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"Mit dem Vertrag von Lissabon sind gewiss nicht alle Probleme Europas gelöst, aber deutlich bessere Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sie gelöst werden können", sagte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert (CDU) aus Anlass des Inkrafttretens des EU-Reformvertrags am Dienstag, 1. Dezember 2009. Lammert nannte dies den größten Schritt zur Parlamentarisierung europäischer Entscheidungen.
"Der Vertrag stärkt sowohl die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments als auch die der nationalen Parlamente", unterstrich der Präsident. Künftig sei es weder rechtlich noch politisch möglich, die Euroapolitik weitgehend den Regierungen zu überlassen. Der Vertrag von Lissabon sei ein "Vertrag der Parlamente".
Mehr Rechte für die Parlamente bedeuteten aber auch eine Ausweitung ihrer Verpflichtungen. Der Bundestag habe mit seinen Begleitgesetzen zum Vertrag, seinem in Brüssel betriebenen Verbindungsbüro und durch die "einzigartige Kooptation von deutschen Mitgliedern des Europäischen Parlaments" in den Ausschuss für EU-Angelegenheiten der Bundestages sichergestellt, den neuen Anforderungen und Kompetenzen gerecht werden zu können.
"Das ist ein guter Tag für Europa", hatte Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle (FDP) die Unterschrift von Vaclav Klaus unter den Vertrag von Lissabon kommentiert. Die Unterschrift des tschechischen Präsidenten war der letzte Schritt auf dem langen Weg der Ratifikation des EU-Reformvertrags. Sechs Jahre sind vergangen, seit der "Konvent zur Zukunft Europas" einen ersten Verfassungsentwurf für Europa vorlegte. Die Kernidee: die Europäische Union auch nach den letzten Erweiterungsrunden handlungsfähig zu halten.
Zwar ist nach zähen Verhandlungen und einer schwierigen Ratifikationsphase von dem ehrgeizigen Ziel der Staats- und Regierungschefs, eine Verfassung für Europa zu schmieden, "nur" ein Reformvertrag geblieben. Ändern wird dieser jedoch auch einiges. Und auch die ursprünglichen Eckpfeiler - mehr Effizienz, mehr Transparenz, mehr Demokratie und mehr Bürgernähe - wurden mit dem Lissabon-Vertrag weiterverfolgt.
Als großer Gewinner gelten dabei die Nationalparlamente, deren Rechte in mehreren Punkten ausgeweitet werden. Durch den Reformvertrag "hat das Parlament einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht", stellt der Vorsitzende des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union, Gunther Krichbaum (CDU), fest.
"Die Stärkung der nationalen Parlamente zieht sich wie ein roter Faden durch den Vertrag", bestätigt die Politikwissenschaftlerin der Universität Würzburg, Professor Dr. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, "nehmen Sie nur die Bestimmungen zur Passerelle-Klausel."
Obwohl in der EU Entscheidungen zukünftig häufiger mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden sollen, ist in vielen Fällen noch immer ein einstimmiger Beschluss notwendig. Die so genannte Passerelle- oder Brückenklausel erlaubt dem Europäischen Rat, ein solches Einstimmigkeitsprinzip in konkreten Fällen aufzuheben. Die nationalen Parlamente bekamen in dieser Sache jedoch eine Art Vetorecht zugesprochen, da sie der Aufhebung des Prinzips der Einstimmigkeit widersprechen können.
Ein anderes Beispiel ist die Neuregelung der Informationspflicht der EU. So müssen künftig die Organe der EU alle Entwürfe von Europäischen Gesetzgebungsakten den nationalen Parlamenten direkt vorlegen.
Dies dient auch einer verbesserten Subsidiaritätskontrolle: Die Parlamente sollen weiterhin darauf achten, dass nur Angelegenheiten, die auf nationaler Ebene nicht ausreichend geregelt werden können, von Brüssel geregelt werden. Es sei eine logische Aufgabe der Parlamente, erklärt Krichbaum, zu überwachen, ob die EU-Kommission diese Kompetenzbeschränkungen in der Praxis auch einhält. Künftig steht den Parlamenten hierzu mit dem so genannten "Frühwarnmechanismus" ein neues Instrument zur Verfügung.
