Navigationspfad: Startseite > Dokumente & Recherche > Protokolle > Vorläufige Plenarprotokolle > Vorläufiges Protokoll der 82. Sitzung vom 17. Dezember 2010
82. Sitzung
Berlin, Freitag, den 17. Dezember 2010
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie alle herzlich zu unseren heutigen Beratungen.
Wir können gleich in die Tagesordnung einsteigen. Ich rufe die Tagesordnungspunkt 36 a und 36 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (17. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Kauder, Ute Granold, Erika Steinbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Religionsfreiheit weltweit schützen
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfreiheit als politische Herausforderung
- Drucksachen 17/2334, 17/3428, 17/4122 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christoph Strässer
Marina Schuster
Annette Groth
Tom Koenigs Beschlussfassung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Josef Philip Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfreiheit stärken
- Drucksachen 17/2424, 17/4121 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christoph Strässer
Marina Schuster
Annette Groth
Ingrid Hönlinger Beschlussfassung
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie zu dem Antrag der Fraktion der SPD werden wir später namentlich abstimmen; wir haben also zwei namentliche Abstimmungen. Außerdem liegt zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Interfraktionell wurde vereinbart, über diesen Tagesordnungspunkt eineinhalb Stunden zu diskutieren. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Volker Kauder (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum zweiten Mal in diesem zweiten Halbjahr 2010 befassen wir uns mit der Situation von Christen in aller Welt. Ich freue mich, dass wir heute hier auf der Ehrentribüne des Deutschen Bundestages Gäste bei uns haben, die aus Ländern kommen, in denen es Christen besonders schwer haben.
Ich begrüße herzlich den Bischof der Chaldäisch-Katholischen Kirche in Bagdad, Shlemon Warduni,
und den Patriarchalvikar der Chaldäisch-Katholischen Kirche in der Türkei, François Yakan.
Ich begrüße den Exekutivsekretär der nationalen Kommission Justitia et Pax in Pakistan, Peter Jacob.
Ich freue mich, dass der für diese Aufgaben zuständige Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Stephan Ackermann, heute da ist.
Ebenso freue ich mich, dass der Vertreter der Deutschen Evangelischen Allianz, Wolfgang Baake, und die Prälaten Jüsten und Felmberg da sind. Herzlich willkommen bei dieser Debatte!
Der Papst hat gestern, wie für diese Debatte gemacht, eine Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar nächsten Jahres veröffentlicht. Diese drängende Botschaft befasst sich ausschließlich mit dem Thema ?Verfolgung von Christen in der ganzen Welt?. Der Papst stellt fest, dass die Verfolgung von religiösen Minderheiten - er spricht nicht nur von den Christen - eine der zentralen Ursachen für Unfrieden in der Welt ist. Er betont, was wir auch in unserem Antrag formulieren: Das Bekenntnis zur Religion und die Möglichkeit, die Religion zu wechseln, sind ein universales Menschenrecht, ein Menschenrecht, das niemandem abgesprochen werden kann. Wir formulieren das auch in unserem Antrag so. Das Recht auf freie Religionsausübung gehört zur Würde des Menschen. Deswegen treten wir alle, die wir uns im Deutschen Bundestag für Menschenrechte einsetzen, besonders für das Recht auf freie Religionsausübung ein.
Wir sehen mit einiger Sorge, dass sich im internationalen Bereich etwas entwickelt, das das Menschenrecht auf Religionsfreiheit relativieren soll. Es kommt ganz harmlos daher, und wer nicht genau hinschaut, bemerkt den Unterschied zunächst einmal gar nicht. Da wird formuliert: Wir wollen den Schutz der Religion. Es ist vor allem die Organisation der Islamischen Konferenz, die den Schutz der Religion in internationalen Gremien durchzusetzen versucht und ihn in Unterorganisationen der UNO schon durchgesetzt hat. Die islamischen Organisationen versuchen dies vor allem, weil sie den Islam vor Angriffen schützen wollen.
Damit wird ein Menschenrecht einem Kollektivrecht untergeordnet. Es geht nicht mehr darum, das Recht des Einzelnen auf freie Religionsausübung zu erhalten, sondern es geht darum, eine Gruppe zu schützen. Dazu kann ich nur sagen: Wir wollen nicht eine Religion schützen, sondern wir wollen das Menschenrecht auf freie Religionsausübung schützen. Das ist ein elementarer Unterschied.
Ich weiß, dass wir das hier im Deutschen Bundestag gemeinsam so sehen; dafür bin ich dankbar.
Wir sehen die Verfolgung und Bedrängung von Christen in Asien und im Nahen Osten. Wir sehen sie in vielen Ländern dieser Welt. Aber unser Blick wendet sich in diesen Tagen insbesondere in den Irak. Fast wöchentlich hören wir davon, dass im Irak Christen verfolgt und getötet werden. Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest müssen Christen in Bagdad und in anderen Gemeinden Mauern um ihre Kirchen ziehen, damit sie an Heiligabend ihren Gottesdienst einigermaßen ungestört feiern können. Wir wünschen uns natürlich sehr, dass die nahen Weihnachtstage davon geprägt sind, dass alle Menschen ihre Religion frei leben und dass gerade die Christen an diesem großen Fest der Christenheit ihren Glauben leben und bekennen können.
Was können wir vor allem für die Christen in Bagdad tun? Es geht nicht nur darum, über ihre Situation zu reden und sie öffentlich zu machen, auch wenn dies eine zentrale Funktion ist. Da danke ich dem Bundesaußenminister - ich wiederhole mich gerne -, der vor wenigen Tagen im Irak war. Er hat in Bagdad mit Christen gesprochen und die Regierung in Bagdad gemahnt, mehr für den Schutz der Christen zu tun. Herzlichen Dank, Herr Bundesaußenminister, für diesen Einsatz!
Aber es kann nicht nur bei Worten bleiben. Das hat uns auch der Bischof Warduni heute Morgen in einem Gespräch gesagt. Das Engagement muss sich auch an Taten messen lassen. Es gibt keine direkte Entwicklungszusammenarbeit mit dem Irak. Die Mittel aus dem Topf, den der Bundesaußenminister zur Verfügung hat, um einmalige, spontane Hilfen zu leisten, werden nicht reichen, um dort dauerhaft etwas zu tun.
Wir wissen natürlich, dass die Lage im Irak insgesamt besser werden muss - für alle dort, nicht nur für die Christen. Dies ist eine längerfristige Aufgabe, die uns den Blick für die Herausforderung nicht verstellen darf, auch kurzfristig etwas zu tun, Zeichen zu setzen, damit die Christen in Bagdad eine Perspektive verspüren und nicht nur den Wunsch haben, dieses Land zu verlassen. Es kann nicht unser Ziel sein, dass an Orten christenfreie Zonen entstehen, wo schon seit Jahrhunderten Christen leben.
Wir müssen den Christen im Irak, in ihrer Heimat, eine Chance geben. Wir werden in der Koalition darüber sprechen müssen, wie wir eine Entwicklungszusammenarbeit mit den Christen im Irak organisieren können.
Die Christen im Irak waren schon immer dafür bekannt, dass sie im Bildungswesen und im Gesundheitswesen besondere Leistungen vollbringen können. In vielen Dörfern und Regionen, in denen Christen aber auch Angehörige anderer Glaubensrichtungen leben, gibt es keine Schulen und keine Krankenhäuser. Dort gibt es keine Organisationen, die bei sozialer Not helfen. Wir können beginnen, solche Organisationen aufzubauen, die wie kleine Lichter sind, und dem Land so eine Perspektive geben. In diesen Einrichtungen können Christen Arbeitsplätze finden. Dadurch haben sie die Chance, voranzukommen.
Im nächsten Jahr, im Jahr 2011, müssen wir dem, was wir heute im Deutschen Bundestag beraten, diskutieren und verabschieden, konkrete Taten folgen lassen. Die Mittel, die wir dafür benötigen, werden keine so gigantische Höhe haben, dass wir uns das nicht leisten könnten. Deshalb rufe ich uns alle auf: Unseren Worten, die wir heute im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit dem Bekenntnis zum Menschenrecht auf freie Religionsausübung formulieren, müssen wir im nächsten Jahr Taten folgen lassen.
Ich möchte abschließend noch eine Bitte aussprechen: Wenn es darum geht, für das Recht auf freie Religionsausübung einzutreten, erwarte ich, dass auch diejenigen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind und in unserem Land erfahren, welch großes Geschenk es ist, seinen Glauben frei leben zu können, und zwar unabhängig davon, welcher Religion man angehört, die erfahren, welch großes Geschenk es ist, Gebetshäuser bauen zu können, wissen, dass es auch darauf ankommt, dass sie selbst für das Menschenrecht der Glaubensfreiheit eintreten.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Christoph Strässer für die SPD-Fraktion.
Christoph Strässer (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Religionsfreiheit ist Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen geworden, bei denen es sowohl um die praktische Umsetzung als auch um Grundsatzfragen geht. Dafür politische Aufmerksamkeit zu investieren, lohnt sich. Denn als Menschenrecht zielt die Religionsfreiheit in letzter Konsequenz auf die wirksame Anerkennung von Würde, Freiheit und Gleichheit aller Menschen.
Dies ist ein Zitat aus einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung von Heiner Bielefeldt, der seit einigen Monaten Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Fragen der Religionsfreiheit ist. Ich glaube, diesem Zitat kann jeder in diesem Hause zustimmen. Es ist gut, dass wir heute über dieses Thema diskutieren. Auch ich freue mich über die Anwesenheit der Repräsentanten vieler christlicher Glaubensgemeinschaften, die ich im Namen der SPD-Fraktion ganz herzlich begrüße.
Die Freude über diese Tatsache wäre allerdings noch größer, wenn wir hier auch Angehörige anderer Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften begrüßen könnten. Viele können deshalb nicht hier sein, weil sie wegen ihres Glaubens verfolgt werden, weil sie inhaftiert sind und um ihr Leben fürchten müssen, und das allein, weil sie sich zu einem Glauben bekennen oder für sich in Anspruch nehmen, nicht zu glauben, keinem Bekenntnis anzugehören oder von einem Bekenntnis zu einem anderen wechseln zu wollen.
Auch all denjenigen gehört unsere Solidarität. Sie alle haben denselben Anspruch auf Schutz, den die Glaubens-, die Bekenntnis- und die Weltanschauungsfreiheit jedem einzelnen Menschen zukommen lässt.
Ich denke hier insbesondere - darauf möchte ich hinweisen - an sieben führende Mitglieder der iranischen Bahai-Gemeinde, deren Aufgabe es ist, die sozialen und religiösen Belange der circa 300 000 Bahai im Iran zu koordinieren. Sie sind seit März 2008 inhaftiert, zum Teil in Isolationshaft im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran. Sie blieben 20 Monate ohne Anklage in Haft und wurden im Juni dieses Jahres nach wenigen Verhandlungstagen ohne jegliche Beweise und ohne den Anschein eines rechtsstaatlichen Verfahrens zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Die Bahai sind eine kleine Gemeinschaft, eine Gemeinschaft, die wie kaum eine andere seit ihrer Gründung von den Gedanken der Friedfertigkeit und Toleranz geleitet wurde. Gerade weil es nur eine vergleichsweise kleine Gruppe ohne große Lobby ist, gilt, dass wir uns ihrer Interessen annehmen und um unserer eigenen Glaubwürdigkeit willen die uneingeschränkte und repressionsfreie Ausübung ihres Glaubens weltweit einfordern müssen.
Ich freue mich, dass ich auf der Tribüne auch Angehörige des Nationalen Geistigen Rates der Bahai in Deutschland sehe. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen hier im Deutschen Bundestag!
Religionsfreiheit ist - das ist von Ihnen, Herr Kollege Kauder, zu Recht angesprochen worden - ein individuelles Menschenrecht. Es ist nahezu weltweit im Internationalen Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte verbürgt, der seit 1966 von der überwiegenden Mehrzahl der Staaten ratifiziert wurde. Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist damit nichts, das von Staaten gewährt wird. Nein, es handelt sich um ein Recht, auf das ein jeder Mensch einen Anspruch hat.
Obwohl dies so ist, können viele Menschen weltweit ihren Glauben nicht frei ausüben. Das hat viele Ursachen und Ausprägungen. Es gibt Konflikte und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen religiösen Gruppen, zum Beispiel immer wieder zwischen Muslimen und Christen in Nigeria. In Indien werden christliche Kirchen durch hinduistische Fanatiker zerstört, ohne dass der Staat Schutz gewährt. Das Thema Irak haben Sie bereits angesprochen. Im Bürgerkrieg in Sri Lanka haben singhalesische Mönche mit Hetzkampagnen gegen Tamilen eine verheerende Rolle gespielt.
Wir weisen darauf hin - das kann man auch nachlesen -, dass religiös begründete Konflikte und die Verfolgung religiöser Minderheiten weltweit stark zunehmen. In über 60 Ländern weltweit ist die Religionsfreiheit stark eingeschränkt. Doch dabei - auch das möchte ich sagen - geht es oft nur vordergründig um Religion. Unterschiedlichste politische Motive, soziale Ungleichheit und kulturelle Differenzen bilden zumeist die tatsächlichen Ursachen. Die Leidtragenden sind meist Angehörige religiöser Minderheiten. Sie werden diskriminiert, verfolgt, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt oder sogar getötet. Das darf uns nicht unberührt lassen. Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass wir heute so umfassend über dieses Thema diskutieren.
Ich möchte noch ein weiteres Thema ansprechen, das uns auch in unserer Außenpolitik ein Stück weit angeht. Es geht um folgende Frage: Wie stehen wir dazu, dass in bestimmten Staaten, insbesondere islamischer Prägung, der Religionswechsel unter Strafe steht? Nach unserer Auffassung - ich glaube, das ist seit vielen Jahren Konsens in den Vereinten Nationen; es gibt einen sogenannten General Comment dazu - ist ein Bestandteil der Religionsfreiheit die Freiheit, die Religion repressionsfrei zu wechseln.
In einigen islamischen Staaten, insbesondere in Pakistan, in Saudi Arabien, aber leider Gottes auch in Afghanistan - deshalb habe ich auf unsere Außenpolitik hingewiesen - wird der Abfall vom Islam, die Apostasie, immer noch mit der Todesstrafe geahndet. Über dieses Thema sollten wir hier im Deutschen Bundestag diskutieren, und darüber hinaus sollte die Bundesregierung in all ihren Bemühungen, gerade in Afghanistan, dafür sorgen - dies ist meine ganz herzliche Bitte -, dass in diesen Ländern die unmenschliche Todesstrafe abgeschafft wird. Sie darf erst recht nicht angewandt werden, wenn Menschen das tun, was ihnen in weltweiten Vereinbarungen zugebilligt worden ist. Das kann nicht sein. Das müssen wir in unseren internationalen Gesprächen immer wieder anführen.
Ich möchte noch kurz die Gelegenheit nutzen, darauf hinzuweisen, dass auch in Europa zunehmend über Fragen von Religionsfreiheit und Diskriminierung religiöser Minderheiten gestritten wird. Ich nenne nur einige Themen: das Tragen der Burka in Belgien, religiöse Symbole in bestimmten Schulen in Italien, das Tragen des Kopftuchs an französischen Schulen, also in einem laizistischen Staat. Ich nenne bewusst auch das Thema ?Volksabstimmung in der Schweiz über ein Minarettbauverbot?. Ich weiß, das alles spielt sich auf einem anderen Niveau ab. Aber ich warne davor, zu denken, dass die Religionsfreiheit in Europa nicht zur Diskussion steht. Auch wir streiten. Ich möchte nicht wissen, wie eine Volksabstimmung über den Bau von Minaretten bei uns Deutschland, wenn sie zulässig wäre, ausgehen würde. Ich habe die Befürchtung, dass sie so wie in der Schweiz ausgehen würde.
Mein Appell zum Schluss: Lassen Sie uns gemeinsam nicht nur weltweit für die Religionsfreiheit von religiösen Minderheiten eintreten, sondern auch dafür sorgen, dass wir diese Diskussion in Europa auf einem hohen Niveau führen. Auch in allen europäischen Staaten muss allen Minderheiten das natürliche Recht auf Religionsausübungsfreiheit zugebilligt werden. Vielleicht können einer Debatte wie dieser im nächsten Jahr Vertreter von Minderheiten, die heute noch in Gefängnissen sitzen, folgen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Christian Lindner für die FDP-Fraktion.
Christian Lindner (FDP):
Frau Präsidentin! Verehrte anwesende Vertreter unserer christlichen Kirchen! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Koalitionsfraktionen haben dem Hohen Haus heute Morgen ein Papier vorgelegt, das am Jahresende vielleicht einen verbindenden Charakter hat. Auch der Kollege Singhammer und ich haben uns darauf verständigt, dass wir in dieser Debatte die vorweihnachtliche Ruhe nicht weiter stören wollen. 70 Prozent der Menschen, 70 Prozent der Weltbevölkerung können ihre Religion nicht frei leben, unterliegen Beschränkungen ihrer Religionsfreiheit. Angesichts dieser Tatsache wirkt manche Diskussion, die wir in der deutschen Innenpolitik führen, übrigens etwas provinziell. Da streiten wir über Probleme, die sich angesichts der existenziellen Probleme, die andere Menschen in anderen Kulturkreisen, in anderen Staaten haben, doch bescheiden ausnehmen.
Das Recht, nach dem Sinn des eigenen Lebens zu fragen, nach Quellen der Hoffnung und Quellen der Solidarität im Miteinander zu suchen, gehört zum Menschen. Der Mensch schaut immer über seinen eigenen Horizont hinaus und sucht auch das Verbindende zwischen den Generationen, sucht Transzendenz; es gehört zum Menschen dazu. Wenn also Menschen daran gehindert werden, ihren Glauben zu suchen oder ein Bekenntnis abzulegen, wenn sie daran gehindert werden, ihre Religion zu leben und auszudrücken, wenn sie beschränkt werden, eine Religion auszuüben, oder veranlasst werden, eine Religion anzunehmen, dann ist der Mensch selbst beschränkt, dann ist die Würde des Menschen selbst elementar beschränkt. Deshalb ist es ein Gebot liberaler Menschenrechtspolitik, hier weltweit Engagement zu zeigen.
Vergessen wir indes nicht die Frage der Religionsfreiheit in Europa. Sie ist uns nicht zugefallen, sondern sie ist eine zivilisatorische Errungenschaft, um die viele Generationen und Jahrhunderte gekämpft werden musste. Meilensteine sind beispielsweise - um nur zwei zu nennen - der Augsburger Religionsfrieden und die Weimarer Reichsverfassung.
