Navigationspfad: Startseite > Dokumente & Recherche > Protokolle > Vorläufige Plenarprotokolle > Vorläufiges Protokoll der 91. Sitzung vom 11. Februar 2011
91. Sitzung
Berlin, Freitag, den 11. Februar 2011
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die in der weiteren Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksachen 17/3404, 17/3958, 17/3982, 17/4032, 17/4058, 17/4095, 17/4303, 17/4304, 17/4719 -
ZP 9 Vereinbarte Debatte
zur Lage von SGB-Leistungsempfängern und ihrer Kinder
ZP 10 a) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes
- Drucksache 17/3481 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss)
- Drucksache 17/4710, 17/4739 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Dr. Carsten Sieling
Frank Schäffler
Harald Koch
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Carsten Sieling, Manfred Zöllmer, Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gesamtkonzept zur Stärkung des Verbraucherschutzes bei Finanzdienstleistungen vorlegen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Sahra Wagenknecht, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Beschäftigtenrechte bei Übernahmen und Fusionen stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherschutz auf Finanzmärkten nachholen
- Drucksachen 17/2136, 17/3540, 17/3210, 17/4710, 17/4739 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Dr. Carsten Sieling
Frank Schäffler
Harald Koch
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das auch so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksachen 17/3404, 17/3958, 17/3982, 17/4032, 17/4058, 17/4095, 17/4303, 17/4304, 17/4719 -
Der Berichterstatter im Bundestag, der Abgeordnete Thomas Oppermann, wünscht nicht das Wort zur Berichterstattung. Mit einer schriftlichen Erklärung macht er aber auf vier von Bund und Ländern abgegebene Protokollerklärungen aufmerksam. Diese Erklärung und die Protokollerklärungen nehmen wir zu Protokoll. Ferner liegt auch eine schriftliche Erklärung der Fraktion Die Linke nach § 90 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung vor.
Wir kommen gleich zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/4719.
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Wir können leider immer noch nicht beginnen, weil hier vorne zwei Schriftführer fehlen.
Jetzt sind alle Schriftführer an ihren vorgesehenen Plätzen. Ich eröffne die Abstimmung.
Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir setzen die Beratungen fort. Dazu bitte ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie Ihre Plätze einnehmen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Vereinbarte Debatte
zur Lage von SGB-Leistungsempfängern und ihrer Kinder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Ministerin von der Leyen das Wort.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einem Jahr hat uns das Bundesverfassungsgericht den Auftrag zur Neuordnung der Regelsätze gegeben. Vor zwei Monaten hat der Bundestag zugestimmt. Sieben Wochen haben wir im Vermittlungsverfahren darüber verhandelt, einen politischen Konsens herzustellen. Diesen haben wir heute leider noch nicht erreicht. Das bedauere ich, weil die Verhandlungen auch von gegenseitiger Achtung getragen waren. Aber unter dem Strich zählt, dass wir im Interesse der betroffenen Menschen so schnell wie möglich eine Lösung in dieser Sache finden.
Ich weiß, dass wir im Bundestag eine Mehrheit haben, aber im Bundesrat nicht. Dennoch lohnt es sich, das Angebot öffentlich zu diskutieren.
Ich glaube, diese Zäsur ist heute notwendig, damit die endlose Forderungsspirale der letzten sieben Wochen einmal bilanziert wird.
Das ist ein gutes Angebot. Das ist ein Angebot, das nachhaltig ist, und ich glaube, das sollte auch anerkannt werden.
Im Gesetz geht es um zwei zentrale Fragen: die Bargeldleistung im Regelsatz und das Bildungspaket. Wir wissen doch alle, dass die Kinder von Hartz-IV-Empfängern oder die in Sozialhilfe eher ausgegrenzt und abgehängt werden als Gleichaltrige, nicht weil ihre Eltern sich nicht kümmern, sondern weil ihre Eltern selber mit sozialer Isolation zu kämpfen haben. Je häufiger die Kinder in der Schule oder im Freundeskreis die Erfahrung des Scheiterns machen, desto tiefer gräbt sich das Gefühl der eigenen Unfähigkeit und Hilflosigkeit ein.
Das Bildungspaket folgt deshalb der Einsicht, dass diesen Kindern mit konkreten Hilfen mehr geholfen wird als mit direkten Zahlungen an die Eltern. Im Hinblick auf diese grundlegende sozialpolitische Einsicht sind wir uns doch einig.
Es geht konkret um eine warme Mahlzeit in den Schulen und Kindergärten. Wir sind uns einig, dass die Finanzierung des Mittagessens auf die Hortkinder ausgeweitet wird. Es geht konkret um die individuelle Förderung beim Lernen und um die Chance, bei Sport und Musik - wo auch immer die Interessen liegen - mitzumachen. Wir sind uns einig, dass die 160 000 Kinder von Wohngeldbeziehern mit dabei sein sollen. Wir sind uns einig, dass die Kommunen das organisieren sollen. Wir sind uns einig, dass die Kommunen dadurch keine zusätzlichen finanziellen Lasten haben sollen, sondern dass ihnen die Kosten des Bildungspaketes ersetzt werden sollen. Wir sind uns in diesen ganzen Punkten einig.
Damit die Kommunen wirklich die Gestaltungsfreiheit haben, ihre Aufgaben für alle Familien und alle Kinder wahrzunehmen, übernimmt der Bund bedingungslos die Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.
Das heißt in Zahlen: Bis 2015 gehen rund 20 Milliarden Euro vom Bund an die Länder und Kommunen. Bis 2020 gehen rund 54 Milliarden Euro vom Bund an die Kommunen.
Meine Damen und Herren, wir sind uns also in fünf zentralen Fragen des Bildungspaketes einig. Sofort 5 Milliarden Euro mehr für Kinder und Kommunen: Das ist ein nachhaltiges Angebot; mehr geht nicht. Wer das ausschlägt, der muss sich vorwerfen lassen, dass er aus Prinzip keine Einigung will.
Ich glaube, dass wir uns auch beim Regelsatz in der zentralen Frage einig sind, auch wenn das in den letzten Tagen sicher nicht deutlich geworden ist.
- Ich werde es Ihnen gleich erklären.
Es geht darum, einen nachvollziehbaren, verfassungsfest begründeten Berechnungsweg vorzulegen. Das haben wir von der Regierung getan.
Die Verhandlungsführung der SPD hat das auch getan. Nur hat die Verhandlungsführung der anderen Seite im Laufe der Verhandlungen nicht eine Methode zur Berechnung vorgelegt, sondern verschiedene, die sich auch noch widersprechen:
Mal waren die Aufstocker drin, mal waren sie draußen; mal wurde die Referenzgruppe auf 20 Prozent erweitert, mal nicht. Mit anderen Worten: Jedes einzelne Element der Berechnung der Bundesregierung findet sich genauso auch in den Vorschlägen der SPD wieder. Also können weder die einzelnen Elemente noch die Summe der Elemente falsch oder gar verfassungswidrig sein.
Sie mögen ein anderes Ziel als wir verfolgen: Sie wollen den Hartz-IV-Satz weiter erhöhen; Sie kämpfen um Mehrausgaben in Bund und Kommunen. Das ist Ihr Recht; aber das löst doch nicht die Probleme der Arbeitslosen. Mir scheint hier ein weiteres Argument wichtig: Wenn Sie heute im Bundesrat dem Gesetz in Gänze nicht zustimmen sollten, dann verweigern Sie den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern die Erhöhung und das Bildungspaket mit seiner nachhaltigen Finanzierung.
Das kann nicht im Sinne der Betroffenen sein. Ermöglichen Sie den Kindern das Bildungspaket! Sie haben heute die Chance dazu.
Sie können politisch um Mehrheiten werben, wenn Sie wirklich glauben, dass es besser wäre, wenn die Hartz-IV-Sätze weiter erhöht würden. Aber wir von der Bundesregierung wollen unsere Kraft, unsere Energie und das Geld der Bürgerinnen und Bürger dafür verwenden, dass diese Menschen schneller wieder in Arbeit kommen.
Wir wollen nicht Passivität und Abhängigkeit fortschreiben, sondern die Voraussetzungen für faire Arbeit schaffen und da, wo sie sich bieten, Chancen eröffnen. Vor allen Dingen wollen wir für die Kinder den Teufelskreis der vererbten Armut durchbrechen.
Zusammenfassend möchte ich festhalten: Alles, was wir vorgelegt haben, auch die Mindestlöhne für den Bereich der Zeitarbeit, für das Wach- und Sicherheitsgewerbe und für die Weiterbildungsbranche, fordern auch Sie. Sie wollen nur mehr. Für dieses Mehr gibt es heute aber keine politischen Mehrheiten.
Wenn Sie das Gute, das Gemeinsame ablehnen, dann ist das aus meiner Sicht Blockade, die sich in diesem Fall nicht lohnt.
Wir sind Ihnen in den Verhandlungen weit entgegengekommen. Wir könnten den Kommunen 5 Milliarden Euro im Jahr mehr geben.
Wir haben das Bildungspaket signifikant erweitert, um 350 Millionen Euro. Das ist zwar teuer,
aber das ist gut investiertes Geld, weil es die Kommunen entlastet und die Chancen der Kinder verbessert.
Alle diese Verbesserungen stehen heute auf dem Spiel. Deshalb bitte ich Sie, nicht das Maximale zu fordern. Machen Sie das, was heute möglich ist! Beschreiten Sie den Weg, den wir gemeinsam gefunden haben! Die Hartz-IV-Empfänger im Land, insbesondere die Kinder, werden es Ihnen danken und wir selbstverständlich auch.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Manuela Schwesig, Ministerin des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
Manuela Schwesig, Ministerin (Mecklenburg-Vorpommern):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Vor genau einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht der Politik den Auftrag erteilt, die Weichen in der Sozialpolitik neu zu stellen.
Es geht im Kern um unseren Sozialstaat. Es geht um die Menschenwürde. Es geht um ein menschenwürdiges Existenzminimum für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Das heißt für uns, dass drei Dinge erfüllt sein müssen:
Erstens: Bildungschancen für Kinder und Jugendliche - unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.
Zweitens. Menschen, die arbeiten, müssen von ihrer Arbeit leben können. Deswegen sind Mindestlöhne in diesem Zusammenhang wichtig.
Drittens. Wer keine Arbeit hat oder nicht arbeiten kann, der muss von einer solidarischen Gemeinschaft fair unterstützt werden. Es geht nicht um Almosen oder spätrömische Dekadenz.
Es geht um einen Rechtsanspruch für alle Menschen in diesem Land.
Dieses Urteil ist eine große Chance, gemeinsam etwas Gutes und Großes auf den Weg zu bringen.
Dieses Urteil verlangt große Antworten bei den Themen Bildung, Mindestlohn und faire Regelsätze. Aber, Frau Bundesministerin, die Antworten, die Sie gegeben haben, sind Klein-Klein; sie sind genau das Gegenteil davon.
Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land ärgern sich zu Recht
und fragen sich, warum wir das nicht gemeinsam hinbekommen. Frau von der Leyen, Sie haben zehn Monate gebraucht, um überhaupt einen Entwurf auf den Tisch zu legen.
Seit Mai 2010 wissen Sie, dass Sie unsere Stimmen im Bundesrat brauchen. Trotzdem haben Sie viel Zeit mit einer Chipkartenshow verplempert, anstatt sich wirklich um die Sache zu kümmern. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass heute kein guter Gesetzentwurf auf dem Tisch liegt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ahrendt von der FDP-Fraktion.
Manuela Schwesig, Ministerin (Mecklenburg-Vorpommern):
Selbstverständlich.
Christian Ahrendt (FDP):
Frau Ministerin Schwesig, bei Ihrer Rede mag man geneigt sein, zu sagen: Die Worte höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.
Sie sind Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern. Dort befinden sich 95 Prozent aller Kinder unter sechs Jahren in einer Kindertageseinrichtung; das ist eine stolze Zahl. Und trotzdem - Sie tragen als SPD seit 1998 Verantwortung im Land -: Mecklenburg-Vorpommern ist das Land mit der höchsten Zahl von jungen Menschen, die die Schule ohne Schulabschluss verlassen, 14 Prozent. Finden Sie nicht, dass Sie Ihren Reden auch einmal Taten folgen lassen sollten?
Manuela Schwesig, Ministerin (Mecklenburg-Vorpommern):
Herr Ahrendt, Sie wollten eine Frage stellen; die habe ich nicht gehört.
