Navigationspfad: Startseite > Dokumente & Recherche > Textarchiv > 2010 > Willy Brandts Vertrauensfrage
Das eine gilt als Waffe des Parlaments, das andere als Druckmittel des Kanzlers. Und doch dienen die Regelungen, die das Grundgesetz für das konstruktive Misstrauensvotum und die Vertrauensfrage festlegt, ein und demselben Zweck: Sie sollen dafür sorgen, dass Regierungskrisen schnell überwunden werden und kein Zustand eintritt, in dem das Land keine handlungsfähige Regierung besitzt. In der 60-jährigen Bundestagsgeschichte wurde bislang fünfmal von einem Regierungschef die Vertrauensfrage gestellt, zweimal versuchte das Parlament den Kanzler per Misstrauensvotum zu stürzen. Ein Rückblick auf entscheidende Stunden im Plenum. Folge 2: 1972 - Brandt stellt die Vertrauensfrage.
Es war eine unsichere Pattsituation, in der sich der Deutsche Bundestag im Sommer 1972 befand. Die von der sozialliberalen Bundesregierung unter Willy Brandt (SPD) eingeleitete Ostpolitik, die unter anderem auf eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze abzielte, hatte zu so großen Differenzen auch in der Koalition geführt, dass mehrere SPD- und FDP-Abgeordnete diese verlassen hatten.
Die Regierungsmehrheit war damit restlos zusammengeschrumpft: 248 Abgeordnete umfassten die Fraktionen von SPD und FDP im Bundestag, 248 Abgeordnete gehörten der CDU/CSU an.
Dieses Patt drohte zur Blockade zu werden. Gerade war der Haushalt am Widerstand der Union gescheitert. Aber auch der Versuch des Oppositionsführers Dr. Rainer Barzel (CDU/CSU), mit einem Misstrauensvotum Bundeskanzler Brandt am 27. April zu stürzen, war nicht erfolgreich gewesen. Das Patt war geblieben. Für die Bundesregierung ein unhaltbarer Zustand.
Brandt suchte nun seinerseits nach einem Weg, klare politische Verhältnisse zu schaffen. Die Bürger, sagte der Bundeskanzler am 24. Juni 1972, hätten einen "Anspruch darauf, dass auch weiterhin in der Gesetzgebung kein Stillstand eintritt". Doch wachse die Gefahr, "dass sich die Opposition konstruktiver Mitarbeit grundsätzlich versagt. Deshalb teile ich mit, dass wir Neuwahlen anstreben". Ein Novum: Noch nie zuvor hatte ein Bundeskanzler beabsichtigt, für Neuwahlen vorzeitig die Legislaturperiode zu beenden.
Wie dies erreicht werden sollte, stieß jedoch auf Kritik: Nicht nur der politische Gegner lehnte Brandts Vorhaben ab, eine Vertrauensfrage zu stellen - und diese kalkuliert zu verlieren. Auch viele sozialdemokratische Abgeordnete protestierten: Er könne nicht länger in der SPD bleiben, schrieb damals ein Funktionär, wenn SPD-Abgeordnete ihrem Kanzler nicht mehr das Vertrauen aussprächen.
Zu dieser Kritik hinzu kamen Bedenken der Verfassungsrechtler: Eine absichtlich verlorene Vertrauensfrage entspräche nicht dem Geist des Grundgesetzes, so wurde argumentiert. Nach Artikel 68 der Verfassung gibt die Vertrauensfrage dem Bundeskanzler die Möglichkeit, das Parlament zu fragen, ob es noch hinter ihm und seiner politischen Agenda steht.
Versagt ihm das Parlament das Vertrauen, kann er den Bundespräsidenten bitten, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen beantragen. Die Option einer einkalkulierten verlorenen Vertrauensfrage hatten die Väter und Mütter des Grundgesetzes aber eigentlich nicht vorgesehen.
Trotz dieses Widerspruchs hielt Brandt an seinem Vorhaben fest. Tatsächlich wäre ihm auch nur noch eine andere Möglichkeit geblieben, das Patt im Bundestag aufzulösen - durch den eigenen Rücktritt. Doch das kam nicht in Frage. Am 20. September 1972 brachte Brandt den Antrag auf Vertrauensfrage im Parlament ein. "Dies ist der Weg, der mir zur Verfügung steht, um zu Neuwahlen zu kommen", erklärte er.
