Navigationspfad: Startseite > Der Bundestag > Präsidium > Reden des Präsidenten > 2007 > Festansprache aus Anlass des 400. Jubiläums der Justus-Liebig-Universität Gießen
Sehr geehrter Herr Präsident,
Herr Landtagspräsident,
lieber Kollege Dr. Solms,
meine Herren Minister, Herr Oberbürgermeister, liebe
Kolleginnen und Kollegen aus dem europäischen Parlament, dem
Deutschen Bundestag, dem Hessischen Landtag, den kommunalen
Vertretungskörperschaften,
meine Herren Verfassungsrichter,
liebe Studierende, Lehrende und Forschende an dieser
Universität,
meine Damen und Herren,
die Einladung zu diesem Festakt habe ich besonders gerne angenommen, zumal die bei solchen Anlässen unvermeidlichen Reden durch ein musikalisches und visuelles Programm umrahmt und veredelt werden, das bei weitem pfiffiger, durchdachter und ambitiöser ist als bei solchen Gelegenheiten üblich.
Zu Geburtstagsfeiern wird man häufiger eingeladen, die Gelegenheit, zum 400. Geburtstag zu gratulieren, ist dagegen eher selten, und noch seltener ist die Aussicht, den Jubilar bei bester Gesundheit zu erleben, rüstig und mit Zukunftsplänen mindestens so sehr befasst wie mit dem stolzen Blick zurück auf eine bedeutende Vergangenheit. Meine Teilnahme an der heutigen Veranstaltung hat mir der Präsident dieser Hochschule mit folgenden zwei bemerkenswerten Sätzen bestätigt. "Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, dass Sie sich bereiterklärt haben, die Festrede zu halten. Auch wenn das Rechtsverhältnis zwischen Bund und Ländern heute etwas anders ist als vor 400 Jahren zwischen dem Reich und dem Land Hessen-Darmstadt, so scheint es mir doch angemessen, dass am Tag der Verleihung des Privilegs durch das Reich der heutige Bund durch einen hohen Repräsentanten vertreten ist." Die Formulierung scheint mir unangreifbar; sie ist erkennbar freundlich, aber hinreichend vorsichtig angesichts des delikaten Verhältnisses zwischen Bund und Ländern, schon gar mit Blick auf die Zuständigkeiten im Bereich Bildung und Wissenschaft im Kontext einer fortgeschriebenen Verfassung. Seit der Föderalismusreform ist jeder Auftritt des Bundes im Bildungsbereich mit dem Verdacht eines latenten Verfassungsbruchs behaftet, und die Länder achten mit verständlicher Sorgfalt auf die neugezogenen Grenzen, die zu überschreiten den Vertretern des Bundes wenn überhaupt nur dann gestattet wird, wenn sie dabei viel Geld mitbringen, wie bei der Exzellenz-Initiative. Sie sehen, meine Damen und Herren, wir haben unser Rederecht teuer bezahlt.