Aber ich sage Ihnen eines: Herr Ahrendt, Sie haben recht: 98 Prozent der Kinder in Mecklenburg-Vorpommern gehen in eine Kita. Diese Kinder bekommen schon lange ein kostenfreies Mittagessen, wenn sie arme Kinder sind. Das, was Sie auf den Weg bringen wollen, haben unsere Kinder in MV schon längst. Deswegen weiß ich, wovon ich rede.
Herr Ahrendt, wenn Ihr Generalsekretär heute sagt,
die Koalition hätte nicht die richtige Verhandlungsführung gehabt, dann frage ich Sie: Wo war denn Ihre Verhandlungsführung? Sie hatten gar keine. Die einzige Strategie, die die FDP hatte, war: Blockade, Blockade, Blockade. Sie hat gesagt: Wir wollen keine Schulsozialarbeiter.
Wenn Sie über Bildung reden, dann erklären Sie uns, warum Sie dagegen sind, dass wir 5 000 Schulsozialarbeiter in den sozialen Brennpunkten einsetzen, um endlich Jugendliche zu fördern.
Das wäre der richtige Weg. Das blockieren Sie aber.
Sie blockieren außerdem einen fairen Regelsatz. Sie haben diese ganzen Verhandlungen blockiert. Die Kanzlerin ist vor Ihnen eingeknickt und hat der Arbeitsministerin den Auftrag gegeben, die Verhandlungen abzubrechen. Das ist unverantwortlich. Sie haben Regierungsverantwortung.
- Herr Kauder, wenn Sie mehr erwarten, dann sprechen Sie doch mit dem CDU-Bildungsminister in Mecklenburg-Vorpommern.
Es muss Schluss sein mit den Schuldzuweisungen. Heute ist der Tag der Verantwortung und der Vernunft.
Und deswegen - wir wollen weiter verhandeln -: Kommen Sie zurück an den Verhandlungstisch!
Wir werden heute mit Kurt Beck im Bundesrat den Antrag stellen, weiter zu verhandeln. Ich fordere Sie auf: Verhandeln Sie weiter! Wir waren nahe dran an einem guten Ergebnis. Sie haben die Verhandlungen abgebrochen. Kommen Sie zurück an den Verhandlungstisch, damit wir den 2 Millionen Kindern, die in Armut leben, helfen mit guten Vorschlägen, die wir auf den Tisch gelegt haben!
Wenn Sie behaupten, wir hätten die Verhandlungen mit dem Mindestlohn überfrachtet, dann will ich Ihnen mal eines erklären: Mindestlohn und gleicher Lohn für gleiche Arbeit sind der Kern der Antwort auf die Probleme in unserem Land. Es kann doch nicht sein, dass die Menschen arbeiten gehen und am Ende zum Sozialamt gehen müssen, um sich Sozialleistungen abzuholen. 11 Milliarden Euro bezahlen wir dafür.
Deswegen brauchen wir Mindestlöhne und gleichen Lohn für gleiche Arbeit, damit die Menschen, die arbeiten, aus der Hartz-IV-Falle herauskommen und einen fairen Lohn beziehen und damit überleben können.
Denn ja: Arbeit muss sich lohnen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Antwort gegeben. Arbeit muss sich lohnen, aber nicht, indem man Sozialleistungen herunterschraubt, sondern indem man faire Löhne, Mindestlöhne bezahlt.
Frau von der Leyen, es reicht nicht, für Frauen in DAX-Vorständen zu kämpfen. In dieser Woche sind Sie den Frauen in den Rücken gefallen, weil Sie nicht die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit unterstützen.
Es geht um die Verkäuferin, um die Kassiererin und um die Kellnerin, die unsere Unterstützung brauchen, und zwar jetzt und sofort. Es ist peinlich genug, dass die Kanzlerin Sie bei der Quote abserviert hat. Aber es ist eine Schande, dass Sie diesen vielen Frauen in Deutschland in den Rücken fallen.
Beim Thema Bildung war es uns wichtig, die Eltern zu unterstützen, die arbeiten und am Ende auch nicht viel mehr haben als andere. Deswegen ist es richtig, dass wir das Bildungspaket auf Geringverdiener ausweiten. Es ist richtig, dass wir das Bildungspaket bei den Kommunen andocken, damit Kitas, Ganztagsschulen und Vereine das Geld bekommen. Es ist schwierig; denn von sieben Wochen Verhandlungen brauchten wir fünf, um Sie von dieser logischen Konsequenz zu überzeugen. Sie haben fünf Wochen gebraucht, um aufzuwachen.
Lassen Sie uns die Vorschläge zu den Themen Mindestlohn und Schulsozialarbeit verbessern! Sorgen Sie dafür, dass Sie Ihr Versprechen halten!
Wir sind gemeinsam vor die Öffentlichkeit getreten und haben gesagt: Wir wollen, dass das Bildungspaket an die Kommunen geht und dass die Kommunen dafür Istkosten bekommen. Der Vorschlag, der auf dem Tisch liegt, enthält keine Istkosten.
Die Kommunen werden von Ihnen über den Tisch gezogen, wie Sie es schon bei Ihrer Steuerpolitik gemacht haben. Das wird es mit uns nicht geben, weil die Bürger vor Ort die Zeche dafür zahlen müssten.
Nehmen Sie die Regierungsverantwortung ernst! Kommen Sie zurück zum Verhandlungstisch! Es geht darum, dass wir für 6 Millionen Menschen, für 2 Millionen Kinder, die in Kinderarmut aufwachsen, eine Antwort geben.
Bildung, Mindestlohn und ein fairer Regelsatz sind Beiträge zur Bekämpfung der Kinderarmut. Machen Sie mit! Kommen Sie zurück! Übernehmen Sie Regierungsverantwortung, wie es sich für einen vernünftigen Laden - zurzeit sind Sie keiner - gehört. Wir stehen zu unserer Verantwortung. Wir wollen ein gutes Ergebnis, aber keine faulen Kompromisse. Die müssen Sie schon alleine machen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort für die FDP-Fraktion hat nun Kollege Heinrich Kolb.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Schwesig, das, was Sie hier abgeliefert haben, ist aus unserer Sicht vollkommen inakzeptabel.
Sie sagen: ?Es darf keine gegenseitigen Schuldzuweisungen geben? und wollen sich dann hier als Vertreterin der Anklage profilieren. So geht es nicht! Wir haben eine gemeinsame Verantwortung.
Sie haben in diesem Zusammenhang eine besondere Verantwortung, weil Sie damals federführend als rot-grüne Bundesregierung gemeinsam mit uns dieses Gesetz beschlossen haben, das heute nachgebessert werden muss. So geht es nicht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Sonst immer gerne, aber ich habe ja noch gar nichts gesagt.
Ich möchte noch ein bisschen ausführen. Dann komme ich gerne darauf zurück.
Ich möchte zu den Punkten, die die Ministerin genannt hat, Regelsatz, Bildungspaket, Mindestlöhne, etwas sagen. Frau Ministerin Schwesig, Sie haben hier gesagt, Sie wollen einen fairen Regelsatz. Ich habe Ihre Rede aufmerksam verfolgt. Sie haben mit keinem Wort dargelegt, dass der von uns errechnete Regelsatz, die Erhöhung um 5 Euro, falsch wäre. Ich schließe also aus Ihrer Rede, dass der Regelsatz, wie er von uns vorgelegt wurde, in Ordnung ist. Das sollten Sie dann hier auch akzeptieren.
Sie sagen: Es geht uns um die Bildungschancen von Kindern. - Dazu kann ich nur sagen: Späte Erkenntnis. In dem Gesetz, das Rot-Grün damals beschlossen hat, war von Bildungschancen überhaupt keine Rede.
Sie hatten vollkommen vergessen, dass es hier einen Bedarf geben könnte.
Was Sie machen, ist unlauter. Wir wollen heute gemeinsam mit Ihnen im Wege der Nachbesserung beschließen, dass Kinder aus Hartz-IV-Familien ebenso wie Kinder aus Familien, die Wohngeld oder Kinderzuschlag erhalten, also alle Kinder in Familien mit niedrigen Einkommen, künftig einen fairen Zugang zu Bildungschancen haben.
Das wollen wir. Sie verhindern das, wenn Sie sich heute der Zustimmung zu unserem Paket verweigern.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege Kolb, gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage des Kollegen Heil?
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Nein, ich werde erst alle drei Punkte vortragen, dann kann Herr Heil am Schluss gerne nachfragen.
Sie wissen, dass ich nicht vor Zwischenfragen kneife, aber heute Morgen möchte ich erst diese drei Punkte benennen.
Ich halte fest: Der Regelsatz, wie er von uns vorgelegt wurde, ist offensichtlich in Ordnung, Frau Schwesig.
Die Bildungschancen hatten Sie vollkommen vergessen; wir stellen Bildungschancen für Kinder aus Familien mit niedrigen Einkommen her.
Dann sind wir beim dritten Punkt - da wollen Sie sich in den Verhandlungen mächtig inszenieren -: Mindestlöhne. Sie sagen, bei diesem Thema hätten sich die FDP und die Koalition nicht bewegt. Ich will Ihnen sagen: Wir haben uns in diesem Zusammenhang erheblich bewegt.
- Ich rede über Mindestlöhne, Herr Heil.
Wir bieten Ihnen an, im Bereich der Zeitarbeit, in dem es schon heute einen fast flächendeckenden tariflichen Mindestlohn gibt,
zusätzliche Regelungen einzuführen, die sicherstellen, dass durch die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 keine Konkurrenz durch ausländische Tarifverträge im Bereich der deutschen Zeitarbeit entstehen kann; das haben wir Ihnen angeboten. Darüber hinaus sind wir bereit, Ihnen auf zwei weiteren Feldern entgegenzukommen - das fällt uns nicht leicht; aber wir tun es, damit es einen Kompromiss geben kann -: bei der Aus- und Weiterbildung sowie im Wach- und Sicherheitsgewerbe. Hier haben wir uns, wie ich denke, erheblich bewegt. Das, was Sie gefordert haben, ist sichergestellt: dass ein bestimmtes Lohnniveau existiert. In der Zeitarbeit - ich wiederhole es - ist das ohnehin schon der Fall.
Was Sie machen, ist Folgendes: Sie betreiben im Deutschen Bundestag und im Bundesrat eine Blockadepolitik, so wie es Lafontaine 1997/1998 getan hat. Das ist verantwortungslos.
Es ist verantwortungslos, so zu handeln. Es ist verantwortungslos gegenüber den Menschen, die auf eine Erhöhung der Regelsätze warten.
Es ist verantwortungslos gegenüber den Kindern aus Hartz-IV-Familien, die einen Anspruch haben, gefördert zu werden: bei der Ausstattung mit Lernmitteln, beim Zugang zu Fördermaßnahmen, wenn im Einzelfall Defizite auftreten, und bei der Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen und dem Mittagessen in der Schule, also bei der Integration in die Gemeinschaft. Es geht auch darum, diesen Kindern soziokulturelle Teilhabe zu ermöglichen. All das wollen wir. Durch die sture Blockadepolitik, die Sie betreiben,
verhindern Sie, dass all dies am heutigen Tage Gesetz werden kann. Das halte ich für unverantwortlich.
Ihnen geht es letztlich darum, über den Bundesrat und über den Vermittlungsausschuss Einfluss auf die Grundlinien der deutschen Politik zu nehmen.
- Wir haben eine Linie: eine Linie, die dazu geführt hat, dass wir in Deutschland aktuell ein wahres Beschäftigungswunder erleben, um das uns das Ausland beneidet.
Deutschland ist schneller als alle anderen Staaten durch die Krise gekommen.
Wir wollen diese gute Politik fortsetzen. Wir werden uns aber nicht von Ihnen dazu verführen lassen, grenzenlos und ausufernd zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Das wäre unverantwortlich. Wir wollen Konsolidierung, wir wollen Wachstum, und wir wollen Beschäftigungschancen für die Menschen in diesem Land.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Hubertus Heil.
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kolb, ich will Ihnen sagen: Wer keinen Mut hat, Zwischenfragen zuzulassen, der muss mit einer Kurzintervention rechnen.
Ich fange mit dem, was Sie zum Schluss gesagt haben, an. Sie führten aus, wie Deutschland durch die Krise gekommen ist und warum die Situation am deutschen Arbeitsmarkt besser ist als in anderen Ländern. Herr Kolb, das hat mit Ihnen gar nichts zu tun.
