Navigationspfad: Startseite > Dokumente & Recherche > Textarchiv > 2009 > Ekin Deligöz
In den Fluren des Bürohauses für Abgeordnete Unter den Linden 50 in Berlin sind die Spuren des Wechsels vom alten zum neuen Bundestag noch sichtbar: Umzugskartons und abgebaute Schreibtischlampen. Damit hat Ekin Deligöz keinen Ärger. Sie ist seit 1998 Abgeordnete, unter anderem als kinder- und familienpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Doch an diesem Vormittag ist sie verärgert. Ihr Hausausweis ist abgelaufen und mit der Dame beim Einlass gab es Probleme: "Seit vier Jahren kennt sie mich und sagt mir dann: Vorschrift ist Vorschrift.“
Da ist sie auch schon beim Thema. Wenn sie ihre alte Heimat Türkei, wo sie bis zu ihrem achten Lebensjahr aufwuchs, mit Deutschland vergleicht, fällt ihr genau eine Sache ein, die die Deutschen von der türkischen Bevölkerung lernen könnten: "Ich glaube, dass viele Menschen in der Türkei gelassener sind, und auch manche in Deutschland könnten manchmal etwas gelassener sein."
Andererseits fehle auch einigen Türken etwas, das in der deutschen Kultur besser ist: "In der Türkei gibt es ein wunderbares Sprichwort: Fang an mit so viel Begeisterung wie ein Türke und beende es so konsequent wie ein Deutscher. Den Türken fehlt das konsequente Beenden, aber sie fangen immer mit Begeisterung an. Hier in Deutschland fängt man eine Sache eher mit Skepsis an und bringt es dafür aber auch zu Ende.“
So gesehen verkörpert die Biografie von Deligöz eine ideale Mischung aus beiden Kulturkreisen. Sie ist in Tokat aufgewachsen, einer türkischen Kleinstadt mit 60.000 Einwohnern. Mit ihrer Mutter, die als Grundschullehrerin an eine türkischsprachige Schule in Bayern entsandt wurde, zog sie in die bayerische Kleinstadt Senden unweit von Ulm. Dort lernte sie Deutsch und besuchte das Gymnasium, um dann an der Universität Konstanz Verwaltungswissenschaft zu studieren.
Im Vorwort ihrer Diplomarbeit drückt sie die Gratwanderung zwischen beiden Kulturkreisen treffend aus: "Wir Migrantenkinder lesen Abenteuerromane, spielen Super Nintendo, sitzen vor Viva und MTV und regen uns über die neue Frisur von Madonna auf. […] Aber bei uns kommt noch eine Sache hinzu, die nur uns Migrantenkinder betrifft. Wir müssen doppelt so viel und doppelt so schwer arbeiten, um uns in zwei Welten zurechtzufinden und dennoch eine eigene Persönlichkeit entwickeln zu können.“
Als sie in München ankamen und die Bahnhofstraße mit den zahlreichen Dönerläden entlanggingen, sagte Deligöz zu ihrer Mutter: "Also Mama, deswegen hätten wir aber nicht herfliegen müssen.“ Sie zogen in ein Mehrparteienhaus, wo Ekin mit den deutschen Kindern spielerisch die Sprache lernte.
Sie sah regelmäßig die "Sendung mit der Maus“ und hatte Glück, dass es in ihrer Schulklasse nur noch ein anderes türkisches Kind gab, sodass sie sich wegen des guten Integrationsklimas schnell eingewöhnen konnte.
Deligöz war immer umgeben von unkonventionellen, mutigen und engagierten Frauen wie ihrer Mutter, die als alleinerziehende Migrantin in eine bayerische Kleinstadt gezogen war. Das half ihr bei ihrer Politisierung: "Engagiert war ich schon immer, weil ich aus einem sehr engagierten Elternhaus komme. Meine Großmutter war Stadträtin in Tokat, eine der wenigen Frauen.“
Sie selbst begann mit klassischem sozialen Engagement: "In der Schule habe ich an der Umweltgruppe teilgenommen, gemeinsam mit meiner Mutter habe ich eine Hausaufgabengruppe aufgebaut und Frauen Schwimmunterricht gegeben.“ Bei den Grünen trat sie 1989 ein, über die Grüne Jugend.
Deligöz, seit 1996 deutsche Staatsbürgerin und seit 1998 im Bundestag, hat miterlebt, wie immer mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund ins Parlament einzogen: "Cem Özdemir war für uns alle natürlich der Durchbruch: Ein Migrant in Amt und Würden. Als er in den Bundestag kam, waren in den Jahren davor die Anschläge in Mölln und Solingen passiert. Wir wollten verhindern, dass sich so etwas wiederholt. Das war der Punkt für viele Migranten und auch für mich zu sagen: Das ist der ‚point of no return’, der Entscheidungspunkt.“
Gleichzeitig kennzeichnete dieser Punkt ein Umdenken in einer neuen Generation von Migranten: "Das war auch der Generationenbruch. Unsere Eltern wollten ja zurück in die Türkei, aber für uns stand fest, dass es gibt keine Rückkehr mehr gibt. Und wir müssen entscheiden, ob wir eher im Hintergrund bleiben oder in den Vordergrund drängen – und viele ergriffen die Initiative.“
Die Mutter zweiter Kinder ergriff nicht nur die Initiative, sondern schaffte es auch in den Bundestag - als eine von nicht einmal einem Drittel weiblicher Abgeordneter. Nur das mit dem Hausausweis stört sie noch. Aber darum kümmert sie sich als Nächstes.