Paradox ist: Je stärker sich der Staat aus der Religionspolitik zurückgezogen hat, desto freier waren die Menschen, ihre Religion zu prägen. Erst als der Staat mit dem Augsburger Religionsfrieden selbst nicht mehr getauft war, war es möglich, dass seine Untertanen und späteren Bürger ihre Konfession selbst frei wählen. Von zentraler Bedeutung ist, nicht Republik gegen Religion zu setzen, sondern zu begreifen, dass republikanische Werte möglicherweise erst die übergreifende Klammer bilden können, unter der Menschen als freie Individuen oder als Gemeinden und Gruppen ihren Glauben leben können.
Von dieser Debatte muss ein Signal nach innen, in die Innenpolitik Europas - der Kollege hat es angesprochen -, aber auch in die Welt ausgehen, dass es eben keinen Konflikt geben darf zwischen Staat und Religion, zwischen republikanischen Werten und religiösen Geboten, zwischen weltlichem Recht und persönlichen Glaubensüberzeugungen, sondern dass erst der offene Raum der Republik den Menschen die Möglichkeit eröffnet, ihren individuellen Glauben zu stiften und zu leben.
Das ist das Anliegen der Liberalen, einzelner christlicher Demokraten und vieler anderer mehr.
Wir wollen in diesem Sinne, dass Menschenrechts- und Entwicklungspolitik, dass unsere auswärtigen Beziehungen Menschenrechte schützen, Menschen das Recht eröffnet, ihre Religion zu leben. Es ist ein Ausweis von Zivilität, ein Ausweis von Reife einer Gesellschaft und einer Staatsordnung, wenn sie Menschen in diesem Sinne Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet.
Wir dürfen uns nicht allein auf freundliche Appelle beschränken, sondern müssen sie mit dem offensiven Werben um diese republikanische Qualität verbinden. Die Menschenrechtsfrage müssen wir mit den unterschiedlichen Kontakten, die wir in diese Länder haben, verbinden, um sicherzustellen: Der einzelne Mensch braucht diese Freiheit, und es ist ein Gewinn für diese Gesellschaften, wenn sie sich in dieser Weise innerlich liberalisieren.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Raju Sharma das Wort.
Raju Sharma (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute wieder einmal mit dem weltweiten Schutz der Religionsfreiheit. Es gibt wohl niemanden in diesem Raum, der dieses Ansinnen nicht grundsätzlich unterstützen würde. Das gilt ganz besonders für die Linke. Ich sage ?ganz besonders?, weil Religionsfreiheit für uns nicht nur eine Plattitüde ist. Wir wissen, auch und gerade wegen unserer Geschichte, um den hohen Wert der Religionsfreiheit.
In einer immer enger zusammenwachsenden Welt mit einer Vielzahl verschiedener Glaubensrichtungen und Weltanschauungen ist die Gleichbehandlung aller Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben, auch, aber nicht nur in globaler Hinsicht. Leider kann man von keinem Land dieser Erde behaupten, dass es Religionsfreiheit in letzter Konsequenz zulässt, auch nicht von Deutschland. Wirkliche Religionsfreiheit setzt nämlich voraus, dass keine Religion gegenüber einer anderen privilegiert wird und dass alle Religionen die absolut gleichen Rechte haben.
Das ist nicht nur in Asien und Afrika oft nicht der Fall. Auch in weiten Teilen Europas einschließlich Deutschlands - das ist vorhin schon angesprochen worden - ist die Gleichberechtigung der Religionen noch längst keine Wirklichkeit. Von großen Teilen der Unionsparteien wird das auch gar nicht gewollt; auch das haben wir heute hören können. Anders ist das Gerede von der christlich-jüdischen Tradition nicht zu verstehen.
Herr Kauder, Sie waren für Ihre Verhältnisse heute sehr moderat. Aber sehen wir uns einmal die Situation in Bayern an: Dort ignoriert die CSU-geführte Staatsregierung hartnäckig Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts. Beide sehen die Religionsfreiheit von Schülern durch Kruzifixe in den Klassenzimmern verletzt. Aber die Kreuze hängen immer noch.
- Hören Sie zu; ich werde Ihnen jetzt nämlich sagen, wie sich das Bundesverfassungsgericht dazu äußert.
Unser höchstes Gericht leitet aus dem Grundgesetz das Gebot zur Wertneutralität des Staates ab; Religion und Staat sollen getrennt sein.
So will es unsere Verfassung, Herr Kauder, und nichts anderes will die Linke. Mit Religions- oder Kirchenfeindlichkeit hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun. Das Gegenteil ist der Fall.
Wirkliche Religionsfreiheit kann nur in einer multireligiösen Gesellschaft wie der Bundesrepublik - ich danke dem Herrn Bundespräsidenten ausdrücklich für seine klarstellenden Worte -, nur in einem säkularen Staat gelingen. Genauso sieht es auch der UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit, Heiner Bielefeldt, auf den auch Herr Strässer eben verwiesen hat. Auch Bielefeldt ist überzeugt, dass die klare Trennung von Staat und Religion Voraussetzung für gelebte Religionsfreiheit ist.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie müssen sich schon entscheiden: Stehen Sie fest auf dem Boden des Grundgesetzes und treten Sie vorbehaltlos für wirkliche Religionsfreiheit ein, oder wollen Sie doch lieber eine christliche Staatsreligion?
So lassen es zumindest Ihr Antrag und die heutigen Ausführungen Ihres Fraktionsvorsitzenden vermuten.
Ihr Koalitionspartner ist in dieser Frage erfreulich klar. Wie der Presse zu entnehmen war, lehnt die FDP religiöse Überzeugungen als Leitbild für gesellschaftliche Integration ab. Im Gegenteil, der Bezug auf ein christlich-jüdisches Abendland könne sogar als - ich zitiere - ?Ausgrenzungsformel? verstanden werden. Dem kann ich nur hinzufügen: Das ist richtig; aber der Konjunktiv ist überflüssig. Dies ist eine Ausgrenzungsformel und spiegelt die Haltung großer Teile der Union zu muslimischen Migranten in unserem Land wider.
Ein konservativer Muslim ist schnell als Verfassungsfeind verdächtig, während fundamentale Christen mit der größten Nachsicht rechnen können. Wenn Piusbrüder die Demokratie durch eine Gottesherrschaft ersetzen und Homosexualität aus dem öffentlichen Leben verbannen wollen, dann hält die Regierung solche Äußerungen allenfalls für - ich zitiere - ?nicht unumstritten?, so nachzulesen in einer Antwort auf die Kleine Anfrage der Grünen.
Der Einsatz der Union für im Ausland verfolgte Christen ist, allen Beteuerungen zum Trotz, wenig glaubwürdig. Zwar haben in der ersten Debatte zu diesem Thema, die wir im Juli dieses Jahres geführt haben, gleich drei Redner der Union die verzweifelte Situation der Christen im indischen Orissa beklagt; als wir aber nur einen Tag später ein Treffen mit indischen Abgeordneten hatten, traute sich kein einziger Unionsvertreter, dieses Thema anzusprechen. Stattdessen wurden die guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern gelobt; sie sind auch lobenswert. Ich war damals derjenige, der kritische Nachfragen stellen musste - das habe ich gern gemacht -, und dann fand eine interessante Diskussion statt. An dieser Diskussion hat die Union aber nicht teilgenommen. Es waren ja auch keine Fernsehkameras dabei.
Für ein solches Verhalten habe ich eine treffende Beschreibung gefunden. Ich zitiere:
All ihre Werke aber tun sie, dass sie von den Leuten gesehen werden. Sie machen ihre Denkzettel breit und die Säume an ihren Kleidern groß.
Gemeint sind natürlich die Pharisäer, so geoutet von Jesus Christus, nachzulesen bei Matthäus, Kapitel 23, in der Heiligen Schrift - in Ihrer Heiligen Schrift, nicht meiner.
Nein, meine Damen und Herren von der Koalition, wir finden Ihren Antrag unglaubwürdig und werden ihm daher nicht zustimmen.
Aber auch die SPD wäre noch glaubwürdiger, wenn sie in ihrem eigenen Laden zumindest eine ernsthafte Debatte über die Trennung von Staat und Religion zulassen würde. Das tut sie aber nicht. Stattdessen hat Sigmar Gabriel deutlich gemacht, dass er den Arbeitskreis der SPD-Laizisten nicht anerkennen wird, und auch die Katholiken Andrea Nahles und Wolfgang Thierse wollen Laizisten unter dem Dach der SPD lieber keinen Platz einräumen.
Konsequent ist dagegen der Antrag der Grünen. Hier ist der Wille zur vorbehaltlosen rechtlichen Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften klar erkennbar - weltweit, aber genauso in Deutschland und in Europa. Ohne diese rechtlich verbindliche Gleichstellung kann es keine Religionsfreiheit geben. Dann bleibt Religionsfreiheit eine leere Phrase, die vom guten Willen der Mächtigen abhängt.
Ohne Rechte werden religiöse Minderheiten nie denselben Status haben wie die Mehrheitsreligion oder auch Nichtreligion. Diskriminierung wird dann immer drohen, egal ob es sich um Christen im Irak, Buddhisten in China oder Bahai im Iran handelt.
Oder auch um Muslime in Deutschland: Wer bezweifelt, dass der Islam eine gleichberechtigte Religion in unserem Land und in Europa ist, erschwert nicht nur die Integration der Muslime, sondern der hat auch nicht begriffen, dass Religionsfreiheit ein Recht ist, das jedem Menschen gleichermaßen zusteht. Er meint immer noch, dass es Religionen gibt, die richtiger sind als andere. Er missversteht religiöse Traditionen als Leitkultur, die für alle verbindlich ist. Das stimmt aber nicht. Traditionen, egal welchen Ursprungs, verändern sich. Verbindlich ist nur das Gesetz. Vor dem müssen alle Religionen gleich sein.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Tom Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Religionsfreiheit ist ein unveräußerliches und unverletzliches Menschenrecht. So steht es in Art. 4 des Grundgesetzes. Aber nicht nur da. Zum ersten Mal als Gesetz dokumentiert und in Stein gemeißelt worden ist die Religionsfreiheit im 6. Jahrhundert vor Christus vom persischen König Kyros dem Großen. Also ist Religionsfreiheit nicht nur ein westlicher und schon gar nicht ein originär christlicher Wert.
Religionsfreiheit ist aber immer ein bedrohtes Menschenrecht gewesen, nicht nur im Nahen und Fernen Osten. Die Hälfte der Deutschen ist heute der Meinung, dass nicht alle Religionsgemeinschaften dieselben Rechte haben sollten. 42 Prozent der Deutschen finden, die Ausübung des islamischen Glaubens müsse stark eingeschränkt werden. Nur jeder vierte Deutsche befürwortet den Bau von Moscheen; das sind weniger als in der Schweiz. Das sind die Ergebnisse einer ganz aktuellen repräsentativen Umfrage der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Herr Professor Pollack, der diese Umfrage im Exzellenzcluster der dortigen Universität begleitet hat, hat uns diese Studie gestern noch einmal vorgetragen.
Breite Teile der deutschen Bevölkerung erkennen die Religionsfreiheit von mindestens einer religiösen Minderheit, dem Islam, also nicht an. Diese Stimmung in der Bevölkerung muss ernst genommen werden. Sie muss auch von uns hier ernst genommen werden.
Deshalb darf ein Antrag zur Religionsfreiheit, Herr Kauder, nicht nur auf das außereuropäische Ausland zeigen, sondern muss sich auch mit der gesellschaftlichen Entwicklung hier bei uns befassen.
Auch in Deutschland muss die Mehrheit verstehen, dass Minderheiten das gleiche Recht auf Religionsfreiheit haben.
Unter dem Deckmantel von Gleichberechtigung und Emanzipation wird gegenwärtig in vielen europäischen Ländern - es ist schon gesagt worden -, zum Beispiel in Frankreich, Holland, Belgien und Spanien, ein Kopftuch- oder Burkaverbot gefordert. Das befreit aber noch nicht einmal die Frauen, denen der Schleier oder die Burka aufgezwungen worden ist, es verbannt sie allenfalls aus der Öffentlichkeit. In jedem Fall aber verletzt es die individuelle Religionsfreiheit derjenigen Trägerinnen, die diesen Schleier als Ausdruck ihres Glaubens tragen wollen. Solche Verbote sind reine Symbolpolitik am weiblichen Körper. Freiheit kennt keine Kleiderordnung.
Bekleidungsverbote dürfen nicht mit Normen verwechselt werden, die Zwang und Nötigung zu bestimmten Formen des religiösen Bekenntnisses verbieten. Dafür gibt es bei uns schon längst § 240 des Strafgesetzbuches, also das Verbot der Nötigung.
Religionsfreiheit ist das Recht, seinen Glauben frei zu bekennen oder auch zu verbergen. Wer also zum Beispiel seine Tochter zwingt, ein Kopftuch zu tragen, oder sie zwingt, es nicht zu tragen, obwohl sie es will, der vergeht sich an diesem Recht. Religionsfreiheit ist ein Schutzrecht für Religion und vor Religion. Beide Rechte müssen gekannt und durchgesetzt werden.
Die Diskussionen über die Religionsfreiheit sind in Deutschland untrennbar mit der Integrationsdebatte verbunden, die wir gerade führen. Integration setzt Religionsfreiheit voraus. Die Bundeskanzlerin hat an diesem Pult gesagt, Multikulti sei gescheitert. Ich weiß nicht, was sie damit meint, ob sie also zum Beispiel meint, die plurale Gesellschaft sei gescheitert. Das wäre eine groteske These. Denn das multikulturelle Deutschland ist eine Realität. Nichts anderes hat der Bundespräsident gesagt - und er hat recht -: Auch der Islam gehört heute zu Deutschland.
Diese Zustandsbeschreibung darf man nicht mit der Aufgabe der Integration verwechseln. Diese Aufgabe haben nicht nur die Migranten, sondern auch die Integrations- oder Einwanderungsgesellschaften. Das zu erkennen und anzuerkennen fällt in Deutschland immer noch vielen schwer. Ein Einwanderungsland wider Willen sollte sich nicht über widerwillige Einwanderer wundern.
Deshalb ist es beunruhigend, dass ein antimuslimischer Affekt heute in vielen Ländern der Europäischen Union und in Deutschland zur zentralen Ausdrucksform von Fremdenangst geworden ist.
Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfreiheit verlangt nicht die religiöse Neutralisierung, sondern die religiöse Vielfalt und Gleichberechtigung. Wer diese nicht akzeptiert, wäre selbst im persischen Reich des Königs Kyros dem Großen vor 2 500 Jahren politisch und moralisch nicht auf dem Stande der Zeit gewesen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Singhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wollen uns in dieser Debatte für die Rechte der Menschen in aller Welt einsetzen, die wegen ihrer religiösen Überzeugung verfolgt, eingesperrt, gefoltert oder gar getötet werden, und wir wollen denen eine Stimme geben, die verstummt sind, weil sie in Gefängnissen eingesperrt sind, weil ihre Existenz verschwiegen wird oder weil ihr Schicksal vertuscht werden soll.
Herr Kollege Koenigs, während wir in Bezug auf die Religionsfreiheit vergleichsweise in einem Paradies leben,
leben viele Menschen, vor allem Christen - beispielsweise im Irak -, eher in einer Hölle. Fast 70 Prozent der Menschen auf unserem Planeten in 64 Ländern kennen Religionsfreiheit nicht oder allenfalls nur sehr eingeschränkt. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die Aufgabe der freien Nationen, mit Diplomatie und mit Nachdruck für die Religionsfreiheit einzutreten, die wir mittlerweile als selbstverständlich ansehen.
Religionsfreiheit ist unteilbar und nicht auf bestimmte Glaubensrichtungen beschränkt. Eine Religionsgemeinschaft leidet weltweit aber besonders unter Verfolgung, nämlich die Christen. Deshalb wollen wir das hier auch ganz besonders ansprechen.
Immer neue Schreckensnachrichten ereilen uns. Am 31. Oktober 2010 sind in der irakischen Hauptstadt Bagdad 51 Gläubige und 3 Priester zu Tode gekommen. Islamistische Terroristen hatten sich in der syrisch-katholischen Kirche mit 120 Geiseln verschanzt. Sicherheitskräfte stürmten das Gotteshaus mit schrecklichen Folgen.
Koptische Christen in Ägypten werden diskriminiert oder fürchten gar um ihr Leben. In Pakistan schlägt das Schicksal der Christin Asia Bibi, einer fünffachen Mutter, hohe Wellen. Sie wurde zum Tode verurteilt, weil sie - in Bedrängnis - ihrem Glauben nicht abschwören wollte.
Auch befreundete Nationen - das darf man hier ebenfalls ansprechen - sind teilweise nicht in der Lage, Religionsfreiheit zu garantieren. Ich meine die Türkei. Der vor kurzem fertiggestellte Fortschrittsbericht der EU-Kommission, der jedes Jahr fortgeschrieben wird, ergibt für das Jahr 2010 Folgendes: Muslimischer Religionsunterricht ist zwingend; keine Änderung seit den Jahren 2007, 2008 und 2009. Die seit 1971 verbotene Ausbildung von Priestern für die orthodoxe Kirche ist auch im Jahr 2010 nicht möglich.
Wer aber eine freie theologische Ausbildung von Priestern nicht zulässt, der trocknet die Zukunft christlichen Lebens aus. Auch mit Blick auf die Diskriminierung beim Bau von Kirchen und Gebetsstätten gibt es keine Verbesserung seit dem Fortschrittsbericht aus dem Jahr 2007. Stattdessen beunruhigen uns Meldungen von Angriffen und Bedrohungen gegen Kleriker und gegen Gebetsstätten.
Ich selbst habe mit einigen Kollegen und Vertretern der Kirchen in diesem Jahr christliche Gemeinden in Anatolien besucht. Nach wie vor herrscht dort Perspektivlosigkeit, sodass wir befürchten müssen, dass ein Land mit einer fast 2 000-jährigen christlichen Tradition, eines der Herzländer christlicher Tradition, bald eine christenfreie Zone wird.
Deshalb mein Appell an die türkische Regierung, die Regierung eines befreundeten Landes: Sorgen Sie mit der gleichen Entschlossenheit und Entschiedenheit dafür, dass Kirchen in der Türkei neu gebaut werden können, dass in alten und ehrwürdigen Gebetsstätten wieder gebetet werden kann, wie Sie - zu Recht - verlangen, dass auch in Deutschland Moscheen neu gebaut werden können.
Für die Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei muss gelten: Bevor weitere Kapitel eröffnet werden, muss eingehend geprüft werden, ob bei der Gewährung von Religionsfreiheit, die von allen hier zu Recht angemahnt wird, Fortschritte, und zwar nachprüfbare Fortschritte, gemacht worden sind.
Ich danke an dieser Stelle ebenfalls dem Bundesaußenminister, weil er in Gesprächen mit der irakischen Regierung deutlich gemacht hat, welche Bedeutung die Bundesrepublik Deutschland dem Schutz religiöser Minderheiten, gerade auch der christlichen Minderheiten beimisst. Das ist notwendig.
