Sehr geehrter Herr Knabe, Herr Professor Wolffsohn, Herr
Schüler,
meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus parlamentarischen Gremien,
am nächsten Sonntag begehen wir den 20. Jahrestag der
Deutschen Einheit und wenige Tage vorher erinnern wir daran, dass
damit gleichzeitig auch eines der ebenso authentischen wie
entsetzlichen Hinterlassenschaften der DDR zu Ende gegangen ist,
nämlich das Gefängnis Hohenschönhausen. Zwischen
diesen beiden Ereignissen besteht ein enger Zusammenhang und ich
finde, es hat eine nicht weiter erläuterungsbedürftige
innere Logik, diesen Zusammenhang gemeinsam in den Blick zu
nehmen.
Auch deswegen bin ich gerne der Einladung gefolgt, heute Abend
dabei zu sein. Ich habe - wenn Sie so wollen - eine offizielle und
eine private Motivation. Die offizielle Motivation ergibt sich aus
dem Amt und die private ergibt sich aus meiner Wahrnehmung der
eigenen Biographie im Kontext der Geschichte dieses Landes, unseres
Landes, das seit 20 Jahren wieder in einem Staat unter
demokratischen Bedingungen vereint ist. Als die Berliner Mauer
gebaut wurde, war ich noch nicht ganz 13 Jahre alt. Ich kann mich
an den Tag sehr gut erinnern, ich war mit meinen Eltern in den
Sommerferien in Holland, und wir erhielten die Nachricht vom Bau
einer Mauer in Berlin. Mein Interesse an Politik hat an diesem Tag
nicht begonnen, aber es ist von diesem Tage an noch intensiver und
dauerhafter gewesen als zuvor. Ich bin, woran es in diesen Tagen zu
erinnern lohnt, in einer Zeit groß geworden, in der
vermutlich die meisten Deutschen in Ost wie in West die Teilung
dieser Stadt, die Teilung dieses Landes, die Teilung Europas, die
Zugehörigkeit von zwei deutschen Staaten zu zwei
unterschiedlichen Militärbündnissen - beide politisch,
militärisch und ideologisch gewissermaßen bis an die
Zähne bewaffnet sich gegenüber stehend -, in der die
meisten Deutschen in Ost wie in West diesen Zustand für normal
gehalten haben, normal mindestens im Sinne von scheinbar
unvermeidlich, scheinbar nicht zu verändern.
Ich trage das nur deshalb vor, weil in diesen Tagen, in denen
wir an die 20 Jahre seit Überwindung von Diktatur und Mauern
und Stacheldrahtzäunen und staatlich organisierten Unrecht
erinnern, weil seitdem eine Generation herangewachsen ist, die
erste Generation in Deutschland, die in ihrer Biographie nie andere
Verhältnisse kennengelernt hat als ein vereintes Deutschland,
demokratisch verfasst, mit regelmäßigen freien Wahlen,
mit einem funktionierenden, wenn auch nicht immer über jeden
Zweifel erhabenen Rechtsstaat, in einem friedlich
zusammenwachsenden Europa. Und natürlich hält diese
heutige Generation der 20jährigen die neue Lage für
genauso selbstverständlich wie wir damals die Teilung
empfunden haben, weil wir nichts anderes kennengelernt hatten. Aber
die Wahrheit ist, dass weder die Teilung normal war noch die
Wiederherstellung der Einheit selbstverständlich, und dass
dies auch nicht wie ein Naturereignis über dieses Land
gekommen ist, sondern als Ergebnis eines bemerkenswerten
Engagements von vielen, in der Mehrzahl unbekannten Frauen und
Männern, übrigens auch nicht nur in Deutschland, sondern
auch bei unseren Nachbarn, die sich geweigert haben, diesen
scheinbar normalen, aber zutiefst unnormalen Zustand als letztes
Wort der Geschichte hinzunehmen.
Manche von Ihnen mögen verfolgt haben, dass ich es mir in
meiner Amtszeit als Parlamentspräsident zur ganz
selbstverständlichen Gewohnheit gemacht habe, auch und gerade
an die herausragenden jüngeren Ereignisse der deutschen
Geschichte in Gedenkveranstaltungen im Plenarsaal des Deutschen
Bundestages zu erinnern. Und dass wir in diesem Zusammenhang auch
ein Datum wieder ins öffentliche Bewusstsein gehoben haben,
das sowohl in der ostdeutschen wie in der westdeutschen
jüngeren Geschichte schon dem allgemeinen Vergessen anheim
gegeben war, nämlich den 17. Juni 1953.
Für mich persönlich beginnt die Geschichte der
Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas am 17. Juni
1953. Denn an diesem Tag beginnt die Auflehnung gegen den Zustand,
der damals in Deutschland bestand.