Zwar sei der Weg über die Vertrauensfrage "etwas kompliziert", gab Brandt zu, und ihm sei bewusst, dass dieses Mittel "anderen verfassungspolitischen Zielen diene", doch ginge es darum, über Neuwahlen das "Remis im Bundestag zu überwinden.
Dazu sei es nur gekommen, weil die Mehrheitsverhältnisse durch Übertritte so verändert worden seien, dass weder Regierung noch Opposition über die Mehrheit verfügten. Nun solle der Wähler entscheiden: "Die eigentliche Vertrauensfrage wird an den Souverän, also an den mündigen Wahlbürger zu richten sein", betonte Brandt.
Dr. Rainer Barzel, der das Wort für die Opposition ergriff, kritisierte Brandt dafür scharf: Es hätte dem "normalen demokratischen Stil und dem guten parlamentarischen Brauch" entsprochen, wenn der Bundeskanzler schon nach der Ablehnung des Haushalts im April zurückgetreten wäre. So hätte er dem Bundestag "politisches Siechtum und monatelange Konfrontation und Verkrampfung" ersparen können.
Durch die Vertrauensfrage, so monierte Barzel, versuche Brandt vom Scheitern seiner Politik abzulenken. Jeder einzelne Parteiaustritt der vergangenen Monate - der CDU-Politiker spielte damit auf die SPD- und FDP-Abgeordneten an, die die Koalition verlassen hatten - markiere die verfehlte Reformpolitik. "Herr Bundeskanzler, Sie haben eine traurige Bilanz mit negativen Rekorden", sagte Barzel. Deutschland brauche jetzt einen Wechsel.
Zur Entscheidung über den Antrag kam es erst zwei Tage später, am 22. September, denn laut Grundgesetz haben zwischen Antrag und Abstimmung stets 48 Stunden zu liegen. Während Unionspolitiker wie Barzel oder Franz-Josef Strauß die Aussprache vor der Stimmabgabe nutzten, um mit der Arbeit der sozialliberalen Koalition abzurechnen, lobte Außenminister Walter Scheel (FDP) die Politik der zurückliegenden drei Jahre - und betonte insbesondere die Rolle Bundeskanzler Brandts.
"Die Politik (...) war nur möglich, weil an der Spitze dieser Regierung ein Mann gestanden hat, der in einem hohen Maße Verantwortungsgefühl, Gerechtigkeitssinn und Fairness miteinander verbindet." Er habe zum "Frieden im Innern beigetragen" und das "Ansehen im Ausland gemehrt". Scheel war sich seiner Sache sicher, als er zum Ende seiner Rede sagte: "Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag gibt sein Amt an das deutsche Volk zurück."
Mehr Anspannung verriet dagegen die Miene Brandts. Das belegen Fernsehbilder, die zeigen, wie sich der Bundeskanzler zweimal nervös den Schweiß von Gesicht und Händen wischte. Doch alles klappte, wie zuvor ausgemacht. Bis auf Bundesarbeitsminister Walter Arendt enthielten sich alle Kabinettsmitglieder der sozialliberalen Koalition der Stimme.
Als um 18.42 Uhr Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU/CSU) das Ergebnis bekanntgab, hatte Brandt erreicht, was er wollte: 248 Abgeordnete hatten gegen ihn gestimmt, 233 für ihn. Der Weg zu Neuwahlen war frei.
Diese fanden am 19. November 1972 statt und wurden zum Plebiszit über Brandt und seine Ostpolitik: 91,1 Prozent der Wahlberechtigten gingen wählen. Ein Rekord bis heute. Und auch die SPD fuhr damals ihr bis jetzt bestes Ergebnis ein: 45,8 Prozent. Am 14. Dezember 1972 wurde Brandt im Bundestag zum zweiten Mal als Kanzler gewählt.
Zusammen mit der ebenfalls aus der Wahl gestärkt hervorgegangenen FDP verfügte die sozialliberale Koalition nun über eine klare parlamentarische Mehrheit. Brandt hatte sein Ziel erreicht. (sas)