Sie haben gegen jede Maßnahme gestimmt, die wir ergriffen haben, um Deutschland besser durch die Krise zu führen. Sie haben gegen Olaf Scholz und Peer Steinbrück agitiert, die zusammen mit Frank-Walter Steinmeier die Erfinder der Konjunkturpakete und der Kurzarbeit waren. Die FDP war die Dagegen-Partei, Herr Kolb.
Zweitens, Herr Kolb. Sie haben vorhin wahrheitswidrig behauptet, mit den Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung seien keine Maßnahmen im Bildungsbereich verbunden gewesen. Herr Kolb, das stimmt nicht. Wir haben damals ein Bildungspaket auf den Weg gebracht und 4 Milliarden Euro in Ganztagsschulen investiert. Auch da waren Sie dagegen.
Jetzt komme ich zum zentralen Punkt, Herr Kolb. Sie persönlich müssen sich fragen, welche Verantwortung Sie dafür haben, dass die schwarz-gelbe Seite die Verhandlungen am vergangenen Donnerstag vorerst abgebrochen hat.
Sie waren es, der sich, als es um die Zeit- und Leiharbeit und um Mindestlöhne ging, einen zweifelhaften Spitznamen verdient hat.
Wissen Sie, wie Sie bei uns mittlerweile genannt werden? Gromyko.
Sie saßen nämlich nur da und sagten im Stile eines sowjetischen Kremlministers immer wieder Nein bzw. Njet.
Sie waren es, der die ganze Regierung in Geiselhaft genommen und sich nicht bewegt hat.
Mit der CDU/CSU wären wir bei der Zeit- und Leiharbeit schon längst zu einer Lösung gekommen. Sie haben die Koalition festgenagelt. Sie haben Placebo-Mindestlöhne angeboten; das stimmt. Sie haben aber gesagt, die Koalition dürfe sich beim Thema ?Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit? und deren Bekämpfung nicht bewegen.
Die FDP war es, die die Koalition neun Monate festgenagelt hat. Sie verweigern den Menschen ein Leben nach dem Grundsatz ?Gleicher Lohn für gleiche Arbeit?.
Die FDP ist die Blockade- und Dagegen-Partei. Das ist die Wahrheit, Herr Kolb.
Wir wollen bessere Bildungschancen für Kinder. Wir brauchen einen fairen Regelsatz, der verfassungsfester ist als das, was Sie vorgelegt haben, und wir brauchen Fortschritte bei den Mindestlöhnen, die den Grundsatz ?Gleicher Lohn für gleiche Arbeit? berücksichtigen. Weil wir etwas für die Menschen herausholen wollen, wird Kurt Beck im Bundesrat das Angebot machen, weiter zu verhandeln. Ich sage Ihnen mit Herbert Wehner, Herr Kolb: Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen. - Sie sind rausgegangen. Kommen Sie wieder rein. Dann kommen wir auch zu Lösungen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollege Kolb, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Kollege Heil, ich habe Verständnis dafür, dass Sie sich im Wege der Kurzintervention an mich wenden. Schließlich haben Sie von Ihrer Fraktion keine Redezeit bekommen.
Zum Stichwort ?Gromyko?. Da, wo einem die Argumente ausgehen, fangen die Beleidigungen an. Ich stelle fest, Herr Kollege Heil: Ihnen sind die Argumente ausgegangen.
Sie sagen, wir seien die Dagegen-Partei. Ich halte dagegen:
Als wir in die Regierung eingetreten sind, sind wir mit dem, was Sie als Große Koalition beschlossen hatten, sehr verantwortungsvoll umgegangen. Wir haben die Kurzarbeitsregelung, die Sie auf den Weg gebracht hatten, verlängert, da wir dies in der vor einem Jahr noch bestehenden Krisensituation für angemessen und vertretbar hielten. Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir der Konjunktur einen zusätzlichen Anstoß gegeben.
Es hat doch einen Grund, dass das Wachstum in Deutschland im letzten Jahr mit 3,6 Prozent deutlich höher ausgefallen ist als in allen anderen EU-Staaten. Im Gegensatz zu anderen Regierungen hat diese Regierung gehandelt.
Da haben Sie sich verweigert. Da waren Sie die Dagegen-Partei. Sie haben nicht gesehen, dass es notwendig ist, eine aufkeimende Konjunktur zu wässern, damit sie gedeihen kann und damit Arbeitsplätze entstehen. Der Erfolg gibt uns recht; das will ich hier sehr deutlich sagen.
Zum Schluss: Sie bringen immer das Argument, wir seien beim Thema Zeitarbeit nicht dabei. Ich will dazu Folgendes sagen: Als Anfang letzten Jahres ein großes deutsches Einzelhandelsunternehmen mit Praktiken auf dem Markt versuchte, Stammbelegschaften durch Zeitarbeiter zu ersetzen, waren es der Kollege Schiewerling und ich von der Koalition, die sofort gesagt haben: Das werden wir nicht mittragen. Dem schieben wir einen Riegel davor.
Als Sie sich noch mit dem Thema ?Mindestlöhne in der Zeitarbeitsbranche? beschäftigt haben, war es die FDP, die gesagt hat, dass das wichtigere Thema die Frage des Equal Pay sei, also die Heranführung der Entlohnung von Zeitarbeitern an die von Stammbelegschaften.
Was uns allerdings unterscheidet - Sie von mir, Herr Heil, aber wahrscheinlich auch Ihre Fraktion von meiner Fraktion -, ist, dass wir die Zeitarbeit als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt nicht kaputtmachen wollen. Sie allerdings wären bereit gewesen, dies sehenden Auges in Kauf zu nehmen.
Diesbezüglich haben wir uns verweigert. Insofern haben Sie an der Stelle recht.
Insgesamt kann man sagen, dass wir sehr verantwortlich gehandelt haben. Die Koalition ist in diesen Verhandlungen geschlossen gewesen.
Sie hat gemeinsame Angebote unterbreitet und ist an die Grenze des finanziell Verantwortbaren gegangen. Es liegt ein sehr gutes Angebot auf Ihrem Tisch. Sie sollten sich überwinden, Ihr Herz über die Hürde werfen, und diesem Paket zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Dagmar Enkelmann für die Fraktion Die Linke.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das, was wir in den letzten Wochen im Vermittlungsausschuss erlebt haben, war ein unwürdiges Gefeilsche und Geschacher.
Das, was jetzt hier stattfindet, sind politische Schaukämpfe.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben offenkundig kalte Füße gekriegt. Sie wollen den Vermittlungsausschuss vor der Entscheidung im Bundesrat erneut anrufen. Sie stecken gemeinsam mit den Grünen nach wie vor in der Hartz-IV-Falle, und Sie sind nicht bereit, sich aus dieser Falle zu befreien.
Das Schlimme daran ist allerdings, dass das auf dem Rücken von Langzeitarbeitslosen, auf dem Rücken von Menschen, die für einen Hungerlohn arbeiten und auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sind, und auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen, die in Hartz-IV-Familien leben, ausgetragen wird. Das ist schäbig.
Es geht hier nicht um Sieg oder Niederlage, es geht auch nicht um Paragrafen. Es geht hier um 6,7 Millionen Menschen, um 2,5 Millionen Kinder. Wie Sie mit dem Schicksal dieser Menschen umgehen, ist eine Schande.
Haben Sie sich schon einmal mit Betroffenen unterhalten? Sie von der FDP haben das wahrscheinlich nicht getan; Sie sehen ja bei jedem Hartz-IV-Empfänger spätrömische Dekadenz. Sie von den Christlich-Sozialen und den Christdemokraten, haben Sie sich einmal mit Menschen unterhalten, die unter solchen Bedingungen leben müssen? - Ich habe bei Matthäus etwas Schönes gefunden:
Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt - das ist alles, was das Gesetz und die Propheten fordern.
Wollen Sie so behandelt werden, wie Sie Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger behandeln?
Wissen Sie, wie sich diejenigen fühlen, die zum Beispiel am Ende eines Quartals auf einen notwendigen Arztbesuch verzichten, weil sie die Praxisgebühr nicht zahlen können? Wissen Sie, wie sich diejenigen fühlen, die zum Beispiel wegen der Zuzahlung auf notwendige Arzneien verzichten? Wissen Sie, wie es einer Mutter geht - ich weiß nicht, ob Sie einmal ein Gespräch mit einer alleinerziehenden Mutter geführt haben -, die ihrem Kind nicht gestattet, zur Geburtstagsfeier des Klassenkameraden zu gehen, und zwar nicht, weil sie ihrem Kind das nicht gönnt, sondern weil sie die Sorge hat, dass daraus Erwartungen entstehen, ebenfalls eine solche Geburtstagsparty auszurichten, was im Budget aber nicht vorgesehen ist?
Erinnern wir uns: Das Bundesverfassungsgericht hat vor mehr als einem Jahr die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze für verfassungswidrig erklärt; das war eine schallende Ohrfeige für alle Hartz-IV-Parteien in diesem Parlament. Es hat dem Gesetzgeber den Auftrag gegeben, Transparenz herzustellen und für die Sicherung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu sorgen. Diese Aufgabe stand im Zentrum des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, und diese Aufgabe ist bis heute nicht erfüllt.
Ich behaupte, dass zu keinem Zeitpunkt wirklich gewollt war, eine verfassungskonforme Regelung zu finden. Gewollt war auch nicht, dass die Linke mit dabei ist. Das ist verständlich; denn die Linke war von Anfang an gegen Hartz IV. Sie hat gesagt: Das ist Armut per Gesetz. Dieses Gesetz ist verfassungswidrig. - Die Linke hat vom Verfassungsgericht recht bekommen.
Per Mehrheitsentscheidung im Vermittlungsausschuss hat man dann zunächst verhindert - und zwar Sie alle -, dass die Linke in der Arbeitsgruppe mitarbeiten darf.
Herr Altmaier, dank des Bundesverfassungsgerichts - mal wieder das Bundesverfassungsgericht - mussten Sie dann doch dem Grundgesetz Genüge tun; es hat Sie darauf aufmerksam gemacht. Die Linke war dann bis zum 19. Januar 2011 mit dabei.
Die Linke hat in der Arbeitsgruppe und in den Unterarbeitsgruppen mitgearbeitet, und wir haben Ihnen den Spiegel vors Gesicht gehalten. Wir haben massenhaft Material, Unterlagen und Forderungen in die Beratungen eingebracht. Darunter war unter anderem eine Berechnung des Statistischen Bundesamtes. Darin wurden die verdeckt Armen herausgerechnet und eine Referenzgruppe nicht der unteren 15 Prozent der Einkommen, wie Sie es wollten, sondern der unteren 20 Prozent der Einkommen gebildet. Allein bei dieser Berechnung kommt das Statistische Bundesamt auf einen Regelsatz von 392 Euro. Das ist deutlich mehr, als Sie von CDU/CSU und FDP anbieten, und übrigens auch deutlich mehr, als das, was die SPD anbietet. 11 Euro sind genauso ein Schlag ins Gesicht der Langzeitarbeitslosen.
Wir haben Ihnen eine Studie des Forschungsinstituts für Kinderernährung in Dortmund vorgelegt. Darin geht es um die Kosten einer gesunden Ernährung für Kinder und Jugendliche. Diese Studie kommt zu folgendem Ergebnis - ich zitiere, Herr Präsident -:
Bei den 10- bis 12-Jährigen reichen die Regelsätze nicht für eine mittlere körperliche Aktivität; ebenso wie für die 13- bis 14-Jährigen und die 15- bis 18-jährigen Jungen unabhängig vom Aktivitätsniveau.
Das heißt, das, was Sie als Regelsatz vereinbart haben, reicht nicht, um Kinder und Jugendliche gesund zu ernähren. Das ist ein Skandal.
Das war aber für Sie kein Thema in den Verhandlungen.
Die Linke hat Vorschläge eingebracht, wie man zu einem verfassungskonformen Regelsatz kommen kann. Wir haben vorgeschlagen, die Referenzgruppe von 15 Prozent auf 20 Prozent zu vergrößern und die Aufstocker und die verdeckt Armen herauszurechnen. Wir haben darauf hingewiesen, dass es notwendig ist, die Zusammensetzung des Regelsatzes generell zu prüfen. Teilhabe heißt zum Beispiel Mobilität. Das ist mit 18 Euro im Monat nicht zu machen.
Teilhabe heißt auch gesunde Ernährung. Ich finde, zur Teilhabe gehören auch Schnittblumen. Wenn ich auf einen Geburtstag eingeladen bin, nehme ich wenigstens einen Strauß Blumen mit. Das wollen Sie Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfängern untersagen. Richtig ist: Wenn man alles zusammengerechnet, dann kommt man auf einen Regelsatz von 500 Euro. Das ist eine Forderung der Linken.