Weil diese Gedenkstätte die verdienstvolle Aufgabe
übernommen hat, insbesondere nachfolgenden Generationen von
Entwicklungen zu berichten, die sie nicht erlebt haben, die sie nie
erleben mussten: Es gehört zu diesem Prozess des
wechselseitigen Erinnerns und Verdeutlichens von selber nicht
gemachten, aber politisch hoch bedeutsamen Erfahrungen,
gelegentlich daran zu erinnern, dass die Überwindung der
Diktaturen in Deutschland und in Mittel- und Osteuropa durch eine
Serie von Niederlagen zustande gekommen ist, an deren Ende nur
deswegen der Triumph der Freiheit stehen konnte, weil die Menschen
nicht bereit waren, die Niederlagen als die abschließende
Antwort der Geschichte zu akzeptieren.
1953 hier in Berlin und in anderen Städten der damaligen
DDR, 1956 in Budapest, 1958 in Prag, 1980 in Polen - alles
niedergeschlagene Aufstände, alle mit militärischer
Gewalt niedergeknüppelt. Und wenn die einen wie die anderen
bzw. die einen oder die anderen resigniert hätten und diesen
Zustand, wenn schon nicht für normal, so dann doch wenigstens
für unabänderlich gehalten hätten, bestünde er
vermutlich noch heute. Jedenfalls, das sage ich in die
Gewissenserforschung der Westdeutschen hinein, hätte die
tapfere Aufrechterhaltung des politischen Anspruchs und des
Völkerrechtsanspruchs, das deutsche Volk in einem Staat wieder
zusammenzuführen, alleine die Einheit nicht
herbeigeführt, wenn die Menschen, denen die Freiheit
verweigert war, diese Freiheit nicht zurückerkämpft
hätten.
Das eine war ohne das andere nicht zu haben. Denn es hätte
auch dieser tapfere Kampf nichts geholfen, wenn die
Rechtsansprüche in der Zwischenzeit aufgegeben gewesen
wären, um die sich viele von Ihnen mit verzweifelter Wut
bemüht haben. Und deswegen glaube ich, haben wir uns am 20.
Geburtstag der Deutschen Einheit nicht wechselseitig Aufrechnungen
zu machen, sondern im Gegenteil, den jeweiligen -sehr
unterschiedlichen, aber jeweils unverzichtbaren - Beitrag zu dieser
glücklichsten Wende, die es in der jüngeren deutschen
Geschichte je gegeben hat, zu würdigen.
Ich hatte zu Beginn gesagt, ich bis deswegen gerne gekommen,
weil ich neben einem offiziellen Amt auch eine private Wahrnehmung
der eigenen Biographie im Kontext einer schwierigen deutschen
Geschichte habe. Als ich zum ersten mal dieses Gefängnis in
Hohenschönhausen besucht habe, da ist mir - wie vermutlich
vielen Tausend Besuchern vorher und hinterher auch - der
prinzipielle Unterschied bewusst geworden, der darin besteht, ob
man ein Gefängnis als Besucher oder als Häftling betritt.
Und so banal sich dieser Unterschied anhört, so wenig
selbstverständlich ist er offenkundig im Bewusstsein
vorhanden. Aber dass wir solche authentische Stätten der
Erinnerung brauchen, das macht alleine schon die erstaunliche
Debatte deutlich, die es immer noch über die Frage gibt, ob
die DDR ein Unrechtsstaat war. Wer jemals in Hohenschönhausen
war, auch als Besucher, für den hat sich diese Frage
beantwortet.
Ein Staat, in dem es weder eine freie Presse gibt noch eine
legale Opposition, in dem Wahlen nicht stattfinden oder ihre
Ergebnisse vorher feststehen und in einer eher transparenten als
unübersichtlichen Weise dem nur mäßig erstaunten
Volk präsentiert werden, in dem nicht nur
Gesinnungsschnüffelei sondern Gesinnungsterror stattfindet und
exekutiert wird: einen Staat, der seinem terminologischen
Selbstverständnis zum Trotz sich zwar "Deutsche Demokratische
Republik" nennt, aber zu keinem Zeitpunkt auch nur die Absicht
hatte, seine Bürger darüber befinden zu lassen, von wem
sie regiert werden wollen, einen solchen Staat mag man nennen wie
man will, dass es ein Unrechtsstaat ist, liegt offen zutage. "Nennt
es, wie ihr wollt", hat Richard Schröder dazu gesagt, "aber
vergesst nicht, wie es war." Nicht zu vergessen, wie es war: das
ist die wichtige Aufgabe der Gedenkstätte
Hohenschönhausen.
