, schmeißen Ihre Sozialpolitiker die Haushalte der Kommunen vollends über den Haufen. Ich lese, dass Ihr Parteivorsitzender einen Hartz-IV-Regelsatz in Höhe von 500 Euro fordert. Schon die Erhöhung des Regelsatzes um 5 Euro kostet die Kommunen jährlich 143 Millionen Euro. Jede Erhöhung bei Hartz IV hat natürlich Folgen beim SGB II und bei der Grundsicherung im Alter. Eine Regelsatzerhöhung auf 500 Euro würde die Kommunen jährlich 4 Milliarden Euro kosten. Schon diese 5 Euro, jährlich 143 Millionen Euro, führen in vielen Kommunen zu massiven Problemen. Wir werden auch das in der Kommission besprechen müssen.
Das von Frau Hinz und anderen heftig kritisierte Bildungspaket ist aber genau das Gegenteil; dadurch werden die Kommunen tatsächlich entlastet. Ich nehme das kostenlose Mittagessen als Beispiel. Zahlreiche Kommunen finanzieren auch heute schon für bedürftige Kinder ein kostenloses Mittagessen in Kindergärten und Schulen. Die Kosten in Höhe von 2 Euro pro Kind und Mahlzeit übernimmt in Zukunft der Bund; dafür investiert er 120 Millionen Euro. In vielen Städten gibt es Sozialtickets, durch die bedürftige Kinder bei dem Besuch von kulturellen Veranstaltungen oder bei der Partizipation in Sportvereinen unterstützt werden. Auch hier wird der Bund im Rahmen des Bildungspakets in Zukunft Kosten übernehmen. Für diesen Bereich stehen insgesamt 500 Millionen Euro zur Verfügung. Dieses Geld kommt bei den Menschen auch tatsächlich an.
Am Beispiel der Stadt Erfurt kann ich das nachweisen. Erfurt ist eine Stadt mit 200 000 Einwohnern. Für das kostenlose Mittagessen zahlt die Stadt 800 000 Euro, die Kosten für die Verpflegung in den Kitas betragen 1,5 Millionen Euro, die Kosten für die Unterstützung von Kindern in einer Musikschule belaufen sich auf 150 000 Euro, und die Kosten für die Förderung bedürftiger Kinder in einer Schülerakademie beziffern sich auf 40 000 Euro. Diese insgesamt über 2 Millionen Euro werden der Stadt künftig über die Bundesagentur für Arbeit vom Bund erstattet. Dies führt entweder dazu, dass die Kommunen entlastet werden, oder dazu - das würde ich mir wünschen -, dass diese Angebote ausgeweitet werden können, sodass alle Kinder, auch Kinder aus Niedriglohnfamilien, sie in Anspruch nehmen können.
Das sind keine Einzelfälle. Seitdem wir diese Debatte führen, wissen wir, dass solche Angebote in vielen Städten gemacht werden. Diese Städte können künftig auf die Unterstützung des Bundes hoffen.
Ich kann alle Kommunalpolitiker, Bürgermeister und Stadträte nur bitten, sich sehr intensiv in diese Debatte einzubringen; denn es gibt entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort. Das Bildungspaket kann nur so gut werden, wie es Bund und kommunale Vertreter gemeinsam gestalten. Ich bin guter Hoffnung, dass dadurch das eine oder andere Problem in den Kommunen gelöst wird. Ich kann auch Sie nur auffordern, sich an der Diskussion zu beteiligen und das Bildungspaket nicht ständig zu zerreißen.
Danke.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2944 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 15. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 8. Oktober 2010,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]