Es macht uns Sorge, dass gerade in den Ländern, in denen eine große Präsenz von Streitkräften aus westlichen Ländern vorhanden ist - das betrifft auch Afghanistan, wo unsere Bundeswehrsoldaten Dienst tun -, gleichwohl von einer Realisierung der Religionsfreiheit keine Rede sein kann. Deshalb muss es unser Anliegen sein, uns in den Ländern, wo wir selbst entsprechende Möglichkeiten haben, dafür einzusetzen, dass die Religionsfreiheit umgesetzt wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Weihnachten ist ein Fest des Friedens. Die Botschaft, die von Weihnachten ausgeht, richtet sich an alle Menschen: Der Friede sei mit euch. Das betrifft aber insbesondere diejenigen, die christlichen Glaubens sind und die unter einer unfriedlichen Umgebung leiden. Ihnen senden wir die Botschaft zu: Wir wollen uns für euch einsetzen, damit der Friede auch zu euch kommt.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun die Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion.
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch ich bedanke mich bei den auf der Tribüne versammelten Vertretern der christlichen Kirchen, aber auch bei den Vertretern anderer Religionsgemeinschaften, die heute hier bei uns sind und dieser Debatte folgen, für Ihr Kommen. Sie belegen eindrucksvoll die Vielfalt der Religiosität in Deutschland und darüber hinaus und die Wichtigkeit der Debatte, die wir heute führen.
Ein Schwerpunkt der Koalition bei dieser Debatte liegt auf dem Thema Christenverfolgung. Wikipedia definiert diesen Begriff als ?die systematische gesellschaftliche und/oder staatliche Benachteiligung und existenzielle Bedrohung von Christen aufgrund ihres Glaubens?. Der Antrag der Koalition beschreibt ebenso wie unser Antrag die schwierige Situation vieler gläubiger Christen in vielen Teilen der Welt. Die Verfolgung von Menschen aufgrund ihres Glaubens beschäftigt uns im Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages, seit es diesen Ausschuss gibt; denn das Recht, die eigene religiöse Überzeugung ohne Behinderung oder Verfolgung ausüben zu können, ist eines der wichtigsten Menschenrechte, wobei es fast unnötig ist, hinzuzufügen, dass die Definition von Wikipedia selbstverständlich nicht nur für die Christen, sondern auch für alle anderen Religionen auf dieser Welt gilt.
Verfolgung wegen der Religion ist ein weltweites Phänomen; dies wurde schon dargestellt. Christen werden im Iran, in Indien, China und vielen anderen Teilen der Welt verfolgt, Muslime ebenfalls in Indien, China und anderen Regionen. Die Bahai, auf deren Situation mein Kollege Strässer schon sehr ausführlich eingegangen ist, gehören zu den am stärksten verfolgten Religionen in dieser Welt. Die Jesiden haben ebenfalls ein schwieriges Leben im Iran. In Afghanistan haben Christen und Hindus mit vielen Einschränkungen und massiver Verfolgung zu rechnen. Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen.
Ich unterstreiche ausdrücklich, dass sich die Türkei auf dem Weg nach Europa verändern muss, was die Anerkennung auch des christlichen Glaubens, der Ausbildung von Christen in der Türkei, den Bestand der Klöster in Tur Abdin und dergleichen anbetrifft. Dies ist unglaublich wichtig.
Weil sich die Situation vieler Menschen unterschiedlicher Religionen so gleicht, denken wir, dass der Antrag der Koalition mit seinem Hauptfokus auf der Christenverfolgung und der mangelnden Religionsfreiheit außerhalb Europas zu kurz greift, wobei ich herzlich darum bitte, nicht inflationär mit dem Topos ?Verfolgung? umzugehen. So hat zum Beispiel die kürzlich erfolgte Reise des Menschenrechtsausschusses nach Ägypten ergeben, dass sich die koptischen Christen dort zwar in manchen Bereichen stark diskriminiert, aber nicht systematisch verfolgt fühlen. Das hat uns deren Sprecher, Kardinal Naguib, ausdrücklich versichert. Verstehen Sie mich recht: Ich kämpfe gegen jede Form der Diskriminierung; ich möchte nur nicht, dass wir den Begriff ?Verfolgung? entwerten, indem wir ihn mit Diskriminierung gleichsetzen.
Ich komme nun zur Situation der Christen im Irak; Herr Kauder, Sie sind darauf eingegangen. Der Besuch mit Außenminister Westerwelle Anfang Dezember in Bagdad, an dem die Kollegin Granold und ich teilgenommen haben, hat deutlich gemacht, dass manche Maßnahme, zum Beispiel die gezielte Aufnahme von Christen in Deutschland und in Europa, von den christlichen Repräsentanten vor Ort eher skeptisch gesehen wird. Einhellig haben uns alle hohen Würdenträger der unterschiedlichen christlichen Kirche im Irak gebeten, auf derartige Programme und Aktionen nur für Christen künftig zu verzichten, und betont, es sei wichtiger, auf die Regierung im Irak einzuwirken, dass die Menschen dort bleiben können. Dies ist bei dieser Reise auch geschehen. Ich freue mich sehr über die Zusage der irakischen Regierung, die Christen künftig besser zu schützen.
In unserem Antrag halten wir fest: Religionsfreiheit ist ein universell geltendes individuelles Menschenrecht, das neben dem Freiheitsrecht auch ein Gleichheitsrecht aller Menschen ist, das sich aus der gleichen Würde aller Menschen ableitet. Nutznießer sind nicht Religionen - das ist schon gesagt worden -, sondern die Menschen, unabhängig von ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugung. Wir dürfen deshalb nicht vergessen, uns mit der Situation im eigenen Land und der Situation in der Europäischen Union auseinanderzusetzen.
Weihnachten ist - Herr Singhammer hat das angesprochen - ein Fest des Friedens. Ich mache mir zum Beispiel Sorgen um die Zukunft unserer vielfältigen Gesellschaft, wenn in einem Weihnachtspfarrbrief einer katholischen Kirchengemeinde in meinem Wahlkreis vor dem Islam, der uns ?die vielen Einwanderer gebracht hat?, als einer ?Religion der Macht? gewarnt wird, wenn dort auf muslimische Eroberungswellen hingewiesen wird und die Kreuzzüge bemüht werden. Das kann man so nicht stehen lassen. Da hilft es auch nicht, wenn der Pfarrer dann ein ?gesegnetes, liebereiches neues Jahr? wünscht.
Dazu passt, dass - Herr Koenigs hat das schon angesprochen - in einer brandneuen wissenschaftlichen Studie der Universität Münster zur religiösen Vielfalt in der Gesellschaft der Verfasser, Herr Professor Dr. Detlef Pollack, berichtet, dass nur 34 Prozent der Menschen im Westen Deutschlands und nur 26 Prozent der Bürger im Osten positiv über Muslime denken. In den Niederlanden, Frankreich und Dänemark sind diese Zahlen fast doppelt so hoch, obwohl wir misstrauisch beobachten, welche politischen Strömungen sich dort entwickeln. Der Aussage, religiöse Vielfalt sei bereichernd, stimmt nur die Hälfte der bundesdeutschen Befragten zu. Das ist ebenso erschreckend wie ein Minarettverbot in der Schweiz. Es sind Hinweise darauf, dass auch wir uns hier in Deutschland mit dem Thema Religions- und Glaubensfreiheit noch intensiver befassen müssen, übrigens unter Einbeziehung der hier lebenden Muslime und religiöser Minderheiten.
Wichtig ist hierbei für mich, dass der Glaube Privatsache ist und keinesfalls über dem Recht steht und dass man den Glauben und den Nichtglauben des anderen vor diesem Hintergrund akzeptiert und achtet. Dazu gehört auch, dass jeder erst einmal vor seiner eigenen Tür kehrt - ich verweise auf den eben erwähnten Pfarrbrief -, dass man den Balken im eigenen Auge sucht, bevor man sich mit dem Splitter im Auge des anderen befasst.
Wenn wir das beherzigen und die politischen Weichen in diese Richtung stellen, dann sind wir auf einem guten Weg. Dazu leisten wir mit unserem Antrag einen guten Beitrag. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Pascal Kober.
Pascal Kober (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das weltweite entschiedene Eintreten für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist Kennzeichen der wertegebundenen und wertegeleiteten Außenpolitik unseres Landes und dieser Regierung. Als christlich-liberale Koalition haben wir uns in unserem Koalitionsvertrag verpflichtet, dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit in dieser Legislaturperiode ein besonderes Augenmerk zu widmen, und das nicht ohne Grund.
Meine Vorredner haben die Zahlen schon genannt. Fast 70 Prozent der Weltbevölkerung leben in Ländern, in denen das Menschenrecht auf Religionsfreiheit eingeschränkt ist oder überhaupt nicht anerkannt wird. In manchen Gegenden Indiens werden Christen und Muslime unterdrückt und Opfer von gewalttätigen Ausschreitungen. In der Türkei wird der Bau von Kirchen behindert. Auch die Glaubens- und Religionsfreiheit der Tibeter ist stark eingeschränkt. Im Iran sind gegenwärtig sieben Führer der Bahai dem Vernehmen nach allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit inhaftiert.
Das sind freilich nur wenige Beispiele, die das riesige Ausmaß des weltweiten Problems nur unzureichend erkennen lassen. Viele Staaten - jeder einzelne ist einer zu viel - hindern mit Verboten und legalen und halblegalen Repressionen durch die Staatsgewalt ihre Bürgerinnen und Bürger an der freien Religionsausübung. Viele Staaten - ich wiederhole: jeder einzelne ist einer zu viel - lassen ihre Bürgerinnen und Bürger frei oder nahezu frei gewähren, wenn diese ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger an der freien Ausübung ihrer Religion hindern oder ihnen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit Gewalt antun. Beides sind letztlich staatliche Formen der Unterdrückung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit, gegen die wir uns mit unserer Menschenrechtspolitik entschieden wenden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was die Religionsfreiheit, für die wir weltweit im Rahmen unserer kohärenten und wertegeleiteten Außenpolitik eintreten,
aber nicht meint und was die Toleranz unter den Religionen und Weltanschauungen, die wir einfordern, nicht meint, ist eine relativistische Toleranz oder Religionsfreiheit, die der Frage nach der Gültigkeit von Werten und die, wenn man so will, der Wahrheitsfrage ausweicht. Denn wem alles gleich gültig ist, dem ist am Ende auch alles gleichgültig. Das aber ist das genaue Gegenteil einer wertegebundenen und wertegeleiteten Außenpolitik und das genaue Gegenteil der Idee universell gültiger und unveräußerlicher Menschenrechte.
Das Konzept der Religionsfreiheit, für das wir als christlich-liberale Koalition weltweit eintreten, ist das Konzept einer Toleranz, die nicht alles für richtig hält und auch nicht jedem recht gibt. Wer beispielsweise unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit anderen andere Grundrechte vorenthalten möchte, hat mit unserem entschiedenen Widerspruch zu rechnen. Religionsfreiheit gibt es für uns nur innerhalb des Rahmens der für alle gültigen und universellen und unteilbaren Menschenrechte.
Was wir mit unserer wertegeleiteten Außenpolitik von allen Religionen und Weltanschauungen einfordern, ist gegenseitige Toleranz, aber keine Toleranz, die dem Dialog um Wertefragen ausweicht, sondern eine Toleranz, die den Dialog um die Wahrheit und Gültigkeit von Werten, die den Dialog um die Weise eines friedlichen Zusammenlebens aller sucht, und zwar innerhalb der Friedensordnung, und die jedem die unveräußerlichen Menschenrechte gewährt.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Die Kollegin Annette Groth ist nun die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
Annette Groth (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Wir haben das schon von verschiedenen Rednerinnen und Rednern gehört: Die Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht, und wir sind alle aufgerufen, dieses durchzusetzen - auch bei uns.
Da gibt es viel zu tun. Denn in der letzten Zeit häufen sich die Anschläge auf Moscheen in Deutschland; letzte Woche gab es zwei in Berlin. Die Stimmung gegen den Islam wird angeheizt; etliche Rednerinnen und Redner haben schon darauf hingewiesen.
Aber die Politik muss sich gegenüber Religionen und Weltanschauungen neutral verhalten. Ihr Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, fokussiert sich aber einseitig auf den Schutz christlicher Minderheiten. Gerade in einem interkulturellen Land wie Deutschland mit verschiedenen Religionen und Weltanschauungen und einer großen Zahl von Atheistinnen und Atheisten ist das aber ausgesprochen problematisch.
Das sage ich ganz bewusst als evangelische Christin mit zwanzigjähriger Erfahrung in kirchlichen Einrichtungen. Wie Heiner Bielefeldt - er wurde heute schon öfter zitiert - bei der Anhörung zur Religionsfreiheit treffend gesagt hat: Eine europäische Identität, die sich in Abgrenzung zum Islam versteht, läuft auf Marginalisierung und Diskriminierung von Teilen der europäischen Bevölkerung hinaus. - Das geht nicht.
4 Millionen Menschen muslimischen Glaubens leben bei uns in Deutschland. Es ist unsere Aufgabe, die Beteiligungsrechte der Muslime entsprechend unserem hohen verfassungsrechtlichen Anspruch besser auszugestalten. Diesbezüglich gibt es großen Handlungsbedarf, etwa im Religionsunterricht an Schulen und bei den öffentlich-rechtlichen Medien.
Wir müssen viel stärker den interkonfessionellen und interkulturellen Dialog suchen, wie er weltweit in ökumenischen Begegnungen, in vielen Moscheen und Kirchen praktiziert wird. Es widerspricht dem Gedanken der Toleranz, Muslime in Deutschland für die Diskriminierungen von Christinnen und Christen im Nahen Osten in Geiselhaft zu nehmen.
In der Schweiz warben Plakate für das Minarettverbot, indem sie Minarette als drohend aufragende Raketen darstellten und so den Generalverdacht gegen alle Muslime bebilderten. Die Religionsfreiheit wird so quasi präventiv kassiert. Dagegen sollten wir alle laut protestieren.
Mit den gleichen Argumenten wie für das Minarettverbot lassen sich alle Formen islamischer Präsenz im öffentlichen Raum verbieten. Mit dem Minarettverbot werden die Grundrechte einer Minderheit zur Disposition gestellt. Das darf nicht sein.
Etliche Vorrednerinnen und Vorredner haben gesagt: Die Angst vor dem Islam muss man ernst nehmen. - Das stimmt. Diese Ängste werden in der Bevölkerung aber zum Teil gezielt geschürt.
Wir sollten alles dafür tun, diese Ängste abzubauen, indem wir soziale und kulturelle Konflikte konkret ansprechen; denn durch Diskriminierungen und Verbote werden sie nicht gelöst.
Aufgabe einer verantwortungsbewussten Politik ist auch, die Ängste der muslimischen Bevölkerung zu thematisieren. Wenn eine Schweizer Partei auf ihre offizielle Internetseite ein Onlinespiel stellt, bei dem man Imame abschießen kann, wird deutlich, dass es nicht nur im Islam ein Problem mit Hasspredigern gibt. Diese kulturelle Ideologisierung als westliche Spielart des Fundamentalismus ist zu einer politischen Herausforderung in Europa geworden, wie das Erstarken rechtspopulistischer Parteien europaweit zeigt.
In vielen Ländern des Nahen Ostens haben wir es mit autoritären Regimes zu tun, die die Religion zur Rechtfertigung von Unterdrückung missbrauchen. Betroffen von Diskriminierung sind auch, aber nicht nur christliche Minderheiten. Im Iran zum Beispiel wurden auch islamische Gelehrte umgebracht, die sich den Dogmen der Herrschenden widersetzt haben oder sie nur kritisch infrage stellten. Im Irak - das wurde auch schon angesprochen - sind religiöse Gruppen, aber auch zum Beispiel Homosexuelle, die keine Schutzmacht hinter sich haben, Verfolgung und Angriffen ausgesetzt.
Problematisch ist daher, wenn wir in Deutschland die bevorzugte Aufnahme von christlichen Flüchtlingen aus dem Irak fordern. Über ein Asylgesuch von politisch Verfolgten muss aufgrund der individuellen Notlage und Schutzbedürftigkeit und darf nicht qua Religionszugehörigkeit entschieden werden.
Frau Graf hat schon darauf hingewiesen: In Ägypten werden Kopten diskriminiert. Systematisch werden aber die Bahai verfolgt. Der Staat spielt die verschiedenen religiösen und sozialen Gruppen gegeneinander aus. Die zunehmende Beschneidung wesentlicher Freiheits- und Bürgerrechte in Ägypten ist alarmierend. Wir haben es gesehen. Die letzten Parlamentswahlen haben das eindrücklich gezeigt.
Auch von Bündnispartnern wie Ägypten und Saudi-Arabien müssen wir den Schutz der Menschenrechte und der Religionsfreiheit einfordern. Angesichts ihrer Rolle im ?Kampf gegen den Terrorismus? hält sich die deutsche Außenpolitik hier aber zurück.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Achten Sie bitte auf die Redezeit, Frau Kollegin.
Annette Groth (DIE LINKE):
Letzter Satz. - Doppelstandards bei der Durchsetzung der Menschenrechte und der Religionsfreiheit lehnt die Linke entschieden ab.
Danke schön.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition, SPD und Grüne haben Anträge zu dieser Debatte vorgelegt. Wir werden dem Antrag der Koalition zustimmen,
weil er viel Wahres enthält, aber wir haben einen Änderungsantrag gestellt - darin werden mehrere Änderungen vorgeschlagen -, weil er eben nur die halbe Wahrheit enthält.
Das Problem bei Ihrem Ansatz, meine Damen und Herren von der Koalition, ist die Fokussierung auf die verfolgten Christen.
Bei dem Grundanliegen sind wir an Ihrer Seite; wir wollen aber stärker deutlich machen, dass es um die Verfolgung aller Glaubensrichtungen geht. Überall da, wo Menschen wegen ihrer Glaubensüberzeugung, ihres Glaubenswechsels oder ihrer Missionstätigkeit verfolgt werden, müssen wir aufstehen und die Freiheit dieser Menschen verteidigen - ohne Ansehen des Bekenntnisses.
Ich glaube, wir leisten den verfolgten Christen in aller Welt eigentlich einen Bärendienst, wenn wir den Eindruck erwecken, als ob wir uns als Christen nur um unsere Glaubensbrüder und Glaubensschwestern kümmerten. Es muss um das Prinzip der Religionsfreiheit gehen. Darum geht es ja auch bei dem Streit mit dem islamischen Kulturkreis und dem dort vorherrschenden Menschenrechtsverständnis. In vielen Ländern herrscht grundsätzlich durchaus Respekt vor christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften. Aber wenn sie Muslime missionieren wollen und versuchen, diese von ihrem Glauben überzeugen, dann ist das oft von Repressionen begleitet, bis hin zur Todesstrafe für zum Christentum konvertierte ehemalige Muslime.