Christa Wolf hat, wie viele von Ihnen wissen, ein Tagebuch
geschrieben, das zunächst nur für einen kurzen Zeitraum
geplant war und die Erlebnisse eines Tages schildern sollte, das
sie dann aber bis zum Jahre 2000 fortgesetzt hat. Sie beginnt ihre
Aufzeichnungen heute auf den Tag genau vor 50 Jahren, am 27.
September 1960. Ich will zwei kurze Zitate aus diesem Tagebuch
vortragen, die für mich den Prozess sowohl des Bewusstwerdens
wie des Selbsttäuschens verdeutlichen, der unter den
geschilderten Bedingungen eines im technischen Sinne nahezu perfekt
organisierten Unrechtsstaat geherrscht hat. Am 27. September 1961
schreibt sie in ihrem Tagebuch: "Ins Gespräch kommt
überraschenderweise die Frage, was uns eigentlich, ganz
konkret, in der DDR hielt (und hält), da so viele weggingen.
(…) Im Negativen sofort zu beantworten: man weiß, was
‚drüben‘ gespielt wird, und daß man da nicht
hingehört. Im Positiven: Daß hier bei uns die
Bedingungen zum Menschwerden wachsen. Theoretisch ganz klar.
Praktisch: wachsen sie wirklich?"("Ein Tag im Jahr", S. 34 f.) Das
war ein paar Wochen nach dem Mauerbau und wenn man die Frage nicht
für zynisch halten will, hatte sie sich zu dem Zeitpunkt
eigentlich längst beantwortet. Und am 27. September 1989
schreibt sie in ihr Tagebuch: "Wir nannten es Kommunismus.
(…) Uns ist bewußt, daß der Staat, in den wir
hineingewachsen sind und der jetzt in seiner tiefsten Krise steckt,
seine Legitimation aus abstrakten Zielen genommen hat; aus einer
Theorie, der er die Wirklichkeit anpassen wollte." (Ebd., S. 441
und 450f.) Sechs Wochen später war die Mauer gefallen und die
Wirklichkeit hatte endgültig die Theorie wiederlegt.
Natürlich ist der 20. Jahrestag des Endes von
Hohenschönhausen, der 20. Jahrestag der Wiederherstellung der
Einheit eines Landes unter den Bedingungen einer demokratischen
Verfassung mit all den Strukturelementen, die uns für ein
demokratisches politisches System unverzichtbar und insofern
selbstverständlich vorkommen, ein Tag der Freude. Aber ich
verstehe gut, dass er für manche - und vor allem für
manche von Ihnen - nicht nur mit Gefühlen des Dankes und der
Erleichterung, sondern auch mit manchen Gefühlen der Bitternis
verbunden ist. Und es fällt mir auch nicht schwer
nachzuvollziehen, dass sich diese gelegentlich auch auf die
Prinzipien und Mechanismen und Verfahren und damit verbundenen
Entscheidungen eines Rechtsstaates bezieht, bei dem zwischen dem,
was gültiges Recht ist und dem, was dem eigenen
Gerechtigkeitsempfinden entspricht, gelegentlich eine empfindliche
Diskrepanz besteht. Ich habe in meiner Rede zum Nationalfeiertag
2007 in Schwerin schon öffentlich die Frage gestellt, ob der
Eindruck völlig unberechtigt sei, dass das neue, das vereinte
Deutschland, die demokratische Republik gegenüber den Opfern
des Unrechts weniger Großzügigkeit aufgebracht hat als
gegenüber den Tätern. Man muss auf diese Frage nicht eine
rundum überzeugende Antwort haben, ich jedenfalls habe keine
rundum überzeugende Antwort. Aber die Frage wird man stellen
dürfen und müssen, und ich glaube, wir sind das auch all
den Frauen und Männern schuldig, die in ihrer
persönlichen Biographie den mit Abstand schwierigeren Teil der
deutschen Nachkriegsgeschichte hinter sich zu bringen hatten. Und
das darf auch und gerade an einem Tag des Feierns und der Freude
über die Wiederherstellung von Einigung und Recht und Freiheit
nicht verdrängt werden.
Und deswegen verbinde ich meinen Glückwunsch zu diesem
glücklichen Geburtstag mit dem ausdrücklichen Dank und
Respekt für all diejenigen von Ihnen, die mit einem
bewundernswerten Einsatz sich der Pflege dieser Erinnerung widmen,
dem völlig unverzichtbaren Bemühen, einer Generation, die
jetzt in Deutschland unter bislang beispiellos günstigen
Verhältnissen groß wird, zu vermitteln, dass fast nichts
von dem, was sie für selbstverständlich halten,
tatsächlich selbstverständlich war.