Die 400-Jahr-Feier der Universität Gießen findet statt im 50. Jahr der Europäischen Gemeinschaft, deren Grundlegung durch die Römischen Verträge im März 1957 wir vor wenigen Wochen gefeiert haben. Beide Ereignisse haben keinen engen unmittelbaren Zusammenhang, aber sie markieren Entwicklungen und Veränderungen auf diesem gemeinsamen, immer wieder geteilten, zerstrittenen und zerriebenen Kontinent. Die Universität Gießen ging aus der Erbteilung und Konfessionalisierung Hessens hervor, sie ist ein Produkt der konfessionellen Auseinandersetzungen und ihrer politischen Instrumentalisierung nach der Reformation. Die Atmosphäre am kaiserlichen Hof Rudolfs II. war charakteristisch für das geistige Klima des ausgehenden 16. Jahrhunderts der Spätrenaissance in Europa. Die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts war eine Zeit der Enttäuschungen und seelischen Unruhe, die konfessionellen Auseinandersetzungen hatten die Hoffnungen der Renaissance im allgemeinen Bewusstsein weitgehend zunichte gemacht. Ein Gefühl der Abhängigkeit von höheren Mächten breitete sich aus, die Astrologie hatte hohe Konjunktur. Rudolf II. gehörte wie Wallenstein zu ihren überzeugten Anhängern. Die Jahre Rudolfs II. markierten das Ende einer Ära im damaligen Europa und in gewisser Weise auch einen Wendepunkt seiner komplizierten Geschichte. Einerseits trat die Konfessionspolitik nach dem 16. Jahrhundert in eine neue Phase ein, bedingt durch die Gegenreformation und später verschärft durch den deutschen Territorialabsolutismus nach dem 30jährigen Krieg. Andererseits vollzog sich ein tiefgreifender kultureller Wandel. Der lateinische Humanismus verlor zunehmend an Bedeutung, und an seine Stelle trat, befördert durch die intellektuelle Revolution des 17. Jahrhunderts, ein neues Weltbild, der Barock: das Zeitalter der Antithetik in vielen Lebensbereichen, verbunden mit einem starken Aufschwung der Naturwissenschaften. Der Barock ist eine Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Moderne, ganz geprägt noch von der christlichen Tradition, zugleich bereits der modernen Wissenschaft und Rationalität verpflichtet. Um Einheit in Glaube, Politik und Religion ringend, doch schon der Pluralität ausgeliefert. Das Individuum strebt im Barock nach eigener Entfaltung, zugleich ist es noch fest in Hirachien eingebunden. Uns erscheint diese Zeit ebenso faszinierend wie fremd, weil erst im Entstehen war, was uns heute selbstverständlich ist. Zu diesen Selbstverständlichkeiten zählen die moderne Naturwissenschaft und die zentralen Orte ihrer Hervorbringung, die modernen Universitäten.
Entstanden sind die Universitäten in Europa im Hochmittelalter, übrigens mindestens so sehr zur Bestätigung der dominierenden kirchlichen Lehrmeinungen wie zur Freisetzung davon unabhängiger Orientierungen oder Erkenntnisse. Allein aus praktischen Gründen sind die allermeisten der damals in einer beachtlichen Taktfolge gegründeten Universitäten aus Dom- und Klosterschulen heraus entstanden. Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation kam es erst deutlich später als in Italien zu förmlichen Universitätsgründungen. Zwischen der ersten europäischen Universität in Bologna 1088 und den Gründungsdaten deutscher Universitäten lagen 250 bis 300 Jahre. Eine erstaunliche, wenn auch erklärbare Differenz, die nicht nur, aber auch etwas damit zu tun hat, dass die städtische Kultur und ein Klima der Freiheit, jedenfalls der Unabhängigkeit in Städten damals in Deutschland noch nicht so ausgebildet war wie im gleichen Zeitraum in Italien. Die erste deutsche Universität wurde 1348 in Prag gegründet, die nächste in Wien 1365, dann folgte 1385 Heidelberg, dann Köln, dann Erfurt, dann Leipzig. Interessanterweise hat sich schon Ende des 15. Jahrhunderts der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Tätigkeit an den bestehenden Universitäten von der Theologie hin zu den Naturwissenschaften verlagert. Zum ersten Mal bekam Wissenschaft neben einem allgemeinen Orientierungs- und Aufklärungsinteresse auch eine praktische Nutzungsperspektive -mit all dem Glanz und Elend, das sich daraus für die weitere Wissenschaftsgeschichte entwickeln sollte. Mit dem Erstarken der humanistischen Bewegung kam es zu einer weiteren Lockerung der Bindung zwischen Kirche und Universität, mehr und mehr ist an die Stelle des kirchlichen Einflusses ein staatlicher Einfluss getreten. Viele Hochschulen, auch diese, dienten dem jeweiligen Landesherrn nicht zuletzt dazu, selbst die Spezialisten auszubilden, die man für die eigene expandierende Verwaltung dringend benötigte.