Da liegt das Problem. Wir müssen deutlich machen, dass es nicht nur darum gehen kann, den bestehenden Glauben zu respektieren; vielmehr gehört zur Glaubensüberzeugung auch, dass man für seinen Glauben wirbt, wenn man von ihm überzeugt ist, und versucht, Menschen dafür zu gewinnen.
Diese Freiheit müssen wir verteidigen. Wir können sie aber glaubwürdig nur verteidigen, wenn wir das in Bezug auf jede Glaubensüberzeugung tun und nicht nur aus der christlichen Missionsperspektive.
Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen, der in Ihrem Antrag völlig fehlt. Zur Glaubensfreiheit gehören drei wesentliche Elemente: die individuelle Glaubensfreiheit - die Freiheit, seiner Überzeugung gemäß leben zu können -, die kollektive Glaubensfreiheit - die Freiheit, seine Religion als Glaubensgemeinschaft gemeinsam ausüben und öffentlich leben zu können -, aber auch die negative Glaubensfreiheit - nicht glauben zu müssen, was die Mehrheit in einem Land glaubt. Da hapert es in Ihrem Antrag.
Das ist ganz entscheidend mit Blick auf die Verfolgung von Christen in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften; denn dort geht es genau darum, dass diese Christen nicht dem Islam gemäß leben müssen, nur weil sie in einer mehrheitlich islamischen Gesellschaft leben. Wenn wir diese negative Glaubensfreiheit schon in unserer Debatte unterbelichten, müssen wir uns nicht wundern, wenn sie auch in anderen Ländern unterbetont wird.
Meine Damen und Herren, ich will auf die Türkei zu sprechen kommen. Wir führen ja Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die Türkei respektiert nach dem Lausanner Vertrag nur zwei christliche Glaubensgemeinschaften, nämlich die griechisch-orthodoxe und die armenisch-apostolische Kirche, und die jüdische Glaubensgemeinschaft. Die Protestanten und Katholiken werden dort offiziell nicht anerkannt. Die Ausbildung von Pfarrern ist nicht möglich. Die Einreise von Pfarrern aus dem Ausland wird erschwert, auch von Pfarrern der orthodoxen Kirche. Das dürfen wir der Türkei als einem befreundeten Land nicht durchgehen lassen.
Wir müssen deutlich machen: Wir fordern gleiche Rechte für die Christen in der Türkei.
Aber wir fordern selbstverständlich auch gleiche Rechte für die Aleviten; sie sind keine Christen. Sie bilden die größte religiöse Gruppe neben dem sunnitischen Islam in der Türkei.
Wir verlangen von der Türkei auch, dass die Cem-Häuser mit den Moscheen gleichgestellt werden und die Zwangsassimilierung an den sunnitischen Islam von alevitischen Kindern in der Schule aufhört, wie das auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von Ankara gefordert hat.
In vielen muslimischen Ländern, zum Beispiel im Iran oder auch in Ägypten, sehen wir, dass die Hauptlast der Verfolgung nicht die christlichen Religionen und Kirchengemeinschaften trifft, sondern die Bahai; denn aus Sicht des Islam darf nach Mohammed kein neuer Prophet, kein Glaubensgründer auftreten. Mit den klassischen Buchreligionen, dem Judentum und dem Christentum, kommt der Islam schon im Koran zurecht, weil sie als Vorläufer des Islam gelten. Aber die Bahai, die mit Bab und Bahaullah einen Glaubensgründer aus dem 19. Jahrhundert haben, werden massiv verfolgt. Wir waren auf Anregung der CDU/CSU-Fraktion - Frau Granold sitzt da - in Ägypten und haben uns auf die Suche nach den verfolgten koptischen Christen gemacht. Was wir gefunden haben, waren in der Tat diskriminierte koptische Christen, aber auch massiv verfolgte Bahai, Oppositionelle, Blogger und Journalisten. Wir dürfen nicht immer nur bei den Christen laut aufschreien und bei den anderen wegschauen.
Ein Bahai in Ägypten hat keinen zivilen Status. Er kann keine Urkunden vorweisen und hat kein Bankkonto, er kann keine Verträge abschließen, seine Kinder nicht zur Schule schicken und keine Sozialversicherung abschließen. Das ist eine Vernichtung der sozialen individuellen Existenz aus Glaubensgründen, und dagegen müssen wir massiv aufstehen.
In Ihrem Antrag steht etwas zu Ägypten, aber nur zu den koptischen Christen.
Ich werbe wirklich darum, dass wir hier den Fokus neu ausrichten, dass wir die Verfolgung der Christen in aller Welt im Rahmen der religiösen Verfolgung insgesamt thematisieren. Dann sind wir glaubwürdig. Und wenn wir glaubwürdig sind, können wir mehr für die verfolgten Glaubensbrüder und -schwestern erreichen, als wenn wir uns, innenpolitisch motiviert, allein auf die Christenverfolgung kaprizieren.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun die Kollegin Erika Steinbach für die CDU/CSU-Fraktion.
Erika Steinbach (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte und liebe Gäste auf der Tribüne aus vielen Ländern, in denen Menschen religiös verfolgt werden! Herr Kollege Beck, es wäre gut, wenn Sie ihre Scheuklappen ablegen und unseren Antrag richtig durchlesen würden.
Wir sind für die vollständige Religionsfreiheit.
Das kann uns aber nicht an der klaren Erkenntnis hindern, dass Christen die weltweit am intensivsten verfolgte religiöse Gemeinschaft sind.
Meine Vorredner haben sich überwiegend mit der Religionsfreiheit in Deutschland beschäftigt, die hier Not leide. Dazu sage ich deutlich: In Deutschland gibt es Religionsfreiheit. Jeder kann hier seinen Glauben frei leben. Der Staat schützt die Religionsfreiheit. Wenn es Übergriffe in der einen oder anderen Form gibt, dann ist das strafbar. Die Menschen werden bestraft, wenn sie einem anderen etwas zuleide tun. Das ist bei uns nicht gestattet.
Wer sich beim Thema Religionsfreiheit primär mit unseren deutschen Verhältnissen beschäftigt, der will bewusst ausblenden, was sich um uns herum weltweit tut.
In genau einer Woche feiern wir den Heiligen Abend. Viele Hundert Millionen Christen in aller Welt wollen ihn auch feiern. Aber wir müssen eines erkennen: Nicht alle Christen haben die Möglichkeit, das Weihnachtsfest in Ruhe und auch in Frieden zu begehen. ?Weihnachten ist die Botschaft von Hoffnung und Frieden. Beides haben wir verloren?, sagte der irakische Christ Abdullah al-Naufali aus Bagdad. Er hat diese Befürchtung nicht ohne Grund, wie er sagte: ?Die meisten Gläubigen bei uns im Irak werden sich nicht in die Weihnachtsmetten wagen.?
Über 100 Millionen Christen weltweit sind wegen ihres Glaubens von Misshandlung, Tod, Gefängnis oder massiver Diskriminierung bedroht. Wenn man sagt: ?In Ägypten gibt es ja nur Diskriminierung von Christen?, dann halte ich das für ein Kleinreden von Problemen. Wenn wir Menschen in Deutschland so diskriminieren würden, möchte ich den einen oder anderen meiner Vorredner dazu hören. Dann wäre einiges los im Lande.
Keine andere Religionsgemeinschaft wird intensiver verfolgt. Das zeigen die dramatischen Vorfälle in den letzten Monaten und Jahren, die wir im Menschenrechtsausschuss behandelt haben.
Ich spreche keiner Kollegin und keinem Kollegen der anderen Fraktionen ab, dass es auch ihnen am Herzen liegt, diese Dinge nicht einfach hinzunehmen. Wir haben den Tod der 50 irakischen Christen in Erinnerung. Sie waren Geiseln islamischer Fundamentalisten in einer syrisch-orthodoxen Kirche. Ein irakischer Bischof sagte heute beim Frühstück: ?Wer nicht weiß, was die Hölle ist, der soll zu uns in den Irak kommen. Bei uns ist die Hölle.? Der Bischof ist anwesend; er sitzt auf der Tribüne.
Das müssen wir registrieren. Aus unserer Warte, aus einem sicheren Hort kann man manches beiseite wischen und darüber hinwegsehen.
Die Zahl der im Irak lebenden Christen betrug vor 20 Jahren noch 1,4 Millionen. Im Jahr 2003 waren es noch 800 000. Heute sind es weniger als 200 000 Menschen christlichen Glaubens, die es noch wagen, im Irak zu leben.
Im indischen Bundesstaat Orissa wurden zwischen 2007 und 2009 rund 50 000 Christen vertrieben oder ermordet. Auch in der jüngsten Zeit gab es wiederholt Übergriffe gegenüber Christen.
Auch nach Pakistan schauen wir mit Besorgnis. Die Christin Asia Bibi - der Kollege Singhammer hat schon darauf hingewiesen - soll wegen Blasphemie gehängt werden, weil sie Mohammed mit Jesus verglichen hat. Noch steht die Vollstreckung zwar aus; aber die pakistanische Regierung steht durch islamische Kräfte unter enormem Druck, dieses Urteil tatsächlich zu vollstrecken.
Auch in Eritrea - dieses Land wurde bereits genannt - beobachten wir eine Verschärfung der Situation für die Christen. Es gibt Informationen darüber, dass rund 2 200 Christen aufgrund ihres Glaubens inzwischen landesweit unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen ohne offizielle Anklage oder ohne Gerichtsverfahren eingesperrt worden sind.
Das Ausmaß von Diskriminierung, von Unterdrückung und Bedrohung nimmt insbesondere - das können wir alle erkennen, machen wir uns doch nichts vor - in muslimischen Ländern seit Jahren beständig zu.
Selbst in der Türkei, die ihren Blick bekanntermaßen nach Europa gerichtet hat - ein Land, dem wir freundschaftlich verbunden sind -, leben Christen nicht ungefährdet. Der Bau von Kirchen ist nahezu unmöglich. Christliche Geistliche schweben in Lebensgefahr, wenn sie durch ihre Kleidung als solche erkennbar sind. Predigten dürfen nur an bestimmten Tagen abgehalten werden. Selbst in den türkischen Städten, die angeblich die westliche Lebensart verkörpern, wie beispielsweise Istanbul oder Ankara, ist die Situation nicht unbekümmert, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Denn auch in diesen Städten wird einem als Christin geraten, kein Kreuz am Hals zu tragen, weil das sonst für Leib und Leben gefährlich sein könnte. Wer glaubt, Ankara sei wie Paris, wie es irgendjemand einmal sagte, der täuscht sich, und der täuscht andere. Während vor 60 Jahren der Anteil der Christen in der Türkei noch etwa 20 Prozent betrug, so sind es heute nur noch 0,15 Prozent.
Neben der prekären Situation der Christen - das ist uns bewusst, so steht es auch in unserem Antrag - gibt es zahlreiche weitere religiöse Gemeinschaften, die ebenfalls verfolgt werden. Das gilt besonders für die Situation der Bahai im Iran. Ich freue mich, dass Professor Hofmann, der Sprecher der Bahai-Gemeinde in Deutschland, heute unter unseren Gästen ist. Herzlich willkommen! - Die Bahai sind im Iran einem unglaublichen Verfolgungsdruck ausgesetzt, ebenso ist es in Ägypten.
Wenn wir uns umschauen, sehen wir: Religionsfreiheit ist weltweit für Christen und viele andere Religionen nicht vorhanden, obwohl sie ein elementares Menschenrecht ist, obwohl sich eine Vielzahl von Staaten zu ihr bekannt haben. Seit Jahren stellen wir besorgt fest, dass Religionsfreiheit zwar auf dem Papier existiert, im praktischen Leben aber keinerlei Gültigkeit hat. In vielen muslimischen Ländern wird sie zugesichert, aber nur im Rahmen der Scharia. Religionsfreiheit im Rahmen der Scharia ist ein K.-o.-Kriterium; das ist keine Religionsfreiheit.
In mindestens 64 Ländern der Erde, in denen fast 70 Prozent der Weltbevölkerung leben, ist die Religionsfreiheit tatsächlich eingeschränkt. Ich glaube, wir brauchen nicht nur bei uns in Deutschland, sondern weltweit ein friedliches Miteinander der Religionen. Für mich ist das schönste Beispiel hierfür Lessings Ringparabel aus Nathan dem Weisen, die auf eine wunderbare Art und Weise die Gleichwertigkeit und den Respekt der Religionen voreinander beschreibt.
Die heutige Debatte im Deutschen Bundestag kurz vor der Weihnachtszeit ist auch ein Zeichen der Solidarität mit den Menschen, die wegen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt und unterdrückt werden und um ihr Leben bangen. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion stehen an der Seite aller Menschen, die um ihres Glaubens willen verfolgt werden. Wir sehen aber in dieser Adventszeit mit Sorge die Situation der Christen, die dieses Fest der Liebe begehen möchten. Ich grüße von hier aus alle Christen, die auf ein friedvolles Weihnachtsfest hoffen, von ganzem Herzen. Ich wünsche ihnen und allen Menschen ein friedvolles Weihnachtsfest.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Nietan für die SPD-Fraktion.
Dietmar Nietan (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Religion ist keineswegs Privatsache; aber für jeden gläubigen Menschen ist sein Glaube etwas ganz Persönliches, etwas, das sein Sein in der Welt zutiefst prägt, ein konstitutives Element seiner Persönlichkeit. Deshalb ist Religionsfreiheit für mich nicht irgendein Menschenrecht; Religionsfreiheit ist in jeder Hinsicht ein grundlegendes Menschenrecht.
Religionsfreiheit ist wie alle Menschenrechte ein universelles Menschenrecht. Wer Menschenrechtsverletzungen im Bereich der Religionsfreiheit nach Glaubensrichtung, Anzahl der Betroffenen, handelnden Staaten oder politischen Systemen unterschiedlich wertet, ist aus meiner Sicht auf dem besten Weg, die Axt an den universellen Charakter dieses Menschenrechts anzulegen.
Wer ein besonderes Augenmerk auf Menschenrechtsverletzungen gegenüber Angehörigen einer bestimmten Religion legt, schwächt sein eigenes Anliegen, obwohl es ein sehr ehrenwertes Anliegen ist. Jeder Mensch, dessen Würde mit Füßen getreten wird, muss uns gleich wichtig sein. Er hat unsere Solidarität genauso verdient, wenn er wegen eines Glaubens verfolgt wird, den wir möglicherweise ganz und gar nicht teilen.
Warum betone ich diese Art von Solidarität? Ich betone das, weil ich glaube, dass wir nur mit dieser Art von Solidarität gerade auch mit Andersdenkenden all denjenigen in der Welt entgegentreten können, die unseren Einsatz für die Durchsetzung der Menschenrechte gerne als Herrschaftsinstrument des Westens diskreditieren wollen, um sich so aus der Verantwortung zu stehlen.
Als Christ fühle ich mich meinen verfolgten Mitschwestern und Mitbrüdern in besonderer Weise verbunden. Trotzdem halte ich es für falsch, ein besonderes Augenmerk auf die Lage der christlichen Minderheiten zu legen, wie es der Koalitionsantrag tut. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich habe die Einbringung dieses Antrages ausdrücklich für gut geheißen, weil ich es wichtig finde, dass wir hier über dieses Thema diskutieren. Ich unterstütze ausdrücklich den Ansatz der Bundesregierung, sich intensiv für die Menschenrechte und damit auch für die Religionsfreiheit einzusetzen.
Ich finde aber, dass wir gerade auch den verfolgten Christinnen und Christen am besten helfen, wenn wir jeder Menschenrechtsverletzung gegenüber jeder religiösen Minderheit die gleiche Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen.
Das macht uns nämlich am Ende glaubwürdiger. Für mich ist Glaubwürdigkeit eine der wichtigsten Waffen im Kampf für die Menschenrechte.
Zur Glaubwürdigkeit gehört für mich allerdings auch, dass wir den deutlichen Gefährdungen der Religionsfreiheit im eigenen Land klare Worte entgegenstellen. Damit ich auch da richtig verstanden werde: Natürlich weiß ich, dass wir hier über Gefährdungen der Religionsfreiheit reden, nicht von massiven Verfolgungen oder Diskriminierungen, wie sie in anderen Ländern auftreten. Ich glaube aber, niemand von uns will hier ernsthaft behaupten, dass wir im Bundestag erst dann darüber reden sollten, wenn es mit der Religionsfeindlichkeit in Deutschland so weit gekommen ist, dass Straftatbestände auftreten. Vielmehr müssen wir jetzt darüber reden.
Ich will es diplomatisch formulieren: Der Antrag der Koalitionsfraktionen wäre noch besser gewesen, wenn es dort klare Worte zur wachsenden Islamophobie in unserem Land gegeben hätte.
Ich habe mich sehr gefreut, dass der Evangelische Arbeitskreis der CDU/CSU unter der Führung meines geschätzten Kollegen Thomas Rachel sehr großen Wert darauf gelegt hat, dass durch entsprechende Klarstellungen in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz dafür gesorgt wird, dass die sogenannte Qualifikationsrichtlinie in der deutschen Asylpraxis endlich überall in vollem Umfang angewandt wird. Ich hätte mich gefreut, wenn die Koalition diese Forderung in ihren Antrag aufgenommen hätte; denn es dient unserer Glaubwürdigkeit, wenn wir deutlich machen, dass wir allen Menschen, die aus religiösen Gründen verfolgt werden - egal, welcher Religion sie angehören und was der Verfolgungsgrund ist -, Asyl gewähren.
Eine entsprechende Klarstellung hätte Ihrem Antrag mehr Glaubwürdigkeit verliehen.
Ich möchte dem verehrten, von mir wirklich geschätzten Kollegen Raju Sharma sagen: Religionsfreiheit ist in der Tat nur in einem säkularen Staat möglich. Aber - das betone ich für mich - ein säkularer Staat ist etwas anderes als ein laizistischer Staat. Ich sage hier an dieser Stelle sehr deutlich, dass ich bei manchen Diskussionszusammenhängen in unserem Land, die laizistisch geprägt sind, eine gewisse Melodie erkenne, die mich an Religionsfeindlichkeit erinnert. Wenn das mit Laizismus gemeint ist, dann kann ich persönlich das nicht unterstützen. Es kann nicht sein, dass Äußerungen und Symbole zur Religion grundsätzlich aus dem öffentlichen Raum verbannt werden. Denn sie gehören zu unserer Kultur und zu unserem Land. Diese Art von Laizismus möchte ich bei uns in Deutschland nicht haben.
In diesem Zusammenhang empfehle ich sehr die Lektüre von Professor Habermas, der ja nicht in Verdacht steht, ein christlicher Fundamentalist zu sein.