Binnen acht Wochen, ab Vorlage eines Gesetzentwurfs, haben sie nun Zeit, in einer begründeten Stellungnahme den Entwurf abzulehnen, wenn er nach Ansicht des Parlaments nicht dem Subsidiaritätsprinzip entspricht. Ist ein Drittel der nationalen Parlamente dieser Ansicht, muss die Europäische Kommission den betreffenden Vorschlag überprüfen; betrifft der Entwurf die Bereiche Justiz- und Innenpolitik, genügt schon ein Nein aus einem Viertel der Parlamente.
Die Europaexpertin Müller-Brandeck-Bocquet lobt, dass "die Parlamente jetzt zentraler eingebunden" werden. Sie ist sich sicher: "Wenn die Parlamente nur halbwegs selbstbewusst mit ihren neuen Kompetenzen umgehen, wird es eine sinnvolle und lebhafte Subsidiaritätskontrolle." Doch auch die Stimmen der Kritiker sind kaum zu überhören. Von einer rein "symbolischen Verantwortung" der Nationalparlamente ist bisweilen zu hören.
Den neuen Frühwarnmechanismus für die Subsidiaritätskontrolle bewerten einige als wirkungslos und befürchten, die eingeräumte Acht-Wochen-Frist sprenge schon die parlamentarischen Abläufe der Mitgliedstaaten - dass sich innerhalb dieses kleinen Zeitfensters genügend Parlamente zu einer Beschwerde entschließen, sei praktisch unmöglich.
Hinzu kommt: Wer Rechte hat, der hat auch Pflichten. "Mit der Stärkung der nationalen Parlamente klagt die EU ein, dass sich beispielsweise auch der Bundestag mehr einbringt", betont Müller-Brandeck-Bocquet. An die Abgeordneten appelliert sie daher, sich verstärkt um Belange der Europapolitik zu kümmern: "Die EU muss bei allen Bundestagsabgeordneten endlich auf den Radar kommen. Das war bisher zu wenig der Fall", kritisiert sie.
Schließlich sei Europapolitik keine Außenpolitik mehr: "Es gibt nur noch ganz wenige innenpolitische Felder, die nichts mit der EU zu tun haben", sagt sie. Daher müssten sich alle Abgeordneten zumindest in den Themen, die ihr Ressort betreffen, in die EU-Politik einarbeiten.
Der bisherige Umgang des Bundestages mit dem Lissabon-Vertrag verlief nicht immer problemlos. Ein erster Versuch Begleitgesetze auf den Weg zu bringen, die den Lissabon-Vertrag und dessen Mechanismen in deutsches Recht umsetzen sollten, scheiterte im vergangenen Juni am Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Die Verfassungsrichter forderten damals in Europa-Fragen mehr Mitsprache für Bundestag und Bundesrat, als diese für sich selbst in der ersten Version der Begleitgesetze vorgesehen hatten.
Im September wurden die entsprechenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt. Man habe die Balance zwischen den berechtigten Informations- und Kontrollrechten der Abgeordneten und der Wahrung eines flexiblen Handlungsspielraums der Regierung finden müssen, so Krichbaum: "Das haben wir gut gelöst."
"Der Lissabon-Vertrag und die deutsche Begleitgesetzgebung sorgen für eine deutlich engere Verzahnung zwischen Regierung und Parlament", lobt der Ausschussvorsitzende. Die Begleitgesetze verpflichten die Bundesregierung nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags unter anderem dazu, vor jeder Übertragung von Kompetenzen nach Brüssel das Parlament zu befragen.
Für die Zukunft der Europapolitik im Bundestag hat Krichbaum konkrete Vorstellungen. Er hofft auf eine "verstärkte Zusammenarbeit der Abgeordneten in Sachen Europa". Zudem müsse man noch viel stärker in Brüssel selbst tätig werden, wobei das Verbindungsbüro des Bundestages eine "sehr wertvolle Hilfe" sei.
Weiterhin sei eine engere Kooperation zwischen den nationalen Europaausschüssen geboten; zugleich müssten Bundestag und französisches Parlament "als Impulsgeber für Europa" noch enger zusammenarbeiten, so Krichbaum. Zu diesem Zweck plane man beispielsweise gemeinsame Sitzungen per Videokonferenz.
Für die europapolitische Arbeit aller nationalen Parlamente wünscht sich Müller-Brandeck-Bocquet: "Wenn bisher etwas daneben ging, war es Brüssel. Wenn etwas erreicht wurde, war es ein nationaler Erfolg. Dieses Schwarzer-Peter-Spiel muss aufhören."