Meine Damen und Herren, als diese Universität im 30jährigen Krieg zunächst suspendiert und nach seinem Ende 1650 wiedergegründet wurde, hatte Europa in einer bizarren Verbindung und Verwechslung von Religion und Politik gerade einen im wörtlichen wie im übertragenen Sinne verheerenden Krieg hinter sich und seine größten Katastrophen noch vor sich, weil auch die damaligen traumatischen Erfahrungen nicht ausgereicht hatten, die fatalen Folgen der Eigendynamik von sich verselbständigenden Rivalitäten ein- für allemal aufzuarbeiten. Und aus der Rivalität von Konfessionen und ihrer Verflechtung mit dynastischen Interessen wurde schließlich in einer neuen Epoche der Gründung von Nationalstaaten und der Verselbständigung ihrer Machtkalküle im 20. Jahrhundert das Szenario vorbereitet, das schließlich in zwei Weltkriegen zur Explosion kam. Erst danach, nach hoffentlich weder überbietbaren noch jemals wiederholten Erfahrungen hat dieser Kontinent zur Vernunft und Einheit zurückgefunden.
Wir haben uns inzwischen fast angewöhnt für selbstverständlich zu halten, was wir jahrzehntelang für ausgeschlossen gehalten haben: die Einheit und Zusammengehörigkeit dieses Kontinents. Als 1957 damals sechs westeuropäische Staaten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gründeten, hätte kaum jemand für möglich gehalten, dass 50 Jahre später 27 Staaten aus Westeuropa, Mittel- und Osteuropa eine politische Union bilden und mit dem Jubiläum zugleich die Wiedervereinigung Europas wie Deutschlands feiern dürfen. Nach zwei schrecklichen Weltkriegen hat Europa seine Lektion hoffentlich ein- für allemal gelernt. Aus neuen Einsichten sind neue Verhältnisse entstanden, neue Formen der Zusammenarbeit. Nach den großen revolutionären Veränderungen am Ende des letzten Jahrhunderts hat dieser Kontinent zum ersten Mal die konkrete Chance für eine gemeinsame Zukunft in Frieden und Freiheit. Mir ist besonders wichtig, auch und gerade bei einem Anlass wie heute, auch und gerade in einer Universität, darauf hinzuweisen, dass wir neben den politisch-organisatorischen Vereinbarungen in einem Verfassungsvertrag, um den sich im Augenblick unter deutscher Präsidentschaft alle Mitgliedsstaaten erkennbar redlich bemühen, auch unser Selbstverständnis als Europäische Union klären müssen. Dass wir uns bewusst sein müssen, dass Europa mehr als eine gemeinsame Administration, auch mehr sein muss als ein großer gemeinsamer Markt. Der Charme Europas als Behörde hält sich auch unter den Gründungsstaaten in erkennbaren Grenzen, und die Vorstellung von Europa als einem großen gemeinsamen Markt zur Verfolgung gemeinsamer ökonomischer Interessen ist sicher deutlich faszinierender, reicht zur Begründung des Selbstverständnisses und der Identität dieser Gemeinschaft aber ganz offenkundig nicht. Wenn sich Europa in erster Linie ökonomisch definieren wollte, wäre es grenzenlos. Es gibt keinen Platz auf dem Globus mehr, auf dem wir keine ökonomischen Interessen hätten, und wenn die Intensität der Interessen die Grundlage der Definition unserer Beziehungen wäre, müssten China, Indien und Japan allemal früher Mitglieder dieser Gemeinschaft werden als Kroatien, Georgien oder die Ukraine. Europa ist in erster Linie eine große gemeinsame Idee, die Idee vom Menschen und seiner unantastbaren Würde, die Idee von individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, die Idee von Toleranz und Demokratie und Rechtsstaat und Gewaltenteilung, wie sie nach vielen schwierigen Anläufen und entsetzlichen Verirrungen in den Verfassungen der Mitgliedstaaten dieser Gemeinschaft ihren Niederschlag gefunden haben. Die Wiederentdeckung der kulturellen Grundlagen dieser Gemeinschaft ist Voraussetzung für ihren inneren Zusammenhalt, schon gar unter den Bedingungen pluralistischer Gesellschaften und damit zugleich die Voraussetzung für die gemeinsame Bewältigung einer gemeinsamen Zukunft, wenn sie denn eine gemeinsame Zukunft werden soll.