Professor Habermas hat ausdrücklich betont, dass religiös begründete Stellungnahmen einen wichtigen und legitimen Platz in der öffentlichen politischen Diskussion haben müssen. Habermas begründet das insbesondere damit, dass er sagt: Die praktische Vernunft - und er sieht sich als einen Vertreter der nachreligiösen praktischen Vernunft - braucht geradezu einen neuen Dialog mit der Religion, mit dem Religiösen, um nicht an ihren eigenen guten Gründen angesichts entgleisender Modernisierung zu verzweifeln.
Deshalb sage ich: Ein offener Dialog zwischen praktischer Vernunft und Religion ist für beide wichtig. Wir sollten denjenigen entgegentreten, die meinen, dass Religion etwas Althergebrachtes ist, das nicht mehr in unsere Zeit gehört. Das ist für mich auch ein Anfang von Religionsfeindlichkeit, den wir verhindern sollten.
Ich möchte zum Schluss an eine großartige Rede erinnern, die unser damaliger Bundespräsident Johannes Rau im Jahre 2004 zum Festakt des 275. Geburtstags von Gotthold Ephraim Lessing gehalten hat. Ich möchte zwei Zitate nennen, die, glaube ich, auf den Punkt bringen, worum es in unserer Debatte gehen sollte. Ich wünsche mir sehr, dass wir dieses Thema beim nächsten Mal in einer Art und Weise diskutieren, dass wir am Ende zu einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen kommen. Denn das ist dem Thema eigentlich angemessen.
Johannes Rau hat gesagt:
Es geht um die Frage: Wie können Menschen miteinander leben, die ganz unterschiedliche Dinge für wahr und für richtig halten und auch manches tun, was die jeweils anderen unbegreiflich finden?
Und er hat in seiner Rede gesagt:
Toleranz ist nicht Beliebigkeit. Toleranz und Respekt bedeuten ja gerade, dass man die Existenzberechtigung anderer Überzeugungen und Glaubenswahrheiten akzeptiert, die man nicht für richtig hält.
Wenn wir uns dem Thema in diesem Geist widmen und deutlich machen, dass es um die Verfolgung aller Religionen geht, und wir in dieser Frage keine benachteiligen oder bevorzugen, dann tun wir allen Verfolgten, auch den christlichen Mitbrüdern und Mitschwestern, den größten Gefallen. In diesem Sinne sollten wir für die Zukunft lernen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion.
Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Friedenslicht aus Bethlehem ist heute Morgen im Deutschen Bundestag in einer, wie ich finde, sehr schönen Andacht im Andachtsraum angekommen. Es leuchtet für alle Christen: für die, die in diesem Land leben, und für die, die weltweit bedrängt sind. Dieses Licht leuchtet für die Christen, die ihre Religion nicht frei ausüben können.
In diesem Zusammenhang muss ich mich mit dem einen oder anderen Vorredner einmal auseinandersetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken und zum Teil auch von SPD und Grünen, ich verstehe Ihre Abgrenzungsenergie nicht. Wir reden heute über bedrängte Christen in aller Welt.
Damit soll nicht die religiöse Verfolgung anderer geringer eingeschätzt oder geleugnet werden. Es ist doch vielmehr ein sinnvolles Zeichen, wenn ein Land, in dem viele Christen leben,
aktiv an die Solidarität mit bedrängten Christen in aller Welt appelliert.
Sie geben jeden Tag neue Solidaritätsbekundungen für einzelne Gruppen ab, und zumeist sind sie berechtigt.
Dann lassen Sie uns heute ein Signal setzen, dass wir gegen die religiöse Verfolgung von Christen in aller Welt sind!
?Die Religion kennt keinen Zwang?, so steht es in dem bemerkenswerten Vers 256 der zweiten Sure des Koran. Deswegen ermutige ich alle Moslems in diesem Land, aber auch andernorts, ihre Haltung gegenüber bedrängten Christen in aller Welt zu überprüfen und ein festes Zeichen für die Religionsfreiheit, die sie in diesem Land erfahren, nach außen zu tragen.
Die religionspolitischen Sprecher in diesem Haus, Herr Sharma, Herr Ehrmann und allen anderen, fordern dazu gemeinsam auf. Wir sagen: Die bedrängten Christen in der Türkei, insbesondere in Mor Gabriel, verlangen unsere Solidarität. Deswegen sprechen wir mit dem türkischen Botschafter und bitten ihn, dafür zu sorgen, dass sie ihre Religion frei leben können.
Ein weltanschaulich neutraler Staat, ein liberaler Rechtsstaat wie Deutschland lebt von Voraussetzungen, die er allein nicht garantieren kann. Eine Kraft, die die Festigkeit und die Integrationskraft dieses Staates jeden Tag neu gewährleistet, sind die Christen und Christinnen in aller Welt wie auch die Angehörigen aller anderen Religionsgemeinschaften. Sie tragen zum Gelingen des Gemeinwesens bei, wenn sie ihre Religion leben können.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Strässer?
Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Ja.
Christoph Strässer (SPD):
Herzlichen Dank, Herr Kollege. Ich möchte es kurz machen und an Ihre intellektuelle Redlichkeit appellieren.
Wenn Sie sich umdrehen, können Sie auf der Tafel lesen: Tagesordnungspunkt 36, Religions- und Glaubensfreiheit. Sie versuchen, uns die ganze Zeit einzureden, dass mit Religions- und Glaubensfreiheit ausschließlich die Christenverfolgung gemeint ist. Sie haben gerade gesagt: Wir reden heute über Christenverfolgung.
Ich frage Sie ganz ernsthaft - ich formuliere das ganz deutlich und klar -: Sind Sie der Meinung, dass Religions- und Glaubensfreiheit mehr ist als die Auseinandersetzung mit weltweit verfolgten Christen, die alle hier zum Thema gemacht haben?
Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Ich habe versucht, darzulegen, dass es keinen Gegensatz gibt zwischen der Thematisierung der Verfolgung von Christen in aller Welt, was uns ein Anliegen ist - das Christentum ist die Grundlage unserer wertegeleiteten Außenpolitik -, und dem Bekenntnis zur Religionsfreiheit. Es muss gestattet sein, einmal ausdrücklich und explizit auf die verfolgten Christen in aller Welt hinzuweisen.
Das beinhaltet aber keinen Ausschluss der Religionsfreiheit anderer.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, darf ich Sie noch einmal unterbrechen? Die Kollegin Pfeiffer möchte eine Zwischenfrage stellen.
Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Ja.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, bitte.
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU):
Herr Kollege Ruppert, wir sind uns alle einig, dass es um die Religionsfreiheit im Allgemeinen geht. Aber wer soll sich um die Christen in aller Welt kümmern, wenn sich die Christen nicht selbst kümmern? Außer den Christen wird es niemanden geben, der sich um die Christen kümmert. Also frage ich: Worüber reden wir eigentlich?
Wir Christen müssen uns um Christen kümmern. Niemand anders wird sich um sie kümmern. Deshalb glaube ich, dass wir hier eine Scheindiskussion führen.
Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Frau Kollegin, darin sind wir uns einig. Ich habe schon gesagt, dass wir keinen ausschließen wollen, sondern aktiv darauf hinweisen wollen, dass Christen in aller Welt verfolgt werden, dass die meisten, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden, Christen sind. Das muss einmal gesagt werden.
Die Bertelsmann-Stiftung hat über ihren bemerkenswerten Religionsmonitor festgestellt, dass sich Menschen, die an etwas glauben, sehr stark in das Gemeinwesen einbringen. Christen, Moslems und Angehörige aller anderen Glaubensgemeinschaften engagieren sich ehrenamtlich und bringen sich in das Gemeinwesen ein. Von dieser religiösen Vielfalt, von der Entfaltung religiöser Kräfte und religiösen Lebens kann jede Gesellschaft weltweit profitieren. Deswegen kämpfen wir für die Religionsfreiheit. Deshalb werden wir auch nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die wertegeleitete Außenpolitik unseres Außenministers dieses Anliegen immer verfolgen wird.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Jetzt bitte ich Sie um Ihre Aufmerksamkeit für die letzte Rednerin in dieser Debatte. Das Wort hat die Kollegin Ute Granold für die CDU/CSU-Fraktion.
Ute Granold (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Vertreter der christlichen Kirchen aus dem Irak, aus Pakistan und Vertreter der Bahai! Ich freue mich, dass auch die Prälate der Katholischen und der Evangelischen Kirche Deutschlands heute zugegen sind. Das Thema findet hier im Parlament eine große Aufmerksamkeit. Ich freue mich, dass wir über Anträge der Koalition, aber auch der Opposition zum Thema Religionsfreiheit - Religionsfreiheit weltweit schützen, Religionsfreiheit stärken, Religionsfreiheit als politische Herausforderung - debattieren. Wir haben festgestellt, dass es in großen Teilen Übereinstimmung gibt, wenn auch der eine oder andere die Religionsfreiheit in Deutschland, in Europa nicht gewährleistet sieht und den Fokus auf diesen Bereich richtet.
Ich kann nicht verstehen, warum zum Beispiel eine Diskussion über das Minarettverbot in der Schweiz geführt wird, aber mit keinem Wort gesagt wird, dass in Saudi-Arabien und in der Türkei keine Kirchen gebaut werden dürfen. Das ist der Grund, warum in Deutschland Vorbehalte bestehen. Viele Menschen fragen: Wieso können hier Moscheen gebaut werden, während in der Türkei, in Saudi-Arabien keine Kirche gebaut werden kann?
Wir wollen, dass Religionsfreiheit eine Freiheit für alle Menschen, für alle Glaubensgemeinschaften ist. Das ist aber keine Einbahnstraße. Ich stehe hier als Mitglied der Christlich Demokratischen Union; ich stehe hier auch als Christin, als Katholikin. Es ist eine Tatsache, dass die Christen mit über 2 Milliarden Mitgliedern die größte Religionsgemeinschaft der Welt sind; die Katholiken stellen 1 Milliarde davon. Ich meine, dass ich das Recht, aber auch die Verpflichtung habe, meinen Fokus auf die verfolgten Christen in der Welt zu richten.
Die Christen sind die Religionsgemeinschaft, die am stärksten verfolgt, diskriminiert und mit dem Tod bedroht wird. Wenn wir uns um verfolgte Christen kümmern, dann kümmern wir uns zeitgleich auch um andere religiöse Minderheiten in vorwiegend islamisch geprägten Ländern.
Lassen Sie mich dazu ein Beispiel nennen. Ich war zusammen mit dem Kollegen Kober von der FDP und mit Dr. Oehring von missio - er ist heute auch anwesend - in Indien. Wir waren in Gujarat, in Westindien. Dort wurden 2 000 Muslime umgebracht. Wir haben uns um dieses Thema gekümmert. Wir haben in einer großen Pressekonferenz, bei der Vertreter aller Religionsgemeinschaften zugegen waren - die Hindus, die Mohammedaner, die Christen -, den Finger in die Wunde gelegt. Es gab eine lange Diskussion. Der Innenminister des Bundesstaates Gujarat befindet sich mittlerweile wegen der Hinrichtung der Muslime in Haft. Wir haben uns um die Belange der Muslime und damit auch aller anderen Minderheiten in Westindien gekümmert.
Wir waren auch in Ostindien. In Orissa - das wurde angesprochen - fand ein schlimmes Massaker an Christen statt. 300 Kirchen wurden zerstört. Die Menschen sind auf der Flucht. Wir haben mit den Menschen gesprochen. Dort pflegen indische Schwestern in einem Heim behinderte Kinder von Eltern, die nachweislich am Massaker an den Christen beteiligt waren. Das ist christliche Barmherzigkeit. In Westindien - auch das möchte ich betonen - werden von Schwestern des Ordens der Mutter Teresa Kinder und Babys, die auf der Straße gefunden werden, aufgepäppelt, betreut und versorgt, bis sie sechs Jahre alt sind. Sie dürfen nur von Hindus adoptiert werden. Die Schwestern werden kontrolliert, damit sie den Kindern nicht ein Kreuzzeichen oder den christlichen Glauben beibringen. Die Schwestern machen das auch nicht. Menschen, die sich auf die Straße legen, um zu sterben, werden von den christlichen Schwestern aufgenommen und aufgepäppelt. Das ist christliche Barmherzigkeit. Wir tun dies für alle Menschen, unabhängig von ihrem Glauben.
Deshalb meine ich, dass es berechtigt ist, hier auch ein Wort zu den Christen zu sagen.
Die Union beschäftigt sich seit langer Zeit, bereits in der letzten Wahlperiode, aber auch in dieser, mit diesem Thema. Es ist ein zentrales Thema im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Wir sind froh, hier heute gemeinsam darüber debattieren zu können.
Ich war dieser Tage zusammen mit Kollegen anderer Fraktionen im Irak und in Ägypten. Wir schauen uns die Situation der Menschen an, der Kopten in Ägypten, aber natürlich auch der Bahai, die ein vogelfreies Leben führen - eine schlimme Situation in Ägypten und im Iran. Wir meinen schon, dass die Kollegen, die sich mit diesem Thema befassen, die in die Länder gehen, in denen die Menschen bedrängt sind, an die Basis gehen. Wir sprechen mit diesen Menschen und versuchen, zu helfen; teilweise kann man auch helfen. Ich denke, das ist der richtige Weg. Es sollten nicht nur Worte sein, sondern es sollten auch Taten folgen. Es darf nicht zu Ende sein mit der Debatte, die wir heute in diesem Haus führen,
sondern wir müssen schauen, dass wir den Menschen helfen.
Ich möchte, weil Vertreter aus dem Irak heute hier sind und die Lage dort momentan sehr prekär ist, auch noch einige Worte dazu sagen. Wir haben gerade nach dem Attentat, nach dem Bombenanschlag auf die Kirche in Bagdad, eine verstärkte Welle von Gewalt im Irak festgestellt. Diese Gewalt richtet sich gegen Sunniten, Schiiten, aber einmal mehr gegen die Christen, weil al-Qaida gesagt hat: Die Christen werden wir jetzt aus dem Irak vertreiben. - Deshalb müssen wir auch hier unser Augenmerk auf die Christen richten.
Wir haben vor allem mit den Vertretern der Kirchen, aber auch mit dem Ministerpräsidenten, dem Staatspräsidenten und dem Parlamentspräsidenten im Irak darüber gesprochen, was wir für unsere Glaubensbrüder und -schwestern in Mesopotamien, Babylon oder anderswo im Irak tun können. Das ist die Wiege unseres Glaubens. Wenn nicht wir, wer sonst soll sich um diese Menschen kümmern?
Es bestand die einhellige Meinung, dass wir dem Exodus der Christen aus dem Irak begegnen müssen - demnächst gibt es ein weiteres Land; ich erinnere an die Türkei -, indem wir versuchen, den Menschen vor Ort zu helfen, indem wir die neue Regierung des Irak, die nun einmal da ist, stabilisieren, indem wir nachhalten, ob die Zusage der Gewährung von Sicherheit auch eingehalten wird; denn mit der Sicherheit geht ein Stück weit Frieden und Hoffnung einher. Frieden und Hoffnung, das ist die Botschaft zu Weihnachten.
Wer die Neujahrsansprache des Papstes gelesen hat - sie kam dieser Tage -, der weiß: Ein zentrales Thema der Botschaft des Papstes - immerhin vertritt er 2 Milliarden Menschen - ist die Religionsfreiheit. Ich meine, dass es nicht nur ein Thema der Politik ist, sich weltweit um die Religionsfreiheit zu kümmern; es ist auch Aufgabe der Vertreter aller Glaubensrichtungen. Nur gemeinsam sind wir in der Lage, zu einer Befriedung beizutragen und die Religionsfreiheit auch zu leben: dass jeder nach seinem Glauben leben kann, indem er das Zeichen seines Glaubens, zum Beispiel ein Kreuz, trägt, ohne größere Probleme zu bekommen, aber auch kollektiv, indem es ihm möglich ist, in ein Gotteshaus zu gehen und zu beten.
Mein Anliegen heute ist speziell auf den Irak gerichtet, darauf, dafür zu sorgen, dass die Menschen dort eine Perspektive haben und Hoffnung schöpfen können. Wir müssen zusammen mit der Bundesregierung, mit dem Außenminister und der Kanzlerin, die das Thema Menschenrechte und als zentralen Punkt gerade die Religionsfreiheit weltweit ansprechen, dafür sorgen, dass das nicht nur Lippenbekenntnisse sind, sondern wir auch Taten folgen lassen, dass wir unsere deutschen Botschaften vor Ort unterstützen, dass wir die Situation der Religionsfreiheit in den einzelnen Ländern abfragen, dass wir als Parlament darüber debattieren und dort, wo Defizite sind, auch Änderungen einfordern. Deutschland hat - das wurde bei unseren Reisen nach Ägypten und in den Irak deutlich - ein hohes Ansehen in der Welt. Ich meine schon, dass wir mit diesem Pfund wuchern und als Deutsche den Finger in die Wunde legen können, wenn die Religionsfreiheit nicht gewährleistet ist, dies insbesondere, wenn es die am schlimmsten Verfolgten betrifft, unsere Glaubensbrüder und -schwestern im Irak und in der Türkei.
Ein letztes Wort noch zur Türkei - ich habe noch ein wenig Redezeit -: Die Türkei ist mir ebenfalls ein wichtiges Anliegen. Wir haben auch dort mit vielen Vertretern gesprochen; Monsieur Yakan aus der Türkei ist hier anwesend. Wir haben einen ersten Schritt gesehen, als vor einigen Monaten eine Immobilie, ein Waisenhaus, zurückgegeben wurde. Wir möchten weitere Taten sehen. Wir möchten, dass das Kloster Mor Gabriel wieder frei ist, dass die Prozesse ein Ende haben.
Wir möchten, dass das Priesterseminar Chalki wiedereröffnet wird. Das wären positive Zeichen.
Im EU-Fortschrittsbericht zur Türkei kann man lesen, dass in puncto Menschenrechte und insbesondere Religionsfreiheit noch akuter Nachholbedarf besteht. Wir werden, wie wir es im Irak tun, auch in der Türkei die Religionsfreiheit einfordern, individuell wie kollektiv; wir haben viele Verbindungen von der Türkei nach Deutschland. Es gibt in Deutschland Religionsfreiheit für die Muslime. Wir erwarten dies aber bitte schön auch in der Türkei für die Christen, die dort in der Minderheit leben und ein schwieriges Leben führen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Es geht um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP mit dem Titel ?Religionsfreiheit weltweit schützen?. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4122, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/2334 anzunehmen.
Es liegt dazu ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4227 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, dagegen haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, und enthalten haben sich die Fraktionen SPD und Die Linke.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den Buchstaben a der Beschlussempfehlung, die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP. Über diesen Buchstaben a der Beschlussempfehlung stimmen wir namentlich ab.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze an den Urnen einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Urnen wie vorgesehen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Sind noch Kolleginnen oder Kollegen im Saal, die ihre Stimme bei dieser ersten namentlichen Abstimmung nicht abgegeben haben? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.