Aber Sie waren nicht einmal bereit, darüber zu reden.
Kritik gibt es auch vom Behindertenbeauftragten der Bundesregierung. Auch das ist einmalig. Herr Hüppe hat die Kürzung des Regelsatzes bei behinderten nichterwerbstätigen Erwachsenen um 20 Prozent kritisiert. Es ist schlicht und ergreifend menschenunwürdig, ausgerechnet bei denen zu kürzen, die ohnehin schon in dieser Gesellschaft benachteiligt sind.
Die Linke hat in der Arbeitsgruppe und in den Unterarbeitsgruppen immer wieder gemahnt. Das hat Sie in Ihren Kungelrunden gestört. Deshalb haben Sie einen Trick angewendet: Sie haben aus der formellen Arbeitsgruppe eine informelle Arbeitsgruppe gemacht. Damit haben Sie die Linke aus den weiteren Verhandlungen in Ihren Kungelrunden herausgehalten.
Besonders verwerflich finde ich etwas, das in den ganzen Debatten keine Rolle gespielt hat. Das Verfassungsgericht hat gefordert, dass der Regelsatz für Kinder und ihr tatsächlicher Bedarf eigenständig berechnet werden müssen. Das Verfassungsgericht hat Ihnen Willkür vorgeworfen. Ein Kind ist nicht mit 60 Prozent eines Erwachsenen gleichzusetzen. Das haben Sie in den Verhandlungen völlig ignoriert.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
Ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident. Bei den anderen waren Sie etwas großzügiger, bei mir natürlich nicht. Das ist klar.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nein. Entschuldigen Sie, Frau Kollegin, ich habe die Uhr genau im Blick. Deswegen ist es unverschämt, so zu reagieren.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
Es ist mir klar, dass Sie da Beifall klatschen.
Die Linke ist vor die Tür gesetzt worden. Sie wird aber weiter an der Seite der Hartz-IV-Betroffenen kämpfen. Wir werden Sie weiter daran erinnern, was vom Verfassungsgericht vorgegeben wird.
Dieses Gesetz wird schneller beim Verfassungsgericht landen, als Sie es ahnen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin Enkelmann, ich will Ihnen kurz mitteilen: Sie hatten sieben Minuten Redezeit; Sie haben diese um anderthalb Minuten überschritten. So viel zu Ihrer Behauptung, ich wäre nicht großzügig genug.
Das Wort hat nun Kollegin Renate Künast von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, in der bisherigen Debatte hat man eines gemerkt, nämlich dass die Regierung noch nicht verstanden hat, was das Wesen eines Vermittlungsverfahrens in Deutschland ist.
Wenn man keine Mehrheit hat, gehört es zu einem Vermittlungsverfahren, auf die andere Seite zuzugehen und Mehrheiten zu bilden.
- Nein. Wer als Bundesregierung für seine Vorhaben und Vorlagen keine Mehrheit hat, muss im deutschen Vermittlungsverfahren auf die Opposition und die Bundesländer zugehen, um eine Mehrheit herzustellen. Das erwarten wir und das erwartet das ganze Land von einer Bundeskanzlerin.
Das haben Sie offensichtlich nicht verstanden, Frau Merkel. - Offensichtlich hat sie es auch gar nicht nötig, hier zu sitzen. Angesichts der Größe der Aufgabe auch ein beachtlicher Vorgang!
Wir, Jürgen Trittin und ich, haben Ihnen als Grüne bereits im Dezember des letzten Jahres geschrieben, Frau Merkel: Wir wollen mit Ihnen über die Frage der Umsetzung reden. - Da war schon fast ein Jahr vergangen; denn das Urteil ist vom 9. Februar 2010. Wir haben gesehen, dass Frau von der Leyen es nicht kann. Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, mache ich hier und heute den Vorwurf, dass Sie das ein Jahr lang haben treiben lassen. Das ist die Feststellung. Sie haben sich nicht für das Soziale, haben sich nicht für die Kinder engagiert.
Ein Jahr lang haben Sie es treiben lassen, und an diesem Dienstag haben Sie es dann - das war offensichtlich Ihr größtes Missverständnis - mit Basta-Politik versucht und schon nachmittags angekündigt, dass abends nichts dabei herauskommt. Wir haben das genau verstanden. Ich will Ihnen an dieser Stelle aber eines sagen: Es ist ersichtlich, dass Frau von der Leyen das nicht kann. Frau von der Leyen hat ein Jahr lang das Urteil vor sich her geschoben. In diesem Urteil wird eine transparente Berechnung gefordert. Da kam sie mit einer Berechnung nach Kassenlage. In dem Urteil ist von der Ermittlung des tatsächlichen Bedarfs die Rede. Da kam sie mit Kassenlage und rechnerischen Tricksereien. In dem Urteil heißt es: Die Kinder haben einen Anspruch auf Förderung. Sie hätten mit uns schon im Februar oder März letzten Jahres diskutieren können, wie man das technisch macht. Stattdessen haben Sie den Vorschlag über die Jobcenter unterbreitet; die Kommunen mussten die weiße Fahne der Kapitulation hissen, weil das nicht ging. Sie haben es handwerklich miserabel gemacht, Frau von der Leyen, und auch deshalb hat es so lange gedauert.
Frau von der Leyen erzählt gern, was so alles in diesem Paket drin ist. Entschuldigen Sie bitte, aber Sie haben vergessen, dass die Menschen zum Waschen auch warmes Wasser brauchen. Sie haben einen Vorschlag zum Mittagessen gemacht, bei dem davon ausgegangen wurde, dass in einem Drittel der Schulen, also dort, wo es Kantinen und Mittagessen für Kinder gibt, die Kinder das Essen finanziert kriegen. Aber sobald ein Kind aus der Grundschule in den Hort geht, kriegt es kein Mittagessen mehr. Und da haben sie die Chuzpe, sich mit ausgebreiteten Armen als Engel der Kinder hinzustellen? - Nein, das war handwerklich miserabel. Sie haben die Zeit verplempert.
Ich weiß doch, wie oft Fritz Kuhn mit neuen Zetteln kam und sagte: Wir haben wieder einen Fehler gefunden.
Wir haben noch einen Fehler gefunden. Sie, Frau Merkel, haben zugelassen, dass die FDP kam und vorschlug ?Gleicher Lohn für gleiche Arbeit nach neun Monaten?. Meine Damen und Herren, was soll man mit gleichem Lohn für gleiche Arbeit ab neun Monaten, wenn der Vertrag gar keine neun Monate dauert?
Das ist Ihnen nicht einmal peinlich.
Ich sage Ihnen: Das war im Großen und Ganzen ein verplempertes Jahr. Sie haben einen Vorschlag gemacht, von dem Jürgen Borchert, der Richter am Landessozialgericht Hessen, der das Bundesverfassungsgericht deswegen angerufen hat, schon damals gesagt hat: Die alten Regelsätze sind willkürlich. Zu Ihrem heutigen Vorschlag und Ihrem VA-Ergebnis sagt er: Der Gesetzgeber läuft mit diesem Entwurf erneut ins offene Messer. - Sie werden uns nicht dazu bringen, für so etwas zu stimmen.
Da können Sie hier noch so engelsgleich stehen. Es ist unsere Pflicht, nicht einfach zu sagen: ?Ist mir doch egal; dann schicken wir es wieder nach Karlsruhe?, sondern verfassungsgemäße Entwürfe zu machen. Dazu haben wir Ihnen wiederholt Vorschläge gemacht.
Sie sagen hier der Stimmung wegen, Mindestlöhne hätten in solchen Verhandlungen gar nichts zu suchen, das sei sachfremd. Ich weiß nicht, ob das an der Stelle eiskalte Kalkulation ist oder Sie es selber wirklich nicht wissen.
Ich weiß nur, was Herr Laumann sagt, Ihr Mann in NRW, liebe CDUler. Er sagt heute - das geht gerade über die Ticker -: Die Verantwortung für das Scheitern hat die FDP. Er sagt weiter ganz klar: Wer solche Vorschläge macht, wenn es um Mindestlöhne und das Prinzip ?Gleicher Lohn für gleiche Arbeit? geht, ist entweder böswillig oder hat keine Ahnung.
Ich rufe von hier aus Herrn Laumann in NRW zu: Beides trifft zu. Sie sind böswillig und haben keine Ahnung, meine Damen und Herren von der Koalition.
Warum haben wir entsprechende Vorlagen zu Mindestlöhnen und Regelsätzen in das Gesetzgebungsverfahren - schon im Bundestag - eingebracht? Weil Mindestlöhne und Regelsätze auf das Engste zusammengehören. Wenn sich die Regelsätze an den untersten Einkommen orientieren; dann dürfen diese Löhne nicht weiter sinken. Sonst rechnen wir uns zwangsweise immer weiter nach unten. Aber genau das wollten Sie. Sie kommen dann zwangsweise zu dem Punkt, an dem die Existenzsicherung durch die Regelsätze überhaupt nicht mehr möglich ist. Deswegen sagen wir Nein zu solchen Spielchen.
Mindestlöhne sind auch deshalb wichtig, weil es inakzeptabel ist - zumindest für uns -, dass der Staat Billiglöhne, die die Menschen aufgrund des Lohndumpings bekommen, aufstocken muss, dass also wir seitens des Staates gezwungen sind, die Folgen des Lohndumpings der Firmen mit Steuermitteln auszugleichen. Meine Damen und Herren von der Union, das ist nicht christlich. Deshalb stimmen wir dem nicht zu.
Ihr Angebot an die Kommunen ist vergiftet; denn Ihr Gesetzentwurf enthält keine korrekte Berechnung der Kosten der Unterkunft und sieht vor, dass der Bundesagentur für Arbeit 4 Milliarden Euro bei den Arbeitsmaßnahmen gestrichen werden. Sie von der CDU/CSU und insbesondere Frau Merkel sagen immer: Hartz IV soll eine Brücke sein. - Ich stelle mir das so vor: Du gehst als Hartz-IV-Bezieher über die Brücke. In der Mitte sollen die Wiedereingliederung und die Qualifizierung für Arbeit passieren. In der Mitte sollen die Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit wirken. Aber in der Mitte nehmen Sie die Bretter aus der Brücke heraus, indem Sie Geld abziehen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dem können wir nicht zustimmen. Wir brauchen das Geld für Bildung und Weiterbildung.
Frau Bundeskanzlerin, schön, dass Sie mir schon wieder den Rücken zukehren. Ich weiß aber immerhin, wo Sie sind.
Ich fordere Sie auf, Frau Merkel: Konzentrieren Sie sich auf das Wesen des deutschen Vermittlungsverfahrens! Es ist Ihre Aufgabe - vielleicht werden Sie damit noch groß; ich gönne es Ihnen im Interesse des Landes -, im Vermittlungsausschuss ein Ergebnis zu erzielen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin!
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir sind dazu bereit. Wir haben bereits gestern beschlossen, im Bundesrat einen Antrag auf erneute Anrufung des Vermittlungsausschusses zu stellen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es muss doch möglich sein, trotz Regierungsbeteiligung der FDP die Zukunft des Landes zu gestalten.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir erleben heute ein Schauspiel von Rot-Grün und den Linken. Sie zeigen eine große Verweigerungshaltung gegenüber den bedürftigen Menschen in unserem Land.
Wir als Koalition haben ein Gesetzgebungsverfahren in Gang gesetzt, weil uns letztendlich das Bundesverfassungsgericht aufgetragen hat, ein rot-grünes Gesetz zu reparieren und das Ganze in die richtigen Bahnen zu lenken. Aber Sie zeigen eine Blockadehaltung und weigern sich, Ihre damaligen Fehler zu korrigieren.
Diese Bundesregierung hat mit Frau Bundesministerin von der Leyen an der Spitze erstmals ein Bildungs- und Teilhabepaket für die Unterstützung bedürftiger Kinder verabschiedet; wir haben das kreiert. Aber Sie verweigern den Kindern die nötige Unterstützung für die Zukunft und für die schulische Ausbildung.
Wir haben gesetzeskonforme Regelsätze erarbeitet, die nachvollziehbar und transparent gestaltet sind sowie den Lebensbedürfnissen der Menschen gerecht werden.
Auch dies ist unser Auftrag gewesen. Sie verweigern aber den Bürgerinnen und Bürgern, die auf Unterstützung und staatliche Leistungen angewiesen sind, die Erhöhung der Regelsätze um 5 Euro pro Monat.
