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anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus am 27.01.1998
Herr Bundespräsident!
Herr Bundeskanzler!
Herr Präsident des Bundesrates!
Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts!
Meine Damen und Herren Mitglieder der Bundesregierung!
Meine Damen und Herren Ministerpräsidenten!
Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, darunter
auch die ehemaligen Bundestagspräsidenten und
-vizepräsidenten!
Sehr geehrter Herr Professor Bauer, der Sie gleich die Gedenkrede
halten werden!
Verehrte Gäste!
Liebe Schülerinnen und Schüler und Vertreter der
Jugend!
Wir gedenken heute im Deutschen Bundestag der Opfer des Nationalsozialismus. Wir tun dies am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz vor 53 Jahren. Sie, Herr Bundespräsident, haben diesen Tag im Jahre 1996 auf Vorschlag des Parlaments und der Regierung zum Gedenktag erhoben. Darum haben wir Parlamentarier uns zusammen mit Ihnen, der Bundesregierung, Vertretern des Bundesrates und des Bundesverfassungsgerichtes heute im Deutschen Bundestag versammelt. Dieses öffentliche Gedenken erfolgt zu Recht am zentralen Ort unserer Demokratie, im Parlament.
Wir haben mit einem Streichtrio von Gideon Klein begonnen, das uns inmitten des Gedenkens deutlich macht: Das ist Kultur, die ausgerottet werden sollte, Musik, die nicht mehr erklingen sollte, geschrieben in Theresienstadt, vollendet wenige Tage vor der Deportation nach Auschwitz, erstmalig erklungen 1993. Es hat uns Kraft, Not, dunkle Töne, aber auch Dynamik gezeigt.
Dies ist Teil der Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus und Teil der nicht endenden Frage: Wo liegen die Wurzeln von Diktatur und Terror, wo liegen die Triebfedern für Entrechtung und Verfolgung von Menschen? Welche Haltungen und Einstellungen bereiteten der totalitären Nazidiktatur den Weg? Unser Gedenken im Parlament ist zugleich Teil des Innehaltens, des Nachdenkens über unser Land. Deshalb ist es an diesem Tag des Erinnerns auch unsere Aufgabe, uns immer wieder neu der ethischen und demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft und ihrer Bindungen für uns alle zu vergewissern.
So unverzichtbar dieses öffentliche Erinnern im Parlament ist: Es kann nicht das Gedenken in unserem Land und das jedes einzelnen ersetzen. Denn es betrifft alle und macht nur Sinn, wenn es auch individuell begangen wird. Diese Stunde im Deutschen Bundestag will Teil des Gedenkens in allen Teilen unseres Landes sein, in den Städten und Gemeinden, in Schulen, in den Bildungseinrichtungen der Kirchen und der Gewerkschaften, in Verbänden und Vereinen.
Gedenken, das nicht von den Menschen getragen wird, erstarrt sehr rasch zum bloßen Ritual. Die Einführung eines Gedenktages ist das eine, die lebendige Ausgestaltung das andere. Diese bleibt immer wieder aufs neue zu leisten. Es geht uns bei unserer Veranstaltung hier im Parlament deshalb nicht nur um das Zuhören, sondern auch um den Dialog, um die aktive Auseinandersetzung gerade mit der jungen Generation, die heute hier vertreten ist. Deswegen ist die dreitägige Begegnung zwischen Jugendlichen aus Deutschland, Frankreich, der Tschechischen Republik, Polen und Österreich ein zentraler Teil unserer parlamentarischen Veranstaltung. Ich danke den Jugendlichen für ihr konzentriertes Zuhören, für ihre drängenden Fragen, für ihr nachhaltiges Engagement und ihre kritische Auseinandersetzung mit unserer gemeinsamen Geschichte in Ost- und Westdeutschland, in Ost- und Westeuropa. Sie haben die Verpflichtung zur Gestaltung einer gemeinsamen europäischen Zukunft trotz der Abgründe dieses Jahrhunderts angenommen. Die Jugendlichen wollen diese Aufgabe mit Leben gestalten, weil die Gefahren und Gefährdungen, die durch Radikalismus, Extremismus, Menschenverachtung und nationale Hybris entstehen, mit dem Ende des Nationalsozialismus nicht für immer beseitigt wurden, sondern trotz allen Neuanfangs wie eine glimmende Glut immer neu aufglühen. Es bedarf der Wachsamkeit hier und überall.