Ich bitte Sie nun um Aufmerksamkeit für die Erklärungen zur nächsten Abstimmung. - Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3428 mit dem Titel ?Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfreiheit als politische Herausforderung?. Auch über diesen Buchstaben b der Beschlussempfehlung stimmen wir namentlich ab. Es geht um die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ich frage alle Kolleginnen und Kollegen: Ist jemand im Haus, der seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Abstimmung geschlossen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Auch das Ergebnis dieser Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir haben nun noch eine Abstimmung durchzuführen. Damit ich einen Überblick habe, bitte ich Sie, Ihre Gespräche, soweit erforderlich, außerhalb des Plenarsaals zu führen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel ?Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfreiheit stärken?. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4121, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2424 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Missbrauch der Leiharbeit verhindern
- Drucksache 17/4189 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und darf um Aufmerksamkeit für die erste Rednerin bitten. Das Wort hat die Kollegin Andrea Nahles für die SPD-Fraktion.
Andrea Nahles (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Praxis der Leiharbeit in Deutschland ist verkommen. Vor zehn Jahren wurden Leiharbeiter noch zur Abdeckung von Auftragsspitzen eingestellt. Mittlerweile werden sie eingestellt, um sie auszunutzen und zu missbrauchen und um in den Betrieben Lohndumping zu betreiben und die Tarifverträge der Stammbelegschaften auszuhebeln. Deswegen muss der Missbrauch der Leiharbeit in Deutschland beendet werden. Das wird durch diese schwarz-gelbe Koalition leider verhindert.
Die Realität ist doch, dass Leiharbeiter bis zu 50 Prozent weniger verdienen als ihre Kollegen, obwohl sie die gleiche Arbeit machen. Die Realität ist doch, dass sie immer wieder um ihre Jobs bangen. Die Realität ist doch, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter kaum Aufstiegschancen haben, nicht qualifiziert werden und nach ihrem Einsatz in dem Betrieb, der sie gebraucht hat, im Übrigen kaum übernommen werden. Deswegen bedeutet Leiharbeit Entwürdigung der Arbeit. Würde ist bei der Arbeit aber notwendig, damit die Menschen weiter motiviert sind.
Wenn man sich den Gesetzentwurf dieser Regierung anguckt, dann stellt man fest: ?Würde? kennt Schwarz-Gelb nur als Konjunktiv; als Substantiv ist Ihnen dieser Begriff fremd. Das muss man einmal ganz klar festhalten. Das, was hier vorgelegt wird, ist ein kleiner Gesetzentwurf für ein großes Problem. Sie haben sich ein kleines Lex Schleckerchen ausgedacht. Was heißt das? Frau von der Leyen wachte auf, als Schlecker im Frühjahr dieses Jahres massenhaft Leute entlassen hat, um sie danach zu schlechteren Konditionen über Leiharbeit wieder einzustellen. Sie hat sich damals ?wahnsinnig? geärgert; das stand im März so im Spiegel. Noch besser war, dass sie dem Ganzen ?einen Riegel vorschieben? wolle. Am besten war folgende Aussage von Frau von der Leyen: ?Ich rechne da nicht in Monaten, sondern eher in Wochen.? März, April, Mai, Juni usw. - ich komme jetzt schon auf acht Monate, in denen nichts passiert ist, meine Damen und Herren von der Koalition. Rechenkünstlerin wird Frau von der Leyen mit Sicherheit nicht mehr.
Nun haben Sie, Frau Ministerin, in dieser Woche endlich etwas vorgelegt. Aber was liegt denn hier vor? Das ist doch ein Schlag ins Gesicht eines jeden, der an diesem Thema wirklich interessiert ist und eine Lösung für die Leiharbeit in Deutschland will.
Das ist doch eine Bagatellisierung der Leiharbeit. Die Situation wird im Grunde genommen noch bunter, wenn Sie sagen: Nur dann soll es gleichen Lohn für gleiche Arbeit geben, wenn der Arbeitgeber die Leute entlässt und innerhalb von sechs Monaten im Wege der Leiharbeit wieder einstellt. Man könnte auch sagen: Das, was wir in Deutschland bisher als Missbrauch bezeichnet haben, wird jetzt noch salonfähig gemacht. Das ist doch der Gegenstand Ihres Gesetzes.
Dazu kann ich nur sagen: Den Stempel ?rechtmäßig? werden wir Ihnen für die Leiharbeit nicht geben, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition.
Ich sage Ihnen: Es ist schon ziemlich verlogen, wenn die FDP, um den Mindestlohn in der Leiharbeit zu verhindern, nun funkt, sie sei für Equal Pay. Das hat mich persönlich überrascht, Herr Kolb.
Ich dachte: Mein Gott, späte Erkenntnis ist auch eine Erkenntnis. Aber auch hier ist es so, dass Sie von der FDP Equal Pay erst nach sechs Monaten wollen. Das bedeutet, dass nur ein Bruchteil der Leiharbeiter jemals in den Genuss von gleichem Lohn für gleiche Arbeit kommen wird. Die Hälfte der Leiharbeiter arbeitet im Durchschnitt nicht länger als drei Monate. Das, was die FDP vorschlägt, ist so wie freiwillig Schneeschippen anmelden, aber im Sommer. Mehr ist dieses Ganze nicht, was Sie da vorlegen.
Ich saß in der letzten Woche zusammen mit circa der Hälfte meiner Bundestagskollegen am Flughafen in der Lounge. Man wartete stundenlang, bis die Flüge gingen. Ich habe mich gefragt, wie vielen meiner Kollegen von der schwarz-gelben Koalition eigentlich die Aktion von Verdi aufgefallen ist, die in der letzten Woche am Flughafen stattfand. Da standen die Vertrauensleute mit Flugblättern und dem Slogan: Sicherheit beim Fliegen lässt sich nicht ausleihen. Das bezog sich auf die Firma GlobeGround, die der größte Dienstleister an den Berliner Flughäfen ist. Die machen alles vom Be- und Entladen der Flugzeuge bis hin zur Abfertigung der Passagiere. Diese will nun ihre 1 800 Beschäftigten durch Leiharbeiter ersetzen - bis zu einem Anteil von 30 Prozent, sagt die Verdi-Gruppe.
Wie läuft das dann? Der Teilzeitvertrag läuft aus, die Check-in-Agenten werden entlassen, werden dann als Kabinenreiniger bei einer Tochterfirma eingestellt und dann wiederum für weniger Geld an GlobeGround Berlin ausgeliehen.
Das ist ein ganz konkretes Beispiel dafür, wie das läuft. Michael Walter von Verdi sagt dazu: Die Leute wollen arbeiten, sind stolz auf den Job, den sie sich ausgesucht haben. Und was passiert? Sie müssen sich hin und her schieben lassen, müssen nehmen, was sie kriegen, und dabei noch das Maul halten.
Ich sage: Genau das ist das Problem. Wir entrechten die Leute, wir nutzen sie aus. Wir schauen bei Ausbeutung zu. Und diese Regierung ist nicht in der Lage, dem Ganzen einen Riegel vorzuschieben, wie Frau von der Leyen es angekündigt hatte.
Wenn ich sage, die Leiharbeit und die Praxis von Leiharbeit in diesem Land sind verkommen, muss ich feststellen, dass man dies mittlerweile für den gesamten Arbeitsmarkt sagen muss. Dieser ist nämlich auch verkommen, weil viele junge Menschen als Erstes die folgende Berufserfahrung machen: Leiharbeit, unbezahlte oder wenig bezahlte Praktika, sachgrundlose Befristungen. Jede zweite Neueinstellung ist befristet.
Das heißt für mich: Es geht nicht nur darum, meine Damen und Herren von der Koalition, jeden Monat die Arbeitsmarktstatistik abzufeiern; Hauptsache, die Zahlen gehen runter. Nein, es geht nicht um Zahlen, es geht um Menschen, die hinter den Zahlen stehen. Diese verdienen gute Arbeit, sie verdienen anständige Bezahlung. Sie brauchen auch eine Perspektive für das Leben. Das alles verbindet sich mit dem Thema Leiharbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Nun ist der Koalition aufgefallen - ich bin begeistert -, dass ab 1. Mai 2011 in Europa die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit herrschen wird. Jetzt ist es so, dass Frau von der Leyen wieder einmal etwas ankündigt, nämlich dass es Mindestlöhne braucht. Die Begründung lautet: Auch die Arbeitgeber merken mittlerweile - das ist ja das Interessante -, dass es zu einer Verschiebung im Wettbewerb kommen könnte, wenn kleine oder auch größere Unternehmen Lohndumping anbieten, was über die Freizügigkeit wahrscheinlich häufiger als heute der Fall sein wird.
Was haben Sie gemacht? Frau von der Leyen hat in Aussicht gestellt, dass es einen Mindestlohn geben soll. Jetzt will ich im Dezember nicht darüber reden, wann wir damit rechnen können; das ist ja schon sehr schwierig. Aber wissen Sie, was ich glaube, meine Damen und Herren von der Koalition? Sie hoffen auf die SPD.
Sie hoffen auf die SPD im Bundesrat. Wir werden bei den Verhandlungen, die jetzt anstehen, ganz gewiss das Thema Mindestlöhne zumindest für die Leiharbeitsbranche, aber auch einen flächendeckenden Mindestlohn insgesamt zum Verhandlungsgegenstand machen. Die heimliche Freude darüber, dass das vielleicht doch mithilfe der SPD gegen die FDP durchgesetzt werden könnte, kann man der Ministerin teilweise anmerken.
In diesem Sinne verspreche ich Ihnen auch: Wir werden Ihnen helfen, so gut wir können. Also machen Sie keinen Mist, sondern machen Sie den Weg frei für Mindestlöhne in Deutschland. Das ist hier notwendig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Koalition eiert zwischen Mindestlohn und Equal Pay herum. Wir legen hier einen Antrag vor, in dem es um gleiches Geld für gleiche Arbeit geht, weil nur das gerecht ist. Es geht um den Mindestlohn, um auch zwischen zwei Einsätzen eine angemessene Bezahlung zu sichern. Es geht um die Beschränkung von Leiharbeitseinsätzen auf ein Jahr, weil nach einem Jahr wirklich klar sein müsste, ob man den Menschen braucht und ihn einstellen muss oder nicht. Schließlich wollen wir, dass Leiharbeiter nicht mehr als Streikbrecher missbraucht werden. Deswegen müssen sie in die Mitbestimmung einbezogen werden, und die Mitbestimmung darf nicht ausgehebelt werden.
In diesem Sinne fordere ich Sie auf: Stimmen Sie diesem Antrag zu, machen Sie eine gerechte Politik für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland! Wenn Sie es nicht tun, wird es Ihnen noch böse auf die Füße fallen. Es ist nur schade, dass wir jetzt vor Weihnachten weiter auf Sie warten müssen. Eine vernünftige Equal-Pay-Regelung für alle Leiharbeiter wäre doch wirklich ein schönes Päckchen unterm Weihnachtsbaum. Geben Sie sich einen kleinen Schubser und stimmen Sie unserem Antrag zu.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das Ergebnis der beiden namentlichen Abstimmungen bekannt. Zunächst die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zum Antrag der Abgeordneten Volker Kauder, Ute Granold, weiterer Abgeordneter sowie der Fraktionen von CDU/CSU und FDP: abgegebene Stimmen 570, mit Ja haben gestimmt 374, mit Nein haben gestimmt 69, Enthaltungen 127. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Dann die zweite namentliche Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD: abgegebene Stimmen 565, mit Ja haben gestimmt 304, mit Nein haben gestimmt 195, Enthaltungen 66. Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen.
Dann rufe ich als nächsten Redner den Kollegen Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion auf.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Johannes Rau, einer der großen Männer der SPD,
hat den klugen Satz geprägt: Sage, was du tust, und tue, was du sagst. Nach der Rede von Frau Kollegin Nahles habe ich den Eindruck, dass die politischen Enkel von Johannes Rau diesen Satz sehr freihändig abgewandelt haben;
denn das neue Glaubensbekenntnis der Sozialdemokraten lautet: Sage nicht, was du getan hast, als du das Sagen hattest,
sondern sage, wenn du gerade nicht das Sagen hast, was du tätest, wenn du das Sagen hättest.
Alles, aber auch wirklich alles, was Frau Nahles gerade im Bereich der Leiharbeit in Deutschland beredt beklagt hat, hat eine einzige Ursache, nämlich die Änderung des sogenannten Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, AÜG, zur Zeit der rot-grünen Koalition. Rot und Grün tragen die Verantwortung für die Verlotterung der Sitten in der Leiharbeit.
Ich finde es unglaublich, dass die Sozialdemokraten, nachdem sozialdemokratische Arbeitsminister elf Jahre lang Verantwortung getragen haben, nach einem Jahr die neue Regierung unter CDU/CSU und FDP dafür verantwortlich machen, was in der Leiharbeit in Deutschland geschehen ist und geschieht, und die eigene Verantwortung locker wegschieben. Das lassen weder wir noch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland den Sozialdemokraten durchgehen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf?
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Bitte schön.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Schaaf, bitte.
Anton Schaaf (SPD):
Ich will die Sitzung nicht unnötig aufhalten, Herr Weiß. Aber bestätigen Sie mir, dass wir in der gemeinsamen Kommission der Großen Koalition, die sich um Mindestlöhne in einzelnen Branchen gekümmert hat, das Thema Zeit- und Leiharbeit auf der Tagesordnung hatten und dass Sie, die Union, es waren, die eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung für die Zeit- und Leiharbeit vehement verhindert haben?
Waren Sie das, oder waren wir Sozialdemokraten das? Würden Sie mir bitte auch bestätigen, dass denjenigen, auf die Sie sich mit Hinweis auf die Tarifautonomie in der Zeit- und Leiharbeit berufen, nämlich auf die CGB-Gewerkschaften, gerade attestiert wurde, überhaupt nicht tariffähig zu sein? Können Sie mir bestätigen, dass das so ist? Hören Sie auf mit solchen Vorwürfen! Wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass hier viel aus dem Ruder gelaufen ist, und schon in der letzten Legislaturperiode versucht, das zu ändern. Versuchen Sie nicht, sich aus der Verantwortung zu stehlen!
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Herr Kollege Schaaf, in der Tat haben wir in den vier Jahren Große Koalition darüber gesprochen, wie die aufgrund rot-grüner Gesetzgebung verlotterten Sitten in der Leiharbeit, was die Lohnfindung angeht, korrigiert werden können. Eine wichtige Bedingung, auf die wir uns damals geeinigt hatten, war, auf Vorschlag der Tarifpartner Tarifverträge, die möglichst 50 Prozent der Beschäftigten und der Betriebe einer Branche umfassen, für allgemeinverbindlich zu erklären. Aber die Verlotterung der Sitten in der Leiharbeit aufgrund rot-grüner Gesetzgebung hat dazu geführt, dass wir es mit mehreren, unterschiedlichen und miteinander konkurrierenden Tarifverträgen zu tun hatten, dass die Tarifvertragspartner - das betrifft vor allen Dingen die Arbeitgeberseite - uns massiv bestürmt haben, die Tarifverträge nicht anzutasten, und dass deswegen keine Einigung möglich war.
Das Großartige ist aber, Herr Kollege Schaaf, dass allein die Drohung und Ankündigung von Frau Bundesministerin von der Leyen, in diesem Bereich etwas zu machen, dazu geführt haben, dass vor wenigen Wochen alle vier Arbeitgeberverbände im Bereich der Zeitarbeit mit allen Gewerkschaften den gleichen Mindestlohn vereinbart haben. Deswegen haben wir heute eine grundlegend andere Situation als zur Zeit der Großen Koalition. Das ist Tatsache.
Ich erinnere an Folgendes: Im alten AÜG, das die Leiharbeit regelt, stand, dass für Zeitarbeitsverhältnisse, die länger als zwei Jahre dauern, der Gleichbezahlungsgrundsatz gilt, dass also der Leiharbeiter genauso viel Gehalt zu bekommen hat wie der festangestellte Mitarbeiter. Diesen Satz haben nicht die CDU/CSU und FDP, sondern ihn hat Rot-Grün aus dem Gesetz gestrichen. Das ist die Ursache für das, was wir heute beklagen. Während Rot-Grün das Dilemma angerichtet hat und sich plötzlich reinwaschen will, ist Frau von der Leyen die erste Bundesarbeitsministerin seit zwölf Jahren, die handelt.
Es ist ein Unding und es ist unanständig, dass Firmen ihre festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen und sie anschließend als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wieder in den Betrieb holen. Deswegen hat das Bundeskabinett am Mittwoch dieser Woche einen Gesetzentwurf beschlossen, mit dem dieser Drehtüreffekt für alle Zeiten unterbunden werden wird. Wir handeln!
Wenn sich jetzt Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zu diesem Thema äußern, dann muss ich auf Folgendes hinweisen: Es gibt unter den großen Wohlfahrtsverbänden in Deutschland einen, der historisch bedingt auf das Engste mit der Sozialdemokratie verbunden ist, nämlich die Arbeiterwohlfahrt. Die Arbeiterwohlfahrt - so höre ich aus Essen - beendet die Ausbildung in Pflegeberufen damit, dass sie die jungen Leute an eine eigene Leiharbeitsfirma, die AWO-Service GmbH, weiterleitet.
Dann werden diese gut ausgebildeten jungen Leute von der AWO-Service GmbH im gleichen Betrieb wieder angestellt und verdienen, obwohl sie eine sehr gute Ausbildung haben, gerade einmal so viel wie ein Pflegehelfer, der überhaupt keine Ausbildung hat.
Das ist sozialdemokratische Ehrlichkeit in Sachen Leiharbeit.
Das zweite Thema hat der Kollege Schaaf schon angesprochen: die Löhne in der Leiharbeit. In den vergangenen Jahren sind in der Leiharbeitsbranche katastrophal niedrige, unanständige Löhne gezahlt worden. Das muss ein Ende haben.
Weil wir das klar und deutlich gesagt haben, haben endlich auch die Zeitarbeitsunternehmen verstanden, dass die Leiharbeit und die Zeitarbeit ganz kaputtgehen werden, wenn sie weiter in der Schmuddelecke bleiben. Darüber bin ich sehr froh.
Unter Rot-Grün gab es eine Verlotterung der Sitten. Dagegen ist es jetzt erstmals gelungen, dass alle vier Arbeitgeberverbände im Bereich der Zeitarbeit einen einheitlichen Mindestlohn mit den Gewerkschaften vereinbart haben. Wir haben jetzt in Deutschland zum ersten Mal einen einheitlichen branchenübergreifenden Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche. Das hat es früher nicht gegeben; das gibt es jetzt zum ersten Mal. Das zeigt, dass die Tarifautonomie in Deutschland funktioniert.