Nichts von alledem, was wir für selbstverständlich halten, ist voraussetzungslos, fast alles und schon gar alles Wesentliche hat Ursachen. Mit Blick auf die Verfassung unserer Gesellschaft wie auch für die Verfassungen unserer Universitäten gilt dies allemal. Im Kern reden wir über ein kulturelles Fundament, um das wir uns vielleicht zu lange nicht gekümmert haben, weil wir es für selbstverständlich gehalten haben. Udo di Fabio, Richter beim Bundesverfassungsgericht, hat vor ein paar Monaten in seinem vielzitierten und wie meist in solchen Fällen eher selten gelesenen Buch mit dem einschlägigen Titel "Die Kultur der Freiheit" davon gesprochen, dass die herrschende Kultur der Befreiung aus Zwängen von Religion und Tradition womöglich die Grundlagen der Freiheit zerstöre. "Das Individuum ist das Ergebnis eines kulturellen Gemeinschaftszusammenhangs, wird er zerstört, brechen Idee und Möglichkeit freier Individualität über kurz oder lang zusammen." Das mag man auch ein bisschen pathetisch formuliert finden, im Kern ist es nach meiner Überzeugung zutreffend. Der Kern unserer Verfassung ist Kultur, der Kern jeder Verfassung ist Kultur. In jeder geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassung eines Landes kommt zum Ausdruck, was dieses Land an eigenen Erfahrungen gemacht hat, was es in diesem konkreten Land an Traditionen gibt, an Überzeugungen, die über Generationen gewachsen sind, an religiösen oder an weltaunschaulichen Positionen. Weil genau dieser kulturelle Kontext die Voraussetzung für die Formulierung von Rechtsansprüchen und Verfahrensregeln darstellt, ohne diese sie buchstäblich ihr Fundament verlieren, misslingt mit einer bemerkenswerten Regelmäßigkeit jeder noch so ambitiöse Versuch des Transfers scheinbar perfekter Verfassungstexte in daran interessierten, politisch in Modernisierungsprozessen befindlichen Länder, weil sie genau diese Erfahrungen nicht gemacht haben. Weil es genau die Traditionen, die religiösen, die weltanschaulichen Positionen in gleicher Weise nicht gibt, die Grundlage dieses oder jenes konkreten Verfassungstextes geworden sind.
Gesellschaften werden nicht durch Politik zusammengehalten, sondern durch Kultur, oder sie werden nicht zusammengehalten. Zwei überragende Vertreter des zeitgenössischen modernen Denkens, nebenbei zwei überragende Wissenschaftler benachbarter Disziplinen, Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger, haben in einem denkwürdigen Dialog vor gut drei Jahren auf Einladung der katholischen Akademie in München von der Kultur des Glaubens und der Kultur der Vernunft als den "beiden großen Kulturen des Westens" gesprochen. Sie haben zur Verblüffung ihrer beiden jeweiligen Fanclubs, die sich davon bis heute nicht ganz erholt haben, gemeinsam darauf hingewiesen, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Dass dieser Zusammenhang in unserer Gesellschaft präsent sei, immer präsent gewesen sei, wird jeder halbwegs aufmerksamer Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen in Deutschland nicht ernsthaft behaupten wollen, er ist ganz im Gegenteil über Jahre und Jahrzehnte häufiger, mit großer Energie verdrängt als mit Einsicht und mit Gestaltungswillen mobilisiert worden. Wir müssen aber gerade im Interesse der Sicherung und Vermittlung von Freiheit genau diesen Zusammenhang wieder herstellen. Auch Freiheit ist nicht voraussetzungslos, auch Freiheit ist ein historisches Produkt von Erfahrungen und politischen Gestaltungsprozessen. Man muss weder eine herausragende Rolle in der Kirche noch eine prominente Position in der Philosophie haben, um zu der Einsicht zu gelangen, dass die Verselbständigung beider Kulturen, der Kultur des Glaubens wie der Kultur der Vernunft, neben manchen Fortschritten auch manche dramatischen