Sie sind letztendlich die Verweigerer in unserem Land.
Niemand in unserem Land kann verstehen, dass der Regelsatz von 345 Euro richtig gewesen sein soll, weil er von SPD und Grünen kreiert worden ist, aber dass ein Regelsatz von 364 Euro, der von CDU, CSU und FDP gemeinsam erarbeitet worden ist, falsch sein soll. Das kann meines Erachtens nicht sein. Das werden die Bürgerinnen und Bürger, auch wenn Sie ein noch so großes Wahlkampfgetöse veranstalten, nicht begreifen.
Es ging bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts darum, dass wir transparente Regelsätze ermitteln. Dies haben wir getan. Deshalb sind Sie aufgefordert, dem zuzustimmen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Strengmann-Kuhn?
Max Straubinger (CDU/CSU):
Ja.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Straubinger, Sie waren doch selber bei der Anhörung im Ausschuss und haben die Aussagen der Experten gehört, die, was die Juristen angeht, eindeutig gesagt haben, dass dieser Regelsatz nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Ich könnte lange nachbeten - das haben wir im Ausschuss lange genug gemacht -, an welchen Punkten Sie teilweise willkürliche Berechnungen durchgeführt haben, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht genügten und somit verfassungswidrig waren. Ich weiß nicht, warum Sie hier versuchen, die Bevölkerung für dumm zu verkaufen, obwohl Sie wissen, dass dieser Regelsatz nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht.
Herr Borchert, einer der Experten, ist eben zitiert worden. Es waren aber noch mehrere anwesend, die genau dasselbe gesagt haben. Sie rennen wieder in ein offenes Messer. Die Regelung wird wieder vom Bundesverfassungsgericht kassiert werden. Sie haben im Vermittlungsverfahren keinen einzigen Vorschlag gemacht, wie der Regelsatz verfassungsgemäß gestaltet werden kann. Das aber stand im Zentrum des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Sie verstoßen sehenden Auges gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und damit gegen die Verfassung. Das werfen wir Ihnen vor. Wenn Sie sich da nicht bewegen, dann kommen wir nicht zusammen.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, diese Eindeutigkeit konnten wir bei der Anhörung in keiner Weise feststellen.
- Natürlich. - Im Gegenteil, unsere Darlegung der Regelsätze wurde untermauert. Dass diese Berechnung verfassungskonform ist, war die Ansicht, die bei den Anhörungen geäußert wurde. Während der Verhandlungen im Rahmen des Vermittlungsverfahrens haben weder die SPD noch die Grünen oder die Linke uns darlegen können, dass die Sätze nicht verfassungskonform ermittelt worden wären.
Das ist die Wahrheit. Deshalb sind Sie die Verweigerer und Blockierer in unserem Land.
- Herr Strengmann-Kuhn, ich bin noch nicht fertig.
Die Erhöhung um 6 Euro, die Sie anstreben, hat in keiner Weise mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu tun. Ihre Darlegungen sind falsch. Bei den Regelsätzen muss man auch sehen, dass die kleinen Leute diese zu bezahlen haben.
Wenn Sie 6 Euro mehr fordern, dann bedeutet das fast 500 Millionen Euro mehr, die die Verkäuferin, die Arzthelferin und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit kleinen Einkommen mit ihren Beiträgen und Steuern zu berappen haben, die jeden Tag früh aufstehen müssen und arbeiten.
Dies zeigt sehr deutlich: Sie machen eine Politik gegen den kleinen Mann in unserem Land. Sie sind die Unterstützer der Menschen, die möglicherweise nicht jede Arbeit annehmen wollen.
Wir arbeiten daran, dass jeder in Arbeit kommt. Wir haben Erfolge zu verzeichnen. Unter Rot-Grün hatten wir 5 Millionen Arbeitslose und Bedürftige, jetzt sind es nur noch 3 Millionen mit fallender Tendenz. Das ist der Erfolg der Bundesregierung unter Angela Merkel.
Das Entscheidende ist, dass wir die Leute in Arbeit bringen. Nicht die Alimentierung über Steuergelder ist das Entscheidende, sondern die Schaffung von Arbeitsplätzen. Daran arbeiten wir. Sie haben sich zum Beispiel einer Erhöhung des Kindergeldes zum 1. Januar verweigert; damit wären die Familienleistungen verstärkt worden. Sie haben sich steuerlichen Erleichterungen verweigert.
Alle diese Maßnahmen, die wir zum 1. Januar 2010 in Gang gebracht haben, haben dazu geführt, dass im Jahr 2010 ein Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent erreicht worden ist, viele Arbeitsplätze in unserem Land geschaffen wurden und die Langzeitarbeitslosigkeit abgebaut werden konnte, wodurch die Menschen in unserem Land weniger auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Das ist der Erfolg unserer Bundesregierung.
Wenn Sie im Zusammenhang mit dem Vermittlungsverfahren Mindestlöhne einfordern, dann muss ich Ihnen sagen: Wir haben dafür gekämpft, dass es mehr Mindestlöhne in unserem Land gibt,
dass 3 Millionen Menschen in verschiedenen Branchen auf Lohnuntergrenzen setzen können. Wir sind auch bereit, das bei der Zeitarbeit in Gang zu setzen. Aber Sie verweigern sich heute einer Umsetzung der Lohnuntergrenzen in der Zeitarbeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pronold?
Max Straubinger (CDU/CSU):
Ja, bitte schön.
Florian Pronold (SPD):
Herr Kollege Straubinger, Ihr Ministerpräsident und Parteivorsitzender hat im Januar in aller Öffentlichkeit und auch gegenüber dem DGB in Bayern versprochen, dass er sich mit aller Kraft dafür einsetzen - und auch die FDP überzeugen - wird, dass die Zeitarbeit so reguliert werden soll, dass nach einer Zeit von vier Wochen das Prinzip ?Gleicher Lohn für gleiche Arbeit? zum Tragen kommt.
Warum stehen Sie heute nicht mehr zu dem Versprechen, das der CSU-Ministerpräsident Horst Seehofer gegeben hat? Warum haben Sie das in den Verhandlungen nicht durchgesetzt?
Max Straubinger (CDU/CSU):
Herr Kollege Pronold, erstens ist mir diese Aussage des bayerischen Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden nicht bekannt.
Zweitens setzen wir in dieser Frage auf die Tatkraft der Tarifpartner. Die Tarifpartner haben zum Beispiel in der Stahlbranche erreicht, dass bereits ab dem ersten Tag Equal Pay für den Einsatz von Zeitarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern gilt. Wir sind auch überzeugt, dass letztendlich die Tarifpartner in freier Tarifvereinbarung Verbesserungen mit erarbeiten werden, auch in puncto Equal Pay, gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Ich verstehe Sie nicht,
die Sie doch immer auch Gewerkschaftsvertreter sein wollen, dass Sie letztendlich den Gewerkschaften ihr Verhandlungsmandat nehmen wollen; denn das wäre ja die Konsequenz Ihres Handelns.
Das darf nicht sein. Wir sind überzeugt, dass wir mit tatkräftigen Arbeitnehmervertretern besondere Löhne vereinbaren können. Wir sind nicht für Mindestlöhne, sondern wir sind für hohe Löhne für die Menschen in unserem Land.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Schlecht von der Linksfraktion?
Max Straubinger (CDU/CSU):
Bitte schön. Ich bin immer zur Aufklärung bereit.
Michael Schlecht (DIE LINKE):
Herr Kollege Straubinger, zwei Punkte. Erstens. Können Sie sich, nachdem in den letzten zehn Jahren die gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten durch politische Maßnahmen gerade durch Sie in erheblicher Weise beeinträchtigt worden sind - durch Befristungen, Leiharbeit und Minijobs und vor allen Dingen durch die hier zur Debatte stehenden Hartz-IV-Regelungen -, wirklich vorstellen, dass es möglich sein sollte, die Leiharbeit tarifpolitisch zu regulieren? Denn gerade durch die gesetzlichen Regulierungen sind den Gewerkschaften schwere Knüppel zwischen die Beine geworfen worden.
Heute hier zu sagen, dass man jetzt noch ein Jahr warten solle und dass dann die Gewerkschaften das bitte schön regulieren mögen,
ist hochgradig zynisch.
Die zweite Frage.
Sie haben ein Jahr gebraucht, um den heutigen Stand zu erreichen, und es ist nichts dabei herausgekommen. Sie haben jetzt wochenlang im Vermittlungsausschuss zusammengesessen. Bei der Bankenkrise hingegen, Ende 2008, haben Sie innerhalb von einer Woche ein riesiges Rettungspaket für die Banken auf den Weg gebracht. Finden Sie es nicht auch hochskandalös,
dass damals, als es um die Banken ging, alles in fünf, sechs Tagen möglich war, während jetzt auch nach einem Jahr noch nichts herausgekommen ist? Herauskommen müsste ein Regelsatz von 500 Euro; denn das ist der einzige Regelsatz, der sich aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts errechnen lässt und der darüber hinaus menschenwürdig ist.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Dass die Linken in unserem Land gerne Pi mal Daumen rechnen und die Regelsätze nicht nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts berechnen, ist bekannt. Aber das müssen die kleinen Leute bezahlen, die Sie hier nicht vertreten.
Nicht wir haben ein Jahr lang gebraucht, sondern es war vorher bekannt, dass die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe erst im September bzw. Oktober vorliegen werden. Wir haben den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, diese Regelsätze transparent und vollziehbar zu ermitteln. Deshalb war es notwendig, abzuwarten, bis die statistischen Erhebungen vorlagen.
Man kann deshalb nicht behaupten, wir hätten zu lange gebraucht, sondern es gab die Vorgabe - die noch von den früheren Arbeitsministern der SPD stammte -, Daten auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zu ermitteln.
- Bleiben Sie ruhig stehen!
Sie haben zwei Fragen gestellt. Ich habe erst eine beantwortet.
Sie werfen uns vor, dass wir zu lange gebraucht hätten, um die Regelsätze zu ermitteln, und jetzt weitere sieben Wochen verhandelt haben. Ich sage Ihnen: Es gehört zu Verhandlungen dazu, dass sich beide Seiten bewegen.
Wir haben uns bewegt: Beim Bildungs- und Teilhabepaket haben wir fast über 400 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt, damit die Kommunen die Vorhaben umsetzen können. Wir waren bereit, einen Mindestlohn für den Bereich Aus- und Weiterbildung zu kreieren. Wir sind bereit für die Zeitarbeit.
Wir sind bereit, eine Mindestlohngrenze für das Wach- und Sicherheitsgewerbe festzulegen. Wir haben uns in den entscheidenden Fragen bewegt, aber auch die gesammelte linke Opposition muss sich bewegen, statt zu versuchen, ihren gesamten Forderungskatalog durchzusetzen.
Wenn Sie darauf anspielen, dass wir innerhalb kürzester Zeit den Sparerinnen und Sparern unter die Arme gegriffen haben:
Das Bankensystem zu retten, war eine wichtige Aufgabe für die Sparerinnen und Sparer in unserem Land, und zwar nicht wegen der Banken, sondern es ging darum, dass die Ersparnisse der Menschen sicher sind.
Ich bin noch bei der ersten Frage. - Sie werfen uns vor, dass wir durch die Lösung der Probleme der Zeitarbeit oder anderer Arbeitsverhältnisse die Gewerkschaften ihrer Gestaltungsmöglichkeit beraubt hätten, dabei haben SPD-Minister die Befristungen und andere Maßnahmen beschlossen. Wir haben gar nichts verändert. Sie müssen sich also an die Kolleginnen und Kollegen der SPD wenden und nicht an uns.
Verehrte Damen und Herren, in all den Wahlkämpfen, die vor uns liegen,
werden Sie nicht bestehen können, wenn Sie darauf kaprizieren, hohe Regelsätze zu haben. Ich bin überzeugt, den Menschen ist es wichtig, in Arbeit zu kommen. Das werden wir mit Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Spitze, mit unserer Bundesarbeitsministerin und dem Bundeswirtschaftsminister tatkräftig umsetzen, um die soziale Lage der Menschen in unserem Land zu verbessern.
Sie hätten heute im Bundesrat die Chance gehabt - möglicherweise haben Sie sie noch -, die soziale Lage der Menschen zusätzlich zu verbessern, wenn Sie unseren Vorschlägen zustimmen würden. Damit wären die Grundlagen für die Menschen gelegt, die in Deutschland am Existenzminimum leben müssen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und die Geduld.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollege Straubinger, das nennt man Glück: durch Zwischenfragen eine doppelte Redezeit erreichen.