Deswegen ein Kompliment an die Verhandelnden auf Arbeitgeber- und auf Arbeitnehmerseite dafür, dass sie erstmals einen flächendeckenden Mindestlohn für die Leiharbeitsbranche in Deutschland vereinbart haben - anders, als es unter Rot-Grün in Deutschland üblich war.
- Frau Kramme, eins nach dem anderen.
Nun gibt es ein Datum, auf das Frau Kramme hinweist, das in meiner Rede aber ohnehin vorgekommen wäre: Wenn am 1. Mai 2011 die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den acht im Jahre 2004 der Europäischen Union neu beigetretenen Staaten Ost- und Mitteleuropas das Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit erhalten, also ohne weitere Vorbedingungen zu uns nach Deutschland kommen können, dann droht der einheitliche Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche, den wir jetzt in Deutschland haben, eventuell durch ausländische Tarifverträge unterboten zu werden. Deswegen arbeiten wir intensiv an einer gesetzlichen Regelung, die genau dieses verhindert.
- Frau Kollegin Nahles, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich würde da nicht laut ?Oh!? schreien, denn der 1. Mai 2011 stand auch schon zur Regierungszeit von Rot-Grün im Kalender.
Denn damals, 2004, unter rot-grüner Verantwortung, ist der Beitritt dieser acht Staaten zur Europäischen Union beschlossen worden.
Sie haben nicht gehandelt. Sie haben das Dilemma, das uns jetzt droht, sehenden Auges in Kauf genommen.
Deswegen werden wir, die christlich-liberale Koalition, auch dieses Thema befriedigend regeln.
Leiharbeit in Deutschland muss anständige Arbeit zu anständigen Löhnen bedeuten. Rot-Grün hat dafür gesorgt, dass die Sitten verlottert sind. Wir sorgen wieder für Ordnung auf dem deutschen Arbeitsmarkt.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi von der Fraktion Die Linke.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem SPD-Antrag. Frau Nahles, aufgrund der Umstände, in denen Sie sich befinden - es ist ja etwas Tolles, dass Sie neues Leben auf die Erde bringen -, will ich mich mit meiner Kritik etwas zurückhalten.
Aber dass Sie mit keinem Wort darauf eingegangen sind, dass SPD und Grüne sehr stolz darauf waren, den Arbeitsmarkt 2003 mit der Agenda 2010 zu flexibilisieren, damit aber den ganzen Mist angerichtet haben, kann dann doch nicht außen vor bleiben. Wenigstens mit einem Satz hätten Sie es erwähnen sollen.
Das bedeutete damals in großem Umfang Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Teilzeitarbeit, Aufstocker usw. All das führte zu einer dramatischen Lohnsenkung in Deutschland. Deutschland ist Weltmeister bei der Lohnsenkung. Von den USA bis Norwegen gab es in den letzten zehn Jahren Lohnsteigerungen von - inflationsbereinigt - 2,2 bis 25,1 Prozent. In Deutschland hatten wir in den letzten zehn Jahren eine Lohnsenkung um 4,5 Prozent. Das ist die Wahrheit. Das gilt für Ihre gesamte Regierungszeit und natürlich auch für Ihre Regierungszeit, meine Damen und Herren von der Koalition. Deshalb kann sich hier keine Fraktion außer unserer aus der Verantwortung stehlen.
Diese Zahlenfeststellung kommt nicht von uns, sondern von der Internationalen Arbeitsorganisation, der ILO, die bei der UNO angesiedelt ist.
Zusätzlich haben SPD und Grüne das Rentenniveau gesenkt, indem sie die Kohl?sche Rentenformel wieder eingeführt haben. Dadurch ist das Rentenniveau deutlich gesunken. Dann ist die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld gekürzt worden. Außerdem haben Sie über die Einführung von Hartz IV die Sozialleistungen reduziert. Wir haben immer gesagt: Hartz IV muss weg, weil das kein Weg ist, unsere Probleme zu lösen.
Das Ergebnis war, dass deutsche Produkte immer billiger wurden. Weil deutsche Produkte immer billiger wurden, haben wir einen immer größeren Exportüberschuss erzielt, haben immer mehr in Länder wie Frankreich, Portugal, Spanien etc. exportiert.
Diese Länder konnten immer weniger zu uns exportieren. Dadurch ist ein makroökonomisches Ungleichgewicht entstanden, mit dem wir uns heute herumzuschlagen haben.
- Ich wusste, dass Sie denken, das habe mit dem Thema nichts zu tun. Wenn Sie mich einladen, werde ich Ihnen einmal erklären, warum das eine Menge mit dem Thema zu tun hat, aber jetzt habe ich leider nicht die Zeit dafür.
Nur so viel noch: Der Binnenmarkt in Deutschland ist über die Lohnsenkung, die Rentensenkung und die Senkung der Sozialleistungen erheblich geschwächt worden. Das ist völlig klar. Das ist das Ergebnis.
Jetzt verlangen Sie von Griechenland, von Spanien, von Portugal, auch von Frankreich drastische Lohnsenkungen und Sozialkürzungen, und diese Länder gehen den Weg auch. Wenn Sie das aber durchsetzen, liebe Union und liebe FDP - dafür setzen sich Frau Merkel und die ganze Bundesregierung ein -, dann nehmen Sie uns die Möglichkeit, dorthin so zu exportieren wie bisher; dann geht unser Export zurück. Somit gibt es nur eine einzige Ausgleichsmöglichkeit: Wir müssen den Binnenmarkt stärken.
Deshalb sage ich Ihnen: 2011 muss das Jahr von massiven Lohn- und Rentensteigerungen sowie von Erhöhungen der Sozialleistungen werden. Wer das verhindert, arbeitet nicht für, sondern gegen Europa, arbeitet gegen den Euro, ist nicht nur unsozial, sondern schwächt auch unsere eigene Wirtschaft, und zwar beachtlich. Die Linke kämpft jetzt um Europa, während Sie Europa gefährden. Das ist die Wahrheit, mit der wir es heute zu tun haben.
Auf einen Umstand wurde schon hingewiesen. Gerade dank der Linken im Senat von Berlin hat es eine Klage gegeben, die bis zum Bundesarbeitsgericht gegangen ist. Dort ist jetzt entschieden worden, dass die christlichen Gewerkschaften, die nichts anderes sind als Krücken der Arbeitgeber, keine Tarifverträge schließen dürfen.
- Das hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt. Wenn Sie es mir nicht glauben, dann lesen Sie sich das Urteil durch.
Im Ergebnis sind alle diese Tarifverträge nichtig. Nun muss es natürlich beachtliche Nachzahlungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie an die Sozialkassen geben. Ich bin gespannt, ob Union und FDP diese Nachzahlungsforderungen unterstützen oder nicht. Ich warte auf eine Äußerung von Ihnen.
Kommen wir aber zurück zur Leiharbeit. Sie ist 1972 unter Willy Brandt erfunden worden, aber damals mit klaren Regelungen und als eindeutige Ausnahme. Dann war es leider so, dass mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes durch Rot-Grün 2003 Folgendes passiert ist: Erklärt wurde, man wolle die Leiharbeit aus der Schmuddelecke herausholen. Dabei hat man sie allerdings so schmutzig gemacht, dass sie heute an Sklaverei erinnert, kann ich nur sagen.
Erstens haben Sie die Entfristung der Leiharbeit geregelt. Das heißt, Unternehmen können Leiharbeitskräfte dauerhaft einsetzen. Das war die erste ganz erhebliche Benachteiligung.
Zweitens haben SPD und Grüne die Aufhebung des sogenannten Synchronisationsverbotes beschlossen. Vorher durften Leiharbeitsfirmen Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter nicht nur dann beschäftigen, wenn sie für sie einen Job hatten. Nun besteht für Leiharbeitsfirmen nicht mehr die Pflicht, die Leute dauerhaft zu beschäftigen. Das heißt, eine Leiharbeitsfirma kann eine Leiharbeiterin einstellen und sagen: Immer wenn ich für dich einen Job habe, bist du beschäftigt, wenn nicht, bist du arbeitslos und bekommst von mir gar nichts. - Das war vorher verboten. Sie haben dieses Verbot aufgehoben, und seitdem haben wir mit der nicht dauerhaften Beschäftigung zu tun.
Das Dritte war die Öffnungsklausel. Sie haben geregelt, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter nicht nach der von ihnen geleisteten Tätigkeit bezahlt werden müssen, sondern nach irgendeinem Tarif der Leiharbeitsfirma. Aber viele Leiharbeitsfirmen haben nicht einmal einen Tarif. Das führt dazu, dass - was Frau Nahles zu Recht kritisiert hat - Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter oft nur 50 bis 70 Prozent des Lohnes bekommen, den ein anderer im Unternehmen, der die gleiche Arbeit erledigt, erhält.
Das ist doch ein einzigartiger Skandal!
Jeder bzw. jede achte Beschäftigte in Leiharbeit ist Aufstockerin oder Aufstocker und muss zum Sozialamt rennen. Das ist damals eingeführt worden, und das finden Sie gut. Dazu hätte man seitens SPD und Grünen selbstkritisch etwas sagen müssen, finde ich.
Viertens haben Sie keine Drehtürregelung eingeführt. Das führte dazu, dass Schlecker Folgendes machte: Schlecker entließ seine Beschäftigten und stellte sie als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gleich wieder ein. Nun sagen auch Union und FDP, das gehe ihnen zu weit. Auch Sie haben erkannt, dass es keine Drehtürregelung gibt, weshalb Schlecker seine Mitarbeiter entlassen und als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wieder einstellen kann. Aber was machen Sie? Ich habe mir Ihren Gesetzentwurf angesehen. Sie schlagen vor, die Wiedereinstellung für sechs Monate zu verbieten. Mit anderen Worten: Sie sagen, dass Schlecker die Leute erst nach sechs Monaten wieder einstellen darf. Das ist keine Lösung des Problems.
Sie haben von einer dauerhaften Lösung gesprochen. Dann regeln Sie das! Streichen Sie die Sechsmonatsfrist, und verbieten Sie die Wiedereinstellung zur Leiharbeit dauerhaft. Sonst ist das kein wirklicher Fortschritt.
Aber die Situation wird immer dramatischer. Im dritten Quartal 2010 entstanden nur 50 000 neue reguläre Arbeitsplätze, aber 150 000 Leiharbeitsplätze. Da sehen Sie, was die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes angerichtet hat: eine soziale Katastrophe.
Bei der Zahl der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter nähern wir uns jetzt der Millionengrenze. Nun hat der DGB einen neuen Tarifvertrag mit der Leiharbeitsbranche - mit denen, die da mitmachen; viele machen ja nicht mit - geschlossen, in dem ein Mindesttarif West von 7,79 Euro und ein Mindesttarif Ost von 6,89 Euro festgeschrieben ist. Ich sage Ihnen ganz klar: Es ist ein Skandal, dass 20 Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit ein geringerer Mindesttarif Ost als West vereinbart wird. Das sage ich ganz deutlich, auch den Gewerkschaften.
Nun haben die Gewerkschaften allerdings auch etwas Positives erreicht. Sie haben nämlich in manchen Konzernbereichen durchgesetzt, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit auch für Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter zu bezahlen ist. Aber das geschieht nur in Ausnahmefällen. In der Regel ist das nicht der Fall.
Nun erleben wir einen Streit zwischen Union und FDP; das finde ich ganz interessant. Die Union schlägt vor, im Entsendegesetz einen Mindesttarif zu regeln, und zwar den von mir gerade angesprochenen. Das löst das Problem aber überhaupt nicht; denn das bedeutet nicht, dass der Ingenieur, der als Leiharbeiter in einem Unternehmen tätig ist, den gleichen Lohn bekommt wie ein anderer Ingenieur, der dort die gleiche Arbeit macht. Sie wollen ja nur einen Mindesttarif für die Leiharbeitsfirmen. Deshalb ist das keine wirkliche Lösung.
Die FDP - auch in meinem Alter muss ich sagen: man höre und staune - schlägt ernsthaft vor, dass für den Leiharbeiter der gleiche Lohn bezahlt wird wie für den festen Mitarbeiter in dem Unternehmen.
Ich war völlig von den Socken.
- Moment! - Dann sagen Sie, dass das erst nach einer bestimmten Frist der Fall sein soll, und die nennen Sie noch nicht. Sie wissen natürlich, dass über die Hälfte der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter weniger als drei Monate tätig ist. Deshalb ahne ich, dass Sie irgendwie auf drei oder vier Monate kommen. Sagen Sie doch einfach: unbefristet. Das wäre ein guter Vorschlag.
Solange es Leiharbeit gibt, fordern wir sieben Dinge:
Erstens. Gleicher Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit ohne Ausnahme vom ersten Arbeitstag an.
Zweitens. Zusätzlich soll an Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wie in Frankreich eine Flexibilitätsprämie von 10 Prozent gezahlt werden. Denn sie sind jeweils nur befristet tätig und haben dann wieder stärkere Lohneinbußen. Weil die Leiharbeiterin oder der Leiharbeiter für ein Unternehmen teurer ist, kann man damit auch durchsetzen, dass die Unternehmen sie nur in Ausnahmesituationen beschäftigen, statt sie dafür zu nutzen, die Stammbelegschaft im Lohn zu drücken, was wir gegenwärtig erleben.
Drittens wollen wir, dass die Leiharbeit auf drei Monate befristet wird. Wenn eine Firma eine Leiharbeiterin oder einen Leiharbeiter länger beschäftigt, dann muss er oder sie unbefristet eingestellt werden.
Viertens wollen wir eine Wiedereinführung des Synchronisationsverbotes. Damit wird verhindert, dass Leiharbeitskräfte nur für die Dauer eines Einsatzes bei der Leiharbeitsfirma beschäftigt werden können. Wenn es schon eine Leiharbeitsfirma gibt, dann muss sie die Beschäftigten unbefristet einstellen.
Fünftens wollen wir, dass die Betriebs- und Personalräte im Entleihbetrieb über ein zwingendes Mitbestimmungsrecht bei der Einsetzung von Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern verfügen.
Sechstens wollen wir - das ist ein kleines, aber sehr wichtiges Detail -, dass die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, die in einem Unternehmen tätig sind, ein aktives Wahlrecht für dessen Betriebsrat erhalten. Sie müssen auch als Beschäftigte mitgezählt werden. Denn die Größe des Betriebsrates hängt von der Zahl der Beschäftigten ab. Wenn ein Unternehmen dazu übergeht, 10 Prozent seiner Beschäftigten mit Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern zu bestreiten, dann ist auch der Betriebsrat entsprechend kleiner. Das muss aufhören. Auch Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter müssen mitzählen.
Siebtens wollen wir zum 1. Mai einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland, der bis spätestens 2013 bei 10 Euro pro Stunde liegen muss.
Ich sage Ihnen auch, warum: weil die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf uns zukommt.
Hören Sie als Liberale zu! Wenn Sie dafür sorgen, dass Unternehmen aus anderen Ländern hier zu sündhaften Billiglöhnen tätig werden, nehmen Sie den Menschen bei uns auf eine unmoralische Art und Weise die Arbeitsplätze und schaffen die Voraussetzung für Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Wer das nicht will, muss eine andere Lösung anstreben. Es wird höchste Zeit. Dabei sind wir alle gemeinsam in der Verantwortung.
Damit komme ich zur SPD. Alle Forderungen, die Sie heute vorbringen, sind völlig berechtigt, wobei ich mir gewünscht hätte, dass Sie die unbefristete Einstellung nicht erst nach einem Jahr, sondern schon nach drei Monaten und den gleichen Lohn nicht erst nach einem Monat, sondern gleich fordern.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Gysi, Sie haben Ihre Redezeit weit überzogen.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Das ist sehr tragisch, aber es war notwendig.
Sie - die SPD - hätten allerdings zugeben müssen, dass Sie das Ganze beschlossen haben. Wir bräuchten Ihren Antrag gar nicht, wenn Sie es nicht seinerzeit eingeführt hätten. Aber immerhin: Ich darf es bedauern, aber lassen Sie uns jetzt versuchen, es gemeinsam zu überwinden.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist Vorweihnachtszeit, und ich will mit dem Verbindenden beginnen: Ich glaube, uns eint der Wunsch, Missbrauch bei der Zeitarbeit zu verhindern. Das will ich auch für meine Fraktion feststellen. Das ist auch der Grund, warum mit Unterstützung der Koalitionsfraktionen gestern im Kabinett ein Entwurf zur Novellierung der Arbeitnehmerüberlassung vorgelegt wurde, in dem zum Beispiel die schon erwähnte Drehtürklausel verankert ist. Das ist die Reaktion auf Vorkommnisse bei einer großen Handelskette, die wir erleben mussten. Ich will den Namen nicht nennen.
Wir alle haben sehr entschieden gesagt: So geht es nicht. Das wird jetzt umgesetzt. Man konnte das deshalb zeitlich etwas länger laufen lassen, weil die Tarifpartner in der Branche zwischenzeitlich entschieden gehandelt haben und der Problemdruck von dieser Seite gelöst wurde.
Wenn ich sage, wir wollen Missbrauch bekämpfen, dann schließe ich mich denen an, die heute Morgen schon gesagt haben: Der Missbrauch ist erst dadurch möglich geworden, dass die SPD und die SPD-Arbeitsminister zu Regierungszeiten glaubten, mit einer Öffnung der Leiharbeit einen wichtigen Beitrag leisten zu können. Das unterscheidet uns auch aktuell von Ihnen: Wir sind auch weiterhin der Meinung, dass die Zeitarbeit ein wichtiges Flexibilitätsinstrument für unsere Wirtschaft ist. Sie muss aber auf den Kern zurückgeführt werden, nämlich dass mit diesem Instrument befristete Auftragslagen beantwortet werden sollen. Es kann nicht darum gehen, Stammbelegschaften auf Dauer durch Zeitarbeitnehmer zu ersetzen. Es kann genauso wenig darum gehen, durch Zeitarbeit eine Lohndifferenzierung nach unten vorzunehmen. Beides haben wir schon vor Monaten sehr deutlich gesagt.
Frau Nahles, Sie wundern sich, dass die FDP das Thema Equal Pay ins Gespräch gebracht hat. Das sollte Sie aber nicht wundern; denn bei einem Blick ins Arbeitnehmerüberlassungsgesetz werden Sie feststellen, dass Equal Pay dort schon heute der Regelfall ist. Die Abweichung hiervon durch Tarifvertrag, auch von SPD-Stimmen ins Bundesgesetzblatt hineingebracht, stellt die Ausnahme dar. Die Frage lautet, inwieweit diese Ausnahme nachjustiert werden muss, um zu angemessenen Ergebnissen zu kommen.
Ich bin anders als Sie, Herr Kollege Gysi, nicht der Meinung, dass Equal Pay mit einer sehr kurzen Frist - ich habe mich persönlich bislang noch nie zu einer Frist geäußert - kommen müsste, und zwar aus folgenden Gründen: Zum einen entspricht es dem Charakter der Zeitarbeit, dass man sie mit einer bestimmten zeitlichen Toleranz akzeptieren kann und akzeptieren muss. Zum anderen muss auch die umfangreiche Ausbildungsleistung honoriert werden, die von Zeitarbeitsunternehmen in Deutschland geleistet wird. Das ist eine Ausbildungsleistung mit dem Ziel, zuvor arbeitslose Menschen an den Arbeitsmarkt heranzuführen.
Wenn Sie in die Statistik schauen, stellen Sie fest, dass es in sehr vielen Fällen auch gelingt, die Menschen aus der Arbeitslosigkeit abzuholen und über die Zeitarbeit in ein Arbeitsverhältnis im ersten Arbeitsmarkt zu bringen.
Ich bin der Meinung, dass man beim Thema Equal Pay eine Aussage treffen muss. Auf eines will ich besonders hinweisen, weil das Thema Mindestlohn immer so schnell genannt wird: Der Mindestlohn, Frau Kollegin Nahles, ist im Kern eine Unternehmer-, eine Arbeitgebersicht. Die Arbeitnehmersicht hingegen ist die des Equal Pay. Beim Mindestlohn geht es, auch wenn es arbeitnehmerfreundlich verbrämt wird, quasi darum, protektionistisch Märkte abzuschotten. Ich wundere mich teilweise, wenn Verbandsvertreter sagen: Auch wenn nur 100 Leute über Zeitarbeitsverträge von Polen nach Deutschland kämen, sei das bereits ein Riesenproblem. Die gleichen Verbandsvertreter gehen aber ganz selbstverständlich davon aus, dass ihre Unternehmen grenzüberschreitend tätig sein dürfen, mit offenen Grenzen und ohne Widerstände in den jeweiligen Empfängerländern.
Wenn wir über die Einordnung der Zeitarbeit im Kontext der arbeitsmarktpolitischen Instrumente reden - also neben Vollzeitarbeit, neben Teilzeitarbeit, neben befristeter Beschäftigung -, ist natürlich auch in den Blick zu nehmen, dass dies die Kehrseite eines relativ starken Kündigungsschutzes ist, den wir in Deutschland haben, dass also Unternehmen mit Zeitarbeit reagieren und sich sozusagen Flexibilität auf diesem Wege erkaufen.
Deswegen, Herr Kollege Gysi, kann es mich auch nicht verwundern, wenn am Ende der Krise - Sie haben ja Zahlen genannt - Unternehmen angesichts noch nicht sicherer Auftragsreichweiten zunächst verstärkt auf dieses Instrument der Zeitarbeit einschwenken. Unser Ziel muss sein, das will ich für die FDP-Fraktion - -
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Kolb, ich muss Sie einmal unterbrechen. Der Kollege Ernst würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Das darf er natürlich gerne tun. Meine Redezeit wäre sonst auch gleich zu Ende gewesen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die Redezeit wird angehalten, bis die Antwort durch Sie erteilt ist.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Vielen Dank, Herr Dr. Kolb. - Ich habe zwei Fragen.
Erstens. Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass Sie kritisieren, wie die Sozialdemokraten und die Grünen eine Verschärfung dieser Leiharbeitsregelungen eingeführt haben. Mich würde aber interessieren: Welche Haltung hatte denn die FDP damals dazu? Mir ist nämlich nicht bekannt, dass Sie sich vehement gegen diese Vorschläge gewehrt hätten. Soweit ich es in Erinnerung habe, gingen Ihnen die Einschränkungen, die noch in diesen Vorschlägen steckten, eher zu weit. Mich würde interessieren, ob das richtig ist.
Zur zweiten Frage. Nach Ihrer Darstellung müsste es so sein, dass Equal Pay am Anfang einer Beschäftigung für einen bestimmten Zeitraum unterlaufen werden könnte. Ist Ihnen bekannt - ich gehe davon aus, dass es Ihnen bekannt ist, weil Sie selber geschäftsführender Gesellschafter eines Unternehmen in der Metallindustrie sind -, dass Neueingestellte in den Betrieben in der Regel noch nicht denselben Lohn wie alle anderen bekommen? Es gibt Einarbeitungsregelungen, einerseits in den Tarifverträgen, andererseits in der betrieblichen Praxis von Betrieben, in denen es keine Tarifverträge gibt. Deshalb die Frage: Wollen Sie mit Ihrem Vorschlag erreichen, dass Zeitarbeiter Löhne unterhalb der in den Betrieben vereinbarten Einarbeitungsstufe erhalten? Aus Ihrer Darstellung folgt nämlich, dass Sie momentan kein Equal Pay für alle wollen; wenn es Equal Pay für alle gäbe, würde das auch für die Einarbeitungsstufen gelten, die niedriger sind als die Tarifstufen derjenigen, die schon länger im Betrieb beschäftigt sind.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Kollege Ernst, zunächst einmal freue ich mich, dass es mir auch heute gelungen ist, Sie zu einer Zwischenfrage zu reizen, auch wenn das der eine oder andere Kollege, der dringend zum Flughafen oder zur Bahnhof muss, vielleicht anders sieht.
Ich will Ihre Frage gern beantworten.
Ich habe damals vermutlich auch zu den Gesetzesänderungen bei der Zeitarbeit geredet. Nach meiner Erinnerung habe ich damals das Gleiche wie heute gesagt: Zeitarbeit ist ein wichtiges Flexibilitätsinstrument, das nutzbar gemacht und gehalten werden muss. Das treibt uns auch in der aktuellen Situation um; ich will das deutlich sagen. Es ist erkennbar, dass manche Stimmen in diesem Haus von einer Bekämpfung des Missbrauchs in der Zeitarbeit reden, aber in Wirklichkeit meinen, dass die Zeitarbeit abgeschafft werden soll. Das wollen wir ausdrücklich nicht. Ich habe damals wie heute gesagt: Wir sind dafür, dass Zeitarbeit im Konzert der arbeitsmarktpolitischen Möglichkeiten eine wichtige Rolle spielt.
Zweiter Punkt: die Einstellungssituation in den Unternehmen der Metallbranche. Wir müssen Equal Pay nicht neu erfinden und nicht neu definieren. Es ist klar, was Equal Pay bedeutet - das wird im Rahmen der Leiharbeitsrichtlinie längst umgesetzt -: Es bezieht sich auf die Gewährung der wesentlichen Arbeitsbedingungen. Das heißt, die Regelungen für die Stammbelegschaft müssen nicht Buchstabe für Buchstabe auf Leiharbeiter übertragen werden; aber einem Leiharbeiter müssen im Wesentlichen die Arbeitsbedingungen gewährt werden, die einem Mitarbeiter der Stammbelegschaft im Einsatzbetrieb unter vergleichbaren Bedingungen zu gewähren wären.
Wenn sich die Tarifpartner der Branche darauf verständigt haben, für den Beginn eines Arbeitsverhältnisses eine besondere Vorschrift zu schaffen, dann würde das nach meinem Verständnis und meiner Interpretation der Leiharbeitsrichtlinie bedeuten, dass diese Vorschriften bei der Anwendung der ?wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen? zu berücksichtigen wären. Das heißt, es müsste so gehandhabt werden, wie Sie es beschrieben haben. Das würde dem entsprechen, was für die Stammbelegschaften bzw. für neu in die Stammbelegschaft eintretende Mitarbeiter in den Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie gelten würde.
- Frau Kollegen Nahles, die Uhr läuft schon weiter.
Ich meine, wir sollten hier mit Augenmaß herangehen; das Struck?sche Gesetz gilt sicherlich auch für das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und die Novellierung, die jetzt vom Kabinett an den Bundestag herangetragen worden ist. Ich bin sicher, dass wir uns hier in dem eingangs beschriebenen Gemeinsinn zusammensetzen und schauen: Welche Justierungen sind notwendig, um die Zeitarbeit auf Dauer so zu gestalten, dass sie kompatibel ist und in der Gesellschaft akzeptiert wird? Darum geht es uns im Wesentlichen: die Zeitarbeit nicht abschaffen, sondern sie modernisieren, damit sie auch künftig den Unternehmen zur Verfügung steht, aber nur für den Zweck, für den sie gedacht war, nämlich für befristete, nicht vollständig überschaubare Auftragslagen. Das wollte ich Ihnen vor Weihnachten sagen.
Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest, eine ruhige Zeit zwischen den Jahren und alles Gute für 2011.
Ich bedanke mich.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke vom Bündnis 90/Die Grünen.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich diskutieren wir heute über den Antrag der SPD; aber es ist bekannt, dass die Opposition bei dem Thema Leiharbeit sehr nah beisammen ist und weitgehend an einem Strang zieht. Im Mittelpunkt der Forderungen steht: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Das fordern auch wir Grünen, und zwar ohne Wenn und Aber.
Sie von den Koalitionsfraktionen streiten aber noch immer über eine Gesetzesvorlage, die Sie schon vor einem Jahr lautstark angekündigt haben. Im ersten Entwurf gab es noch eine Lohnuntergrenze, im zweiten Entwurf war sie schon wieder draußen. In dieser Woche hat das Kabinett den dritten Entwurf beschlossen, aber weder eine Lohnuntergrenze noch Equal Pay sind geplant. Die Regierung hat sich lediglich auf eine dürftige Regelung zum Drehtüreffekt und auf einige Anpassungen zur europäischen Leiharbeitsrichtlinie einigen können. Ministerin von der Leyen wird also weiterhin für einen Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche streiten müssen.
Eine kurze Zeit lang - ich glaube, es waren nur wenige Stunden; Kollege Kolb, ich spreche Sie jetzt direkt an - haben Sie signalisiert, dass die FDP einem Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche nicht im Weg stehen würde.
Dann mussten Sie sehr schnell wieder zurückrudern. Auf Ihrer Homepage steht jetzt wieder - ich glaube, Kollege Vogel sagte es -, dass die FDP gegen einen Mindestlohn ist. Beide Kollegen, Kolb und Vogel, wollen aber anscheinend das Equal Pay nach einer gewissen Frist - was immer das heißen mag. Das ist wieder einmal schwarz-gelbe Chaospolitik. Sie streiten, sie schachern wie auf einem Basar, und zwar zulasten der Beschäftigten.
Eigentlich wäre es ganz einfach; denn wir brauchen beides, und zwar einen Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche als Untergrenze und für verleihfreie Zeiten sowie Equal Pay beim Einsatz im Betrieb.
Seit einem Jahr kündigen Sie an, dass Sie gegen den Missbrauch in der Leiharbeit vorgehen wollen.
Sie haben aber nichts getan. Die Konsequenz ist: Nach der Krise kommt jetzt im Aufschwung der neue Boom in der Leiharbeit. Mittlerweile hat die Beschäftigung in der Leiharbeit fast die Millionengrenze erreicht. Laut IG Metall bewegt sich die Leiharbeitsquote in den Betrieben der Metall- und Elektroindustrie auf sehr hohem Niveau. Das bedeutet, dass in einer Schlüsselbranche der deutschen Wirtschaft - machen Sie sich das schlichtweg einmal deutlich - immer weniger sozialversicherungspflichtige Beschäftigte arbeiten. Eine Vielzahl von regulären Beschäftigungsverhältnissen ist durch Leiharbeit ersetzt worden. Diese Entwicklung zeigt: Es entsteht eine Zweiklassengesellschaft auf dem Arbeitsmarkt. Ich finde, dieser Trend muss endlich gestoppt werden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, auf diesem Ohr sind Sie aber taub. Gleichzeitig sagen Sie ja immer, wir Grünen seien die Dagegen-Partei.
Die Realität zeigt aber, dass Sie die Neinsager sind. Wir sind für Equal Pay, die CDU/CSU ist aber dagegen. Wir sind für einen Mindestlohn, die FDP ist aber dagegen. Wir wollen die Leiharbeit auf ein sozialverträgliches Maß begrenzen, Sie sind aber dagegen. Nicht bei den Grünen sitzen die Neinsager, sondern in den Reihen der Regierungsfraktionen.
Unbeirrt halten Sie daran fest, dass die Leiharbeit ein wichtiges Instrument für die Wirtschaft ist. Herr Kolb, Sie haben es gerade noch einmal gesagt. Aber was heißt das eigentlich? Ich habe mal ein bisschen gegoogelt und bin bei der Zeitarbeitsfirma ProFutura fündig geworden. Dort wird der Vorteil der Leiharbeit sehr deutlich und sehr klar beschrieben - ich zitiere-:
- Sie befreien sich von vielen Arbeitgeberpflichten und -risiken
- Sie vermeiden konsequent Trennungsprobleme (Arbeitsgerichtsprozesse, Abfindungszahlungen)
- Sie erreichen eine Kostensenkung und wandeln Fixkosten in variable Kosten
- Sie verschaffen sich durch optimale Personalbesetzung einen Wettbewerbsvorteil, der zu Ihrem Unternehmenserfolg beiträgt
Wenn ich das lese, läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Wo leben wir eigentlich, wenn Menschen ausschließlich als variable Kosten und Wettbewerbsvorteil bezeichnet werden? Wollen wir wirklich den Status als Exportweltmeister mit Dumpinglöhnen erkaufen? Was ist eigentlich noch der Wert der Arbeit bei uns hier in Deutschland?
Für eine Sekretärin in einem Klinikum bedeutet Leiharbeit beispielsweise ganz konkret: Sie bekommt für die gleiche Arbeit circa 500 Euro brutto weniger im Monat, sie hat sechs Tage weniger Urlaub, bekommt kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld und keine betriebliche Altersvorsorge. Wenn alle anderen Heiligabend und Silvester einen halben Tag frei haben, muss sie arbeiten.
Das ist kein Einzelfall. Die Leiharbeitskräfte sind Beschäftigte zweiter Klasse, die nicht nur schlechter verdienen, sondern auch weniger Rechte haben. Sie haben deutlich weniger Planungssicherheit; denn für den Entleihbetrieb gilt der Kündigungsschutz nicht. Vor allem sind sie aber zum Spielball der Unternehmen geworden. Diese können durch die Leiharbeit einfach ihr betriebswirtschaftliches Risiko auf die Beschäftigen übertragen. Schwächelt die Konjunktur, sind die Leiharbeitskräfte die ersten, die hinausgeworfen werden und auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen sind. Diese Form der Beschäftigung ist meiner Meinung nach nicht mit einer sozialen Marktwirtschaft zu vereinbaren. Sozial ist nicht, was Arbeit schafft, sondern sozial ist, was gute Arbeit schafft.
Kritikwürdig finde ich auch, dass die Bundesagentur für Arbeit immer mehr in Leiharbeit vermittelt, und dies, obwohl die meisten Leiharbeitskräfte - dabei geht es um Singlehaushalte und nicht um Familien -, zusätzlich ergänzendes Arbeitslosengeld II erhalten. Hier liegt die Leiharbeitsbranche weit vor allen anderen Branchen. Dennoch wirbt die Bundesagentur für Arbeit auf ihrer Homepage dafür - ich zitiere nochmals -:
Wenn Ihnen der Einsatz bei verschiedenen Arbeitgebern und Branchen gefällt, können Sie die Zeitarbeit zu Ihrem Dauerjob machen.
Ich finde das zynisch. Die BA sollte ihren Job endlich ernst nehmen und die Menschen in reguläre Beschäftigung vermitteln.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir Grünen sind kritisch, aber auch selbstkritisch. Ich habe hier schon einmal gesagt, dass die Reform der Leiharbeit unter Rot-Grün ein Fehler war. Fehlentwicklungen können und müssen aber korrigiert werden. Die Verantwortung dafür liegt jetzt leider nicht bei uns, sondern bei Ihnen, bei den Regierungsfraktionen und der Bundesregierung. Hören Sie von den Regierungsfraktionen endlich auf, immer nur zu sagen, dass die Entwicklung durch Rot-Grün entstanden ist.
Lenken Sie damit nicht immer von Ihrer eigenen Verantwortung, von der Verantwortung der Regierungsfraktionen ab.
Auch die Argumentation, die ich immer wieder höre, dass 1 Million Leiharbeitskräfte lediglich 3 Prozent der Beschäftigten entsprechen, kann ich nicht gelten lassen. Entscheidend sind die Dynamik in der Branche und die Folgen auf dem Arbeitsmarkt, vor allem mit Blick auf die Freizügigkeit. Der Schutz der arbeitenden Menschen und die soziale Gerechtigkeit gehen durch die Leiharbeit immer mehr verloren. Die Wohlstandsversprechen der sozialen Wirtschaft, dass in Krisenzeiten alle gleichermaßen abgesichert sind und am Wachstum gerecht beteiligt werden, werden in der Realität immer seltener eingelöst. Fairness und soziale Verantwortung sehen für mich anders aus.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, nehmen Sie die Fakten endlich ernst. Begreifen Sie endlich, dass es nicht nur um ein bisschen Missbrauchsbekämpfung geht, sondern um viel mehr. Es geht um einen grundsätzlichen Korrekturbedarf im Bereich der Leiharbeit. Kommen Sie zu Potte, und machen Sie endlich den Weg frei für reguläre Beschäftigung und faire Löhne.
Das ist nicht nur der Wunsch der Opposition, sondern auch der Wunsch der Bevölkerung. Umfragen haben ergeben, dass 60 Prozent der Deutschen die Leiharbeit ablehnen und 87 Prozent die ungleiche Bezahlung für ungerecht halten. Gleiches Geld für gleiche Arbeit - das entspricht dem Gerechtigkeitsgefühl der Menschen. Dies sollte auch ein Zeichen für die Regierung sein.
Wenn die Meinung der Bevölkerung für Sie nicht zählt, dann nehmen Sie doch wenigstens erfahrene Politiker aus den Reihen der CDU ernst, beispielsweise Norbert Blüm, der Schirmherr der Initiative ?Gleiche Arbeit - Gleiches Geld? ist. Seinen Einsatz begründet er damit, dass das deutsche Wirtschaftswunder durch Innovation und Qualität entstanden ist und nicht durch Beschäftigung bei weniger Rechten und zu Dumpinglöhnen. Recht hat er. Unsere Gesellschaft ist nur tragfähig, wenn möglichst viele Menschen einen Arbeitsplatz haben, bei dem sie so viel verdienen, dass sie davon leben können - ohne staatliche Unterstützung -, und bei dem sie die gleichen Rechte und die gleichen Sicherheiten haben wie alle anderen auch. Alles andere ist unsozial und entspricht nicht der Würde des Menschen.
Zum Schluss möchte ich ganz kurz Norbert Blüm zitieren: ?Made in Germany ist nicht der Begriff für billig!?
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Peter Tauber von der CDU/CSU-Fraktion.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 82. Sitzung - wird am
Montag, den 20. Dezember 2010,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]