Beschädigungen nach sich gezogen hat. Unsere heutige Wahrnehmung der Ambivalenz von Freiheit und Fortschritt und Wissenschaft, unsere Wahrnehmung dieser Ambivalenz ist von diesen beiden Kulturen geprägt. Wenn es die beiden Kulturen nicht gäbe, würden wir die Ambivalenz vermutlich nicht einmal wahrnehmen. Wir empfinden sie überhaupt als Problem, weil wir - nach meinem Empfinden Gott sei Dank - ein stereophones System der Wahrnehmung haben und uns auf die Eigendynamik weder der einen noch der anderen Logik allein länger verlassen wollen. In einem Zeitalter, in dem wir Erfahrungen mit Menschenzüchtungen gemacht haben, der Selektion wertvollen und vermeintlich unwerten Lebens, in Zeiten von Massenvernichtungswaffen ist uns der Glaube an die Überlegenheit verselbständigter Vernunft abhanden gekommen, und in gleicher Zeit machen wir entsetzliche Erfahrungen mit der fundamentalistischen Instrumentalisierung von Glaubensüberzeugungen, die allerspätestens die Schlussfolgerung verbieten, man könnte Religion an die Stelle von Wissenschaft als Verhaltensorientierung einer modernen Gesellschaft setzen. Wir brauchen ganz offenkundig beides. Wir brauchen vor allem die Wiederherstellung des Zusammenhangs zwischen beiden mit der historischen Erkenntnis, dass die Vernunft wie der Glaube der wechselseitigen Aufsicht bedürfen, weil sie jeweils alleine gelassen mindestens so viel Schaden wie Fortschritt anrichten. Ich empfinde es als eine schöne Logik, dass dieser Festakt nicht nur musikalisch - "the unanswered question" - mit einer unbeantworteten Frage endet.
Von Justus von Liebig stammt der kluge Satz: "Die Wissenschaft fängt eigentlich erst da an, interessant zu werden, wo sie aufhört." Diese Erfahrung führt zur klassischen Frage der Wissenschaft wie der Religion der Frage nach der Wahrheit. Die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung dieser Frage ist zugleich die Voraussetzung für Demokratie. Das zentrale Prinzip demokratischer Entscheidung, nämlich die Mehrheitsentscheidung, hat zur logischen Voraussetzung, dass es keinen Wahrheitsanspruch gibt. Über Wahrheiten lässt sich nicht abstimmen. Wenn ich mich einer Abstimmung unterwerfe, hat die Rationalität dieses Verhaltens zur logischen Voraussetzung, dass ich für meine Position genauso wenig einen Wahrheitsanspruch reklamieren kann wie für die anderen Positionen, die ihr entgegengesetzt werden. Es gehört zu den ebenso weitverbreiteten wie bedenklichen Verirrungen der politischen Kultur in Deutschland, dass sich bei uns Mehrheiten immer wieder gerne einreden, das Vorhandensein dieser Mehrheit sei gleichzeitig auch der Nachweis für die Richtigkeit der eigenen Position. Das Gegenteil ist richtig, hätte man die Richtigkeit der eigenen Position nachweisen können, wäre die Abstimmung unnötig, unsinnig gewesen. Wir haben es hier insofern eher mit der Perversion von Logik zu tun bzw. mit der Transformation einer legitimen Position in politische Propaganda.
Die Einsicht in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der fundamentalen Frage nach der Wahrheit macht die ewige Suche nach Gewissheiten natürlich nicht obsolet, wohl aber den Anspruch auf Wahrheit als Legitimation für gesellschaftliches oder politisches Handeln. Diese Einsicht zu bewahren und zu vermitteln, ist nicht nur Aufgabe der Universitäten. Mir fällt aber keine zweite Einrichtung ein, die so vital auf diesen Zusammenhang angewiesen ist wie die Hochschule. Diese zentrale Einsicht wieder ins Bewusstsein zu heben und sie gegen manche Denkfaulheit, Manipulationsversuche und Propaganda als eine, wenn nicht die unaufgebbare Errungenschaft unserer Zivilisation zu vertreten, das ist die große Aufgabe einer wirklich freien Universität für die nächsten 400 Jahre und darüber hinaus.