Das Wort hat nun Kollege Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.
Sigmar Gabriel (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle haben jetzt noch einmal die Argumente gehört, aber wir müssen natürlich aufpassen, dass wir hier im Hause nicht das tun, was ein saarländischer Ministerpräsident einmal als Theaterspiel bezeichnet hat. Wir alle wissen, dass im Bundesrat zwischen allen Parteien längst wieder über die Neuaufnahme des Vermittlungsverfahrens verhandelt wird, und das ist auch gut so.
Auf Antrag von Kurt Beck und anderen ist das zustande gekommen.
Wissen Sie, wozu ich keine Lust habe? Wir hätten Ihnen eine Niederlage bei der Abstimmung im Bundesrat beibringen können. Das werden wir, wenn das vernünftig läuft, nicht tun, nicht weil wir Ihnen ungern Niederlagen beibringen - -
- Quatschen Sie doch nicht immer dazwischen! Hören Sie doch mal eine Sekunde zu!
- Gut, okay. Ich habe es versucht. Das ist bei Ihnen offensichtlich nur schwer möglich. Herr Kauder weiß aber, wovon ich rede.
Wir dürfen hier kein Vieraugenparlament werden,
wo wir uns unter vier Augen immer sagen: ?Das können wir eigentlich nicht machen; eigentlich müssten wir das anders machen?, es aber dann, wenn das dritte Augenpaar dabei ist, wieder ganz anders machen. Wir wissen doch - jedenfalls die meisten von uns -, dass da draußen in der Öffentlichkeit ein völlig anderer Eindruck entsteht; da hat der Kollege von den Linken schon recht. Der Eindruck da draußen ist, dass wir in wenigen Stunden in der Lage waren, Milliarden zur Bankenrettung zusammenzubringen - wir haben sie gerettet wegen unserer Bevölkerung, nicht wegen der Banken -,
aber dass wir offensichtlich in Monaten nicht in der Lage sind, für Millionen von Menschen gemeinsam eine Verbesserung zu erzeugen.
Wenn wir jetzt erklären, Sie seien schuld, und Sie sagen, wir seien schuld, dann überrascht das die Leute da draußen auch nicht, weil die davon ausgehen, dass wir zu nichts anderem in der Lage sind, als uns gegenseitig zu erklären, was der andere falsch gemacht hat.
Unter vier Augen sagen wir: Leute, wir müssen ein Ergebnis erzielen. - Wenn wir heute im Bundesrat bei der Abstimmung gewinnen würden - und wir würden gewinnen -, dann würden wir alle eine große Niederlage erleiden, weil die Menschen draußen sich noch mehr von der Politik abwenden würden. Das ist der Grund dafür, dass wir überhaupt zusammenkommen.
Darum geht es, dass wir es noch einmal versuchen wollen. Wir hätten das heute hinbekommen - keine Sorge; mit den Ländern, in denen wir an der Regierung beteiligt sind, haben wir das eng abgestimmt -, aber Kurt Beck startet zusammen mit anderen - zum Beispiel, wie ich höre, mit dem CDU-Kollegen aus Sachsen-Anhalt - den Versuch, doch noch ein Ergebnis zu erzielen.
Frau von der Leyen, es macht doch keinen Sinn, dass Sie hierherkommen und so tun, als sei das alles sozusagen von vornherein dufte gewesen. Sie wissen doch, dass Sie zum Beispiel vergessen hatten, 277 Millionen Euro für Warmwasser in den Regelsatz einzurechnen.
Sie wissen doch, dass Ihre eigenen Kollegen Ihnen gesagt haben: Du kannst doch nicht wirklich die Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung für die Entscheidung darüber zuständig machen wollen, welche Kinder Nachhilfe bekommen. - Das haben Ihnen Ihre Leute gesagt.
Ein bisschen mehr Demut bei der Debatte wäre doch angemessen angesichts der Tatsache, dass Ihre eigenen Leute Ihre Vorschläge kassiert haben.
Frau von der Leyen, wir sind uns nicht einig darüber, dass nur ein Teil der Kinder ein Mittagessen bekommen soll.
Wir sind uns nicht einig darüber, dass 10 Euro als Minibetrag für Familien die Familien besserstellen und zu einer besseren Bildung der Kinder beitragen, wie das Ihrer Meinung entspricht. Unsere Richtung ist eine andere. Wir wollen die Schulen und die Kindertagesstätten stärken. Darum geht es, Frau von der Leyen.
Wir sind uns auch nicht einig darüber, ob die Kommunen tatsächlich eine bessere finanzielle Ausstattung bekommen. Allerdings - das will ich offen sagen -: Wir sind einen großen Schritt weitergekommen bei der Frage: Wie bekommen wir die Finanzierung hin? Lassen Sie uns die nächsten beiden Schritte, die Sie jetzt am Ende nicht mehr gehen wollten, noch machen und wirklich dafür sorgen, dass die Kommunen sicher sein können, dieses Geld zu bekommen. Wir wissen aber auch - das sagen wir wieder nur unter vier Augen -, was passiert, wenn nicht drinsteht, wofür das Geld genutzt werden soll, nämlich für Schulsozialarbeit.
Nun könnte man sagen: Nein, wenn das dritte Augenpaar dabei ist, dann werden das natürlich alle machen. - Ja, viele werden es machen, aber manche haben die Kommunalaufsicht im Haus und werden das Geld nicht in die Schulen geben. Deswegen lassen Sie uns das entsprechend festlegen.
Frau von der Leyen, Sie wissen doch auch, dass es nicht stimmt, dass die Debatte um Mindestlöhne oder Leiharbeit hier nicht mit hineingehört. Es geht uns allen doch offensichtlich darum, dass sich Arbeit lohnen muss.
Aber das erreichen wir nicht dadurch, dass man die Hartz-IV-Sätze möglichst niedrig ansetzt, sondern dadurch, dass Mindestlöhne eingeführt werden. Hier sind wir in der Tat einen großen Schritt weiter zueinandergekommen. Aber warum ziehen Sie nicht eine wirkliche Lohnuntergrenze ein, indem Sie die Mindestlöhne auch im Arbeitnehmer-Entsendegesetz festschreiben?
Durch das, was Sie jetzt machen, eröffnen Sie wieder neue Schlupflöcher. Und Sie wissen doch, was dann passiert: Die Menschen, denen wir etwas versprochen haben, erleben in der Realität etwas ganz anderes, und nicht die Unternehmer, die diese Schlupflöcher nutzen, werden dann am Pranger stehen, sondern die Politik ist wieder schuld, weil sie etwas versprochen hat, was nicht eingehalten wird. Deshalb brauchen wir ein besseres Gesetz beim Mindestlohn.
Es sind nur noch wenige Meter, die wir da gehen müssen. Das muss doch zu schaffen sein, verdammt noch mal!
Da Sie von der FDP ja nun gar nicht wollen, dass wir da zueinanderkommen, zitiere ich einmal aus einer heutigen Meldung. Vielleicht ist es ja so möglich, bei Ihnen Nachdenklichkeit zu erzeugen. Da steht, dass Sie das Hauptproblem der Verhandlungen gewesen sind. Wie sehr sich die FDP da verrannt hat, wird zum Beispiel daran deutlich, dass Ihnen, Herr Kolb, der Spitzname Gromyko gegeben wurde, weil Sie in den Verhandlungen im Wesentlichen immer ?Njet? gesagt haben.
- Na gut, Herr Goldmann, dann zitiere ich eben die FDP selber. Vom schleswig-holsteinischen Sozialminister, der zugleich auch stellvertretender Ministerpräsident ist und Ihrer Partei angehört, heißt es dort:
Dabei würde er es sehr begrüßen, wenn sich die FDP in den Streitfragen zur Lohnuntergrenze und zur gleichen Bezahlung von Stammbelegschaften und Leih- und Zeitarbeitern ?weniger dogmatisch als bisher zeigen würde?.
Weiter heißt es - hören Sie genau zu; es geht um Ihren Sozialminister -:
Garg hob hervor, dass es sozial- und gesellschaftspolitisch richtig sei, für die Zeitarbeit eine Lohnuntergrenze vorzuschreiben.
- Nein, es gibt Ausnahmetatbestände, die Sie hereinverhandelt haben.
Wenn Sie schon nicht auf die Sozialdemokraten hören, dann hören Sie wenigstens auf Ihren Koalitionspartner: Herr Laumann, der Bundeschef der CDU-Arbeitnehmerschaft,
wies der FDP unterdessen eine Mitverantwortung für das Scheitern der Hartz-IV-Einigungsgespräche zu. Wer wie die FDP eine gleiche Bezahlung für Leiharbeiter erst nach neun Monaten wolle, sei entweder ?böswillig oder hat keine Ahnung? ?
Dem ist nichts hinzuzufügen, meine Damen und Herren.
Lassen Sie uns also offen miteinander umgehen. Wir haben uns jetzt noch einmal gegenseitig gezeigt, wie gut wir reden können. Unsere Rednerin war, wie ich finde, die bessere.
Sei es drum. Darum geht es nicht. Lassen Sie es uns offen sagen und dem Bundesrat zurufen: Wir halten es für richtig, dass ihr dort miteinander, egal welcher Regierung ihr angehört, das Vermittlungsverfahren wieder eröffnen wollt!
Wir finden es richtig, dass nicht aufgehört wird, eine Lösung zu suchen! Wir finden es richtig, dass wir alle drei Teile, bei denen wir ja kurz vor eine Lösung stehen, zueinanderbringen! - Wir können damit der Bevölkerung zeigen, dass wir mehr können, als uns zu streiten. Die Landtagswahlen werden zeigen, dass das uns allen guttut. Wenn wir das jetzt nicht machen, dann werden wir alle bei den Landtagswahlen bestraft, weil sich die Leute von uns abwenden. Das ist der Grund, warum wir wieder verhandeln wollen, meine Damen und Herren.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Birgit Homburger für die FDP-Fraktion.
Birgit Homburger (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal festhalten, dass wir in diesem Verfahren ein weitreichendes Angebot gemacht haben. Für all diejenigen, die uns hier zuhören und die es nicht so ermessen können wie diejenigen, die im Verfahren drinstecken, möchte ich es noch einmal an einer Zahl verdeutlichen: Wenn man alles zusammenrechnet - das Bildungspaket, die Grundsicherung und das, was bei Hartz IV gemacht werden soll -, dann kommt man auf eine Summe von 7 Milliarden Euro jährlich. Das haben wir angeboten.
Frau Schwesig hat vorhin in Ihrer Rede hier gesagt, die Ministerin habe sich hier im Klein-Klein verloren.
Sehr verehrte Frau Schwesig, wenn Sie sich das noch kurz anhören würden?
Sie haben es offensichtlich nicht nötig, zuzuhören.
Aber ich sage Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Offensichtlich hat Frau Schwesig kein Verhältnis zu dem Geld, das die Bürgerinnen und Bürger hart erarbeiten müssen. Das sind keine Peanuts; das ist ein Riesenangebot.
Herr Gabriel, wir wollen ein Ergebnis. Ich begrüße ganz ausdrücklich das, was Sie vorgetragen haben, und dass Sie jetzt zur Vernunft kommen wollen.
Wir wissen, was im Augenblick im Bundesrat verhandelt wird. Im Bundesrat wird momentan darüber gesprochen, dass der Vermittlungsausschuss nur noch aus einem einzigen Grund angerufen wird, nämlich wegen der Sonderbedarfe.
Das ist ein entscheidender Punkt.
Selbst Herr Kurth von den Grünen kritisiert die eigene Verhandlungsführung und sagt: Wir haben die Verhandlungen mit sachfremden Forderungen überfrachtet.
Wenn Sie die sachfremden Forderungen weggenommen hätten, hätten wir schon längst ein Ergebnis erreicht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenbemerkung des Kollegen Schlecht von der Fraktion Die Linke?
Birgit Homburger (FDP):
Ja, bitte.
Michael Schlecht (DIE LINKE):
Frau Homburger, ich möchte auf einen Punkt eingehen, den Sie bei der Auflistung Ihres wunderbaren Pakets gerade gar nicht erwähnt haben: Das ist die in der Tat absolute Blockade der FDP in der Frage der Leiharbeit.
Gerade in Baden-Württemberg gibt es jetzt wieder einen Aufschwung. In diesem Aufschwung hat allerdings die Leiharbeit massiv um sich gegriffen. Wissen Sie eigentlich, dass zum Beispiel Daimler in Untertürkheim heute zwar wieder die Beschäftigtenzahl wie vor der Krise hat, dass aber heute 800 Leiharbeitnehmer mehr in diesem Betrieb beschäftigt sind und dass dort wegen der Leiharbeit Vollzeitarbeitsplätze vernichtet worden sind? Das ist wirklich menschenunwürdig. Ähnliche Beispiele könnte man in vielen anderen Betrieben bei uns im sogenannten Musterländle finden.
Birgit Homburger (FDP):
Herr Kollege, ich würde Ihnen anraten, sich einmal anzuschauen, wie das in den Betrieben in den letzten Jahren gelaufen ist und wie das jetzt läuft. Wenn Sie sich mit der Realität befassen würden, würden Sie nämlich feststellen, dass in den letzten Jahren, wenn es einen Aufschwung gab, zunächst über Zeitarbeit eingestellt wurde. Die Zeitarbeitnehmer hatten dann über diese Brücke eine Chance auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Wer diese Brücke wie Sie einreißen will, der handelt unsozial.
Es bleibt festzuhalten: Wir haben mit über 12 Milliarden Euro für die Kommunen in den Jahren 2012 bis 2015 ein weitreichendes Angebot gemacht.
Sie verhindern das Bildungspaket. Sie verhindern die Entlastung der Kommunen durch überzogene Forderungen beim Regelsatz. Das ist die Wahrheit. Deswegen muss das hier noch einmal festgestellt werden.
In allen anderen Punkten haben wir Kompromisse gefunden. Aber am Ende sind die Verhandlungen an Ihren überzogenen Forderungen beim Regelsatz gescheitert.
Wir haben vom Bundesverfassungsgericht den Auftrag erhalten, den Regelsatz transparent neu zu regeln. Genau diesen Auftrag haben wir wahrgenommen. Wir haben zum ersten Mal ein transparentes Regelwerk vorgelegt. Ich halte an dieser Stelle noch einmal fest, dass auch Sie von der SPD nicht mehr sagen, dass das nicht richtig sei. Im Gegenteil: Sie haben offensichtlich akzeptiert, dass unsere Berechnungen absolut verfassungsfest sind.
Auch Sie reden nicht mehr davon, dies verfassungsfest zu machen. Sie reden nur noch darüber, dass man es verfassungsfester machen muss. Ich sage Ihnen: Entweder ist eine Regelung verfassungsfest, oder sie ist es nicht. Ich sage: Sie ist verfassungsfest. Deswegen bleiben wir bei den 5 Euro!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, von der SPD und von den Grünen, wer den Aufschwung über Hartz-IV-Sätze organisieren will, der liegt daneben; der vergisst, dass all das, was wir hier ausgeben, von den Bürgerinnen und Bürgern erst einmal erwirtschaftet werden muss.
Bildung ist die soziale Frage unserer Zeit. Deshalb haben wir als Koalition erstmals ein Bildungspaket für Kinder auf den Weg gebracht. Dies sind die von der SPD und von den Grünen vergessenen Kinder, weil Sie bei Hartz IV seinerzeit kein Bildungspaket auf den Weg gebracht haben.
Wir haben erstmals ein solches Paket gemacht.
Wer heute das Riesenangebot ablehnt, das wir auf den Tisch legen - es enthält auch eine Grundsicherung, von der Kommunen profitieren -, der versündigt sich an den Kommunen. Ab heute ist jedes Schlagloch einer kommunalen Straße ein rot-grünes Schlagloch; das müssen Sie wissen.
Meine Damen und Herren, wir sind an einem Ergebnis interessiert. Wir haben hier ein großartiges Angebot auf den Tisch gelegt. Ich kann Sie nur auffordern: Nehmen Sie dieses Angebot endlich an! Es ist ein Angebot für einen verfassungsfesten Hartz-IV-Regelsatz, ein Angebot für ein Bildungspaket für Kinder, wie es noch nie in der Bundesrepublik Deutschland da war, und ein Angebot für Mindestlöhne.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Birgit Homburger (FDP):
Herr Präsident, ich bin gleich so weit. - Wir haben auch bei den Mindestlöhnen ein Angebot gemacht. Ich sage Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Alles, was Sie dort gefordert haben, haben wir als FDP Ihnen in den Verhandlungen zugestanden. Deshalb halte ich fest: Wenn das Gesetz jetzt scheitert, dann scheitert es an Ihren überzogenen Forderungen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen wirklich zum Ende kommen.
Birgit Homburger (FDP):
Wir fordern Sie auf, im Bundesrat genau das zu tun, was Sie jetzt gesagt haben, nämlich sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Wenn wir das tun, werden wir gemeinsam zu einem Ergebnis kommen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Peter Altmaier für die CDU/CSU-Fraktion.
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist richtig, was Herr Gabriel sagt, dass genau in dieser Stunde im Bundesrat Ministerpräsidenten der CDU und Ministerpräsidenten der SPD gemeinsam versuchen, ein Scheitern dieses Gesetzesprojektes zu verhindern. Ihre eigenen Ministerpräsidenten haben erkannt, dass das, was Ihre Redner - Frau Schwesig, Herr Heil, Frau Künast - heute Morgen an die Wand fahren wollten,
was sie in Grund und Boden verdammt haben, ein gutes Vorhaben ist und es sich lohnt, dieses Vorhaben zu retten.
Deshalb werden wir ungeachtet aller Polemik dafür sorgen, dass dieses Gesetz in absehbarer Zeit in Kraft tritt.
Lassen Sie mich einen Satz zum Argument der Verfassungswidrigkeit sagen - es wurde immer wieder das Wort ?verfassungsfest? verwendet -:
CDU und CSU tragen seit fünf Jahren Verantwortung in der Bundesregierung; es ist in Karlsruhe noch kein einziges Gesetz aufgehoben worden, für das ein CDU- oder CSU- oder FDP-Minister in dieser Zeit federführend verantwortlich war. Alle Gesetze, die aufgehoben worden sind - Luftsicherheitsgesetz, Zuwanderungsgesetz und Hartz IV -, waren Gesetze, für die die rot-grüne Koalition verantwortlich gezeichnet hat.
Sie wurden für verfassungswidrig befunden, weil sie juristisch und inhaltlich schlecht gemacht waren. Wir haben von Ihnen, schon gar nicht von der Linken, keine verfassungsrechtlichen Belehrungen nötig.
Das, was auf dem Tisch liegt, ist ein Paket, das die Kommunen in einer Art und Weise entlastet, wie es in den letzten 15 Jahren nicht geschehen ist. Lesen Sie nach, was der Präsident des Deutschen Landkreistages, Herr Duppré, heute Morgen erklärt hat: Er hat an den Bundesrat appelliert, dem Gesetz zuzustimmen, weil er erkennt, dass es der erste Versuch ist, die Gemeinden strukturell so zu entlasten, dass sie ihren originären Aufgaben wieder besser nachkommen können. Dies war unser Vorschlag; wir haben ihn eingebracht. Sie haben so getan, als sei das eine Nebensächlichkeit.
Ein weiterer Punkt. Das, was Ursula von der Leyen vorgelegt hat, was wir nach Reparatur Ihres schlechten Gesetzes auf den Weg gebracht haben, ist sozialpolitisch beispielhaft und richtungsweisend. Wir haben dafür gesorgt, dass es im Bereich der Bildung ein kohärentes Paket für die Kinder gibt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Künast?
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Gerne.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Altmaier, Sie haben den Präsidenten des Deutschen Landkreistags zitiert. Ich habe einen Brief vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Darin steht im Gegensatz dazu:
Der behaupteten Entlastung der Kommunen von rund 12 Milliarden Euro in den Jahren 2012 bis 2015 stehen somit Belastungen in ähnlicher Größenordnung in den Jahren 2011 bis 2015 gegenüber. Die Zahlen machen deutlich, dass der von Bundesseite vorgelegte Vorschlag für uns
- den Deutschen Städte- und Gemeindebund -
nicht akzeptabel ist.
Was sagen Sie denn dazu?
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Liebe Frau Künast, Sie sollten ehrlich sein und auch das Datum dieses Briefes vorlesen. Dann werden Sie feststellen, dass er geschrieben worden ist, bevor wir unser Paket im Vermittlungsausschuss beschlossen haben.
Alle Äußerungen nach diesem Zeitpunkt sind positive Äußerungen. Je länger diskutiert wird, desto mehr spricht sich herum, was in diesem Paket enthalten ist.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Ilja Seifert von der Fraktion Die Linke?
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Ja, gerne.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Herr Kollege Altmaier, Sie sprachen gerade davon, dass es eine sozialpolitisch vorbildliche Leistung sei, die Sie abliefern wollen. Können Sie mir bitte sagen, worin das Vorbildhafte besteht, wenn bei erwachsenen behinderten Menschen, die nicht erwerbsfähig sind, 20 Prozent des Regelsatzes einfach so weggenommen werden? Das sind nach alter Rechnung 68 Euro und nach neuer Rechnung 73 Euro. Können Sie mir sagen, inwiefern das eine sozialpolitisch vorbildliche Leistung sein soll?
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Herr Kollege Seifert, wir haben ein Gesamtpaket vorgelegt. Wir haben wochenlang im Vermittlungsausschuss darüber verhandelt. Weder die Kollegen von den Grünen noch die Kollegen von der SPD haben in diesen Wochen diesen Punkt thematisiert.
Ich sage Ihnen aber zu, weil ich die Arbeit und die Argumente des Behindertenbeauftragten Hubert Hüppe sehr schätze - er ist ein seriöser Mensch, der sich diese Dinge genau überlegt hat -,
dass wir das bei nächster Gelegenheit prüfen und gegebenenfalls korrigieren werden.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, es gibt weitere Zwischenfragen.
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Ja, gerne.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollegin Ferner und dann Kollegin Hagedorn.
Elke Ferner (SPD):
Lieber Kollege Altmaier, habe ich recht, wenn ich sage, dass ich Sie in der ersten bzw. zweiten Runde der Unterarbeitsgruppe nochmals, nachdem wir das Thema in allen Vermittlungsrunden schon angesprochen hatten, darauf aufmerksam gemacht habe, dass in der Regelbedarfsstufe 3 eine Kürzung für diejenigen vorgesehen ist, die nicht erwerbsfähig sind und mit anderen Erwachsenen in einem Haushalt zusammenleben? Habe ich Sie auf den Brief des Behindertenbeauftragten verwiesen, oder leiden Sie, Kollege Altmaier, an Gedächtnisverlust?
Die zweite Frage, die ich stellen möchte: Geben Sie mir recht, dass der Gesetzentwurf, dem Sie und die gesamte Koalition im Bundestag zugestimmt haben, einen Fehler enthält, weil weder im Regelsatz noch bei den Kosten der Unterkunft Mittel dafür vorgesehen sind, dass Haushalte ihr Warmwasser mit Strom bereiten? Geben Sie mir recht, dass das Gesetz, das Sie mit Ihren Stimmen hier im Bundestag beschlossen haben, schon allein deshalb verfassungswidrig ist?
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Frau Kollegin Ferner, ich kann Ihnen, da wir gemeinsam in einer Unterarbeitsgruppe waren, bestätigen, dass Sie dort stundenlang all das an Forderungen vorgelesen haben,
was Sie in den letzten zehn Jahren gegenüber Ihren eigenen Finanz- und Sozialministern zu keinem Zeitpunkt durchsetzen konnten. Sie haben uns eine Weihnachtswunschliste, ein Sammelsurium präsentiert.
In der allerletzten Sitzung, in der informellen Runde - da waren Sie nicht mehr dabei, aber die Kollegin Schwesig war dabei -, in der wir versucht haben, Lösungen zu finden, haben Sie Forderungen im Wert von 3 Milliarden Euro auf den Tisch gelegt. In welcher Zeit leben wir eigentlich? Wir haben gemeinsam eine Schuldenbremse im Grundgesetz vereinbart. Wir haben enge Finanzierungsspielräume bei den Kommunen, bei den Ländern und beim Bund.
Wir müssen vielen Bürgerinnen und Bürgern, Facharbeitern, Beamten, Angestellten, Einschränkungen zumuten, und Sie tun so, als ob wir es hier mit einem finanzpolitischen Wunderland zu tun hätten, in dem man die Milliardenforderungen nur aneinanderzureihen braucht. Sie sind aus der Zeit gefallen. Sie werden erleben, dass Sie damit keine Wähler für die SPD zurückgewinnen. Sie werden höchstens noch mehr Wähler den Linken in die Arme treiben.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, die Kollegin Hagedorn möchte eine letzte Zwischenfrage zu dieser Rede stellen.
Bettina Hagedorn (SPD):
Herr Kollege Altmaier, wir sind uns darüber einig - ich glaube, alle in diesem Haus -, dass die Kommunen dringend auf Entlastung warten. Wir alle wollen ihnen diese geben. Stimmen Sie mir zu, wenn ich das Angebot gerade aus kommunaler Sicht als vergiftetes Angebot bezeichnen würde? Stimmen Sie mir zu, dass Sie planen, bis 2015 bei der Bundesagentur für Arbeit 15 Milliarden Euro als Gegenfinanzierung für die Besserstellung der Kommunen zu kürzen? Stimmen Sie mir weiterhin zu, dass diese Koalition bereits mit ihrem Sparpaket zusätzlich 10 Milliarden Euro für aktivierende Arbeitsmarktpolitik bei der Bundesagentur für Arbeit bis 2014 streichen will? Können Sie diesem Haus vielleicht erklären, wie dann der Anspruch, der vorhin von Ihrer Seite formuliert worden ist, dass Sie Menschen in Arbeit bringen wollen, mit einem Minus von 24 Milliarden Euro in den nächsten Jahren verwirklicht werden soll?
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Frau Kollegin Hagedorn, zunächst einmal stimme ich Ihnen zu, dass wir die Kommunen in den nächsten Jahren um über 15 Milliarden Euro netto entlasten werden.
Das ist die größte Entlastung der Kommunen, die es in den letzten Jahren gegeben hat. Ich freue mich, dass das heute zum ersten Mal ein Vertreter der Opposition gesagt und anerkannt hat. Deshalb sollten Sie dem auch zustimmen.
Der zweite Punkt ist: Es ist richtig - wir haben das in der Protokollerklärung der Bundesregierung im Bundesrat auch gesagt -, dass wir einen Teil dieser Entlastung durch einen halben Mehrwertsteuersatzpunkt finanzieren werden, der der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung gestellt worden war. Das können wir deshalb tun, ohne dass die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung steigen, ohne dass es zu Engpässen kommt, weil es uns seit Übernahme der Bundesregierung durch Angela Merkel gelungen ist, die Arbeitslosenzahl von 5 Millionen unter Gerhard Schröder auf unter 3 Millionen zu senken. Wir werden diese Politik in den nächsten Jahren fortsetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der entscheidende Punkt, warum wir am Sonntagabend und am Dienstagabend nicht zu einem Ergebnis gekommen sind, bestand darin, dass der Kollege Kuhn von den Grünen und die Kollegin Schwesig von der SPD in vielem mit uns einer Meinung waren, aber am Ende sagten: Wir bestehen darauf, dass es zu einer Erhöhung des Regelsatzes kommt, egal auf welche Weise und egal in welcher Form. Das hat deutlich gemacht, dass es Ihnen nicht um gute Lösungen gegangen ist, sondern um Ideologie.
Der Kollege Kuhn hat einen Vorschlag präsentiert, der ungefähr so aussieht. Er hat gesagt: Wir erhöhen den Regelsatz durch die Erhöhung der Grundgesamtheit um etwa 17 Euro. Dann kürzen wir den Regelsatz wieder um 17 Euro, weil wir den Leuten weniger Geld für Mobilität geben. Dann sagen wir den Leuten, dass sie sich die Mittel für die Mobilität wiederholen können, indem sie zum Amt gehen und einen Antrag stellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das können Sie niemandem erklären. Aber ich kann Ihnen erklären, dass allein mit diesem Vorschlag Mehrkosten von 1,1 Milliarden Euro verbunden wären. Dies ist es mir nicht wert, Ihren ideologischen Steckenpferden gerecht zu werden, nur damit wir gute Lösungen, die wir haben - 23 Euro für Mobilität für jedermann -, dann auch noch verschlechtern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben in dieser ganzen Verhandlungsrunde eines gezeigt: dass Sie selbst nicht mehr hinter dem stehen, was als eine der wenigen positiven Errungenschaften aus der Zeit der rot-grünen Koalition übrig geblieben ist. Die Agenda 2010, Herr Kollege Steinmeier, die auch mit Ihr Werk war, hat mit dazu beigetragen, dass wir in der Arbeitsmarktpolitik zu einer grundlegenden Trendwende gekommen sind, dass heute mehr Menschen in Brot und Arbeit sind als jemals zuvor, dass wir heute über 40 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte haben.
Aber es gibt einen großen Teil Ihrer Fraktion, dem die ganze Richtung nicht passt. Sie haben all Ihre Bedenken und all Ihren Unmut gegen diese Agenda und gegen diese Reform, die ein Kernstück der Agenda war, benutzt, um die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss zu überfrachten, zu überladen, finanziell maßlos zu machen.
Deshalb war es richtig, dass wir die Notbremse gezogen haben, dass wir gesagt haben: Wir beenden dieses Vermittlungsverfahren an dieser Stelle und sorgen dafür, dass Vernunft in die Debatte einkehrt. Immerhin: Der Kollege Gabriel scheint es bemerkt zu haben; denn sein Angebot, jetzt noch einmal ruhig und sachlich zu reden, ist genau das, was wir die ganze Zeit über als Angebot gemacht haben.
Ich sage Ihnen: Wir können in den nächsten Tagen und Wochen dazu beitragen, dass wir zu einer Lösung kommen, die den Betroffenen schnell und unproblematisch ihre Ansprüche bei der Erhöhung des Regelsatzes um 5 Euro und beim Bildungspaket zugutekommen lässt. Das Einzige, was Sie tun müssen, ist, dass Sie von Ihren ideologischen Maximalforderungen abgehen und bereit sind,
anzuerkennen, dass das Paket, das wir auf den Tisch gelegt haben, ein gutes Paket ist, das den Menschen hilft, das den Kommunen hilft und das deshalb möglichst schnell in Kraft gesetzt werden sollte.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort zu zwei Kurzinterventionen nacheinander erteile ich dem Kollegen Fritz Kuhn und dann der Kollegin Ulla Schmidt.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lieber Herr Altmaier, nach sechs, sieben Wochen Verhandlungen war das jetzt, finde ich, unter Ihrem Niveau.
Sie waren in den Verhandlungen differenzierter als gerade hier.
Ich möchte klar sagen: Was die Verhandlungen so schwierig gemacht hat, war, dass Schwarz und Gelb, vor allem getrieben von der FDP, keine konkreten Kompromissvorschläge mehr gemacht haben,
sondern immer nur gesagt haben: Es gilt der Gesetzentwurf, über Weiteres reden wir nicht. Die FDP hat sogar Zickzackverhandlungen geführt.
Beim Thema Equal Pay wollte sie erst neun Monate, dann hat der Generalsekretär, der die Verhandlungen aus dem Hintergrund immer kommentiert hat, plötzlich sechs Monate gesagt.
Zwei Tage später sprach man wieder von neun Monaten.
Wenn es um Seriosität und Maximalforderungen geht, schauen Sie von Ihnen aus gesehen nach links. Dort sitzt die FDP; wir sitzen dort nicht.
Wir haben im Unterschied dazu in einer nicht enden wollenden Kette bis zur Schmerzgrenze immer neue Kompromissvorschläge gemacht,
weil wir wissen, dass Vermittlungsverfahren im deutschen System keine Veranstaltungen für Maximalforderungen sind, sondern dass man dort Kompromisse eingehen muss.
Was Sie uns nicht absprechen können, Herr Altmaier, ist, dass wir die Frage stellen und gestellt haben, ob die Regelsatzermittlung im Gesetzentwurf wirklich den Auflagen des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Wir sind der Überzeugung, dass dies nicht so ist und dass man da etwas verbessern muss. Denn Sie haben die Vergleichsgruppe, nach der der Regelsatz neu bestimmt wird, zuerst systematisch nach unten arm gerechnet, indem Sie statt der untersten 20 Prozent die untersten 15 Prozent der Einkommen betrachten, indem Sie die verdeckten Armen - entgegen der Auflage des Bundesverfassungsgerichts - nicht herausgerechnet haben und indem Sie auch die Aufstocker nicht herausgerechnet haben. In einem zweiten Schritt haben Sie die Grundlagen der Statistikmethode untergraben, indem Sie bei sehr vielen Einzelposten gekürzt haben oder sie ganz abgeschafft haben.
Daher rühren die Rechtsbedenken - nicht nur von uns, sondern auch von vielen Verfassungsexperten in Deutschland -, ob dieser Gesetzentwurf verfassungskonform ist. Werden Sie uns absprechen wollen, dass wir nicht bereit sind, Gesetze zu unterstützen, die wir für verfassungswidrig halten? Sie als Verfassungsrechtler, Herr Altmaier, glauben das doch, wenn Sie in den Spiegel sehen, ehrlich nicht.
Einen zweiten Punkt möchte ich ansprechen. Sie reden jetzt von dem großzügigen Angebot an die Gemeinden. In der Tat sollen die Gemeinden, wenn ich alles, was gegenzurechnen ist, abziehe, 1,7 Milliarden Euro erhalten. Die Kosten der Grundsicherung, die sie gerade tragen, liegen bei 3,5 Milliarden Euro. Sie müssen aufgrund des alten KdU-Streits auf etwa 1,8 Milliarden Euro verzichten.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege Kuhn, Sie müssen zum Ende kommen.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
- Ich bin gleich am Ende. -
Das macht netto 1,7 Milliarden Euro. Klar ist doch, dass dieses Angebot mit dem Verhandlungsgegenstand nichts zu tun hat. Sie haben einfach nebenher das Angebot von jährlich 1,7 Milliarden Euro für die Kommunen auf den Tisch gelegt und werfen uns vor, dass wir finanzpolitische Maximalforderungen stellen. Sie haben versucht, uns vor das Kanonenrohr zu schieben -
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
- ich bin sofort fertig - und vor die Alternative zu stellen: Bist du für die Hartz-IV-Empfänger oder für die Gemeinden? Wir sagen: Wir sind für die Hartz-IV-Empfänger und für die Gemeinden. Diese Nummer geht mit uns wirklich nicht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Die zweite Kurzintervention sollten wir vorne weg zulassen. Kollegin Schmidt, bitte.
Ulla Schmidt (Aachen) (SPD):
Vielen Dank. - Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil der Kollege Altmaier nach meiner Auffassung sehr unzureichend oder überhaupt nicht auf die Fragen geantwortet hat, die der Kollege Seifert und auch die Kollegin Ferner gestellt haben.
Ich habe in der letzten Woche eine Werkstatt für Behinderte besucht. 400 geistig schwerbehinderte Menschen arbeiten dort acht Stunden pro Tag ihren Fähigkeiten entsprechend. Etwa 200 von ihnen wohnen zu Hause bei ihren Eltern, die anderen circa 200 in Einrichtungen und Heimen, auch in solchen der Lebenshilfe. All diesen 400 Menschen sagt diese Regierung: Ihr bekommt den Regelsatz um 20 Prozent gekürzt. - Alle 400 sind dauerhaft erwerbsunfähig. Hier geht es nicht darum, Maximalforderungen zu erheben. Es geht auch nicht darum, Ansprüche auszuweiten.
Sie verringern mit Ihrem Gesetz den bestehenden Anspruch darauf, dass ein über 25-Jähriger, der zu Hause oder in einer Wohngemeinschaft lebt, gleichbehandelt wird, egal ob er im Hartz-IV-Bezug oder im SGB-XII-Bezug ist, wenn er dauerhaft erwerbsunfähig ist. Das ist eine Schande, und das hat mit Sozialpolitik nichts mehr zu tun.
Darauf würde ich gerne eine Antwort von Ihnen hören.
Das Bundessozialgericht hat gesagt: Es gibt keinen Grund für ein unterschiedliches Existenzminimum für beide Gruppen. Frau von der Leyen hat mir als Antwort auf meine Frage geschrieben: Wir halten das Gerichtsurteil für falsch, und deshalb ändern wir das Gesetz. Ich sage Ihnen: Da es hier um Ansprüche geht, können Sie doch nicht erwachsenen behinderten Menschen, die zu Hause leben und deren Eltern besondere Erschwernisse haben - sie müssen ihr Leben lang viel geben, um für ihre Kinder, auch wenn sie erwachsen sind, da zu sein -, sagen: Ihr braucht nur noch 80 Prozent des Regelsatzes.
Weil diese Menschen nur noch 80 Prozent des Regelsatzes bekommen, sagen Sie gleichzeitig - so Frau von der Leyen in ihren Antworten auf die schriftlichen