Eine Resolution der diesjährigen Teilnehmer zeigt, wie stark der Wunsch der Jugendlichen nach Dialog über das Geschehene, nach mehr Jugendbegegnung und der Förderung von Jugendwerken ist. Das ist der Wunsch, den sie ganz nachdrücklich an uns herangetragen haben.
Ja, sie sagen, dieses Erinnern tut weh. Es löst Entsetzen aus und läßt zugleich verstummen und aufschreien. Sich den bedrückendsten Wahrheiten unserer Geschichte zu stellen ist aber unverzichtbar. Dazu verpflichten uns die Opfer, ihre Angehörigen und Nachkommen. Aber es ist auch für uns selbst notwendig, für den unauflöslichen Zusammenhang von Erinnerungs- und Zukunftsfähigkeit. Auschwitz liegt zwar Jahrzehnte zurück, aber es überdauert, weil die Ungeheuerlichkeiten des Verbrechens unvergleichbar und unausgleichbar sind und weil die Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bis in unsere Tage fortdauern.
Es sind gerade junge Menschen, die uns die Zuversicht geben, daß das Erinnern nicht dem Vergessen anheimfällt. Sie wollen wissen, was war. Das Fragen hört nicht auf; sie fragen weiter. Es werden nicht nur die alten, sondern auch neue Fragen gestellt. Neue Dokumente lassen ein immer differenzierteres Bild entstehen, konfrontieren uns aber auch mit neuen Tatsachen des Unrechts. Wir erfahren mehr über die Alltäglichkeit des Mitläufertums auf der einen und die vielfältigen Formen des Widerstandes und der Hilfe auf der anderen Seite. Wir lernen aus dem Alltag der Diktatur, aus den Folgen der Gleichgültigkeit und des Wegsehens gegenüber den Mitmenschen für unsere demokratische Gesellschaft, daß Zivilcourage und aktive Teilhabe an der politischen Gestaltung für eine Gesellschaft notwendig sind, in der die Würde des Menschen zu achten zum gelebten Alltag gehört.
Erinnerung ist anstrengend, aber sie befreit auch. Sie gibt uns Kraft, die Zukunft zu bestehen. Ein Volk, das innehält, das sich bewußt seiner Vergangenheit stellt, beugt nationalem Wahn und Selbstüberschätzung vor. Aus der Auseinandersetzung mit den eigenen Irrwegen wächst die Kraft zum Neuanfang und zur Neugestaltung.
Die Entschlossenheit, uns immer wieder zu erinnern und daraus die Konsequenzen für Aufbau und feste Verankerung demokratischer Strukturen und Lebensformen zu ziehen, sowie die konsequente Ausrichtung auf Europa haben uns geholfen, in fünf Jahrzehnten nach dem Kriegsende Schritt für Schritt wieder Vertrauen zu gewinnen und Verantwortung in Europa und in der Welt zu übernehmen.
Viele haben uns dabei geholfen. Das zeigt unsere feste Verwurzelung im europäischen Einigungsprozeß. Das zeigt die Neugestaltung unserer Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika, zu Frankreich, Polen und allen anderen europäischen Nachbarländern in West und Ost. Und daß es gelungen ist, Brücken der Verständigung zu Israel zu schlagen, das in diesem Jahr auf 50 Jahre staatlicher Existenz zurückschaut, und einen Neuanfang zu finden, zeugt gleichermaßen von der uns verpflichtenden wie der gestaltenden Kraft der Erinnerung.
Seit dem Umbruch und dem Wandel in Europa ist der Weg zur Wiederbelebung und Vertiefung unserer Beziehungen zu den Nachbarn in Mittel- und Osteuropa sowie im Südosten Europas geöffnet. Auch hier kommt es darauf an, daß wir uns gemeinsam mit unseren Nachbarn unserer eigenen und zusammenhängenden Vergangenheit und ihren Verpflichtungen für die Zukunft stellen. Opfer des Nationalsozialismus und infolge der Naziverbrechen zum Opfer gewordene Vertriebene brauchen Zeit und guten Willen zu Gesprächen, zur Verständigung und zum Miteinander. Das zeigt uns das Beispiel der deutsch-tschechischen Beziehungen.
Es ist gelungen, über die bisherige Regelung hinaus eine neue Vereinbarung für notleidende Überlebende der Nazigewaltherrschaft in Osteuropa, die bisher keine Entschädigung erhalten haben, zu treffen. Der im Dezember 1997 errichtete Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds und das Deutsch-Tschechische Gesprächsforum können ihre Arbeit aufnehmen und werden dazu beitragen, vertrauensvolle Beziehungen zur Tschechischen Republik im Geiste guter Nachbarschaft und Partnerschaft zu verstetigen und zu vertiefen und damit zum Zusammenwachsen Europas beizutragen. Nach der gestrigen Entscheidung kann der Zukunftsfonds jetzt seine Arbeit aufnehmen.
Aus dem Rückblick auf unsere Geschichte in diesem Jahrhundert wissen wir: Erworbene und erkämpfte Freiheit geht verloren, wenn sie nicht bewußt gelebt wird. Das ist eine der zentralen Erfahrungen dieses Jahrhunderts, in dem Nationalsozialismus, Kommunismus, Rassismus, Antisemitismus und andere Extreme ihre tiefen Spuren hinterlassen haben. Auf der Gemeinsamkeit von demokratischen Werten und freiheitlichen Gestaltungszielen können wir heute ein neues Europa bauen, das auf Frieden, partnerschaftliche Zusammenarbeit und Verständigung gründet. Dieses Europa verträgt weder Vormachtdenken noch nationale Selbstüberschätzung und Gewalt. Für uns Deutsche kann es dabei nur eine Aufgabe geben: Mitwirken am Ausbau der europäischen Tradition freiheitlicher Demokratie und funktionierender Rechtsstaatlichkeit, die uns zu guten Nachbarn und Partnern macht. Sie sollen das 21. Jahrhundert, die politische Identität unseres Kontinents und die Verantwortung Europas in der Welt prägen.
Mein besonderer Dank gilt Ihnen, Herr Professor Bauer, dafür, daß Sie heute bei uns sind und zu uns sprechen. Aus Jerusalem haben Sie den Weg zu uns nach Bonn, nach Deutschland, gefunden. Sie haben viele Jahre an der Hebräischen Universität in Jerusalem gelehrt. Heute sind Sie Direktor des Internationalen Forschungsinstituts für Holocaust-Studien am Yad Vashem.
Als geborener Tscheche, nach Palästina geflohen, aber immer verbunden geblieben mit Europa, haben Sie mit Ihren Forschungsarbeiten zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beigetragen. Zugleich haben Sie damit einen Beitrag zur Verständigung zwischen Ihrem und unserem Volk geleistet, haben Sie Brücken über tiefe Abgründe geschlagen, die uns bewußt bleiben müssen, wenn wir uns um Verstehen und Verständigung bemühen. Ihnen ist das Gespräch mit der jungen Generation wichtig, um die aus der Geschichte gewonnenen Erfahrungen weiterzugeben.
Herr Professor Bauer, ich darf Sie nun herzlich bitten, zu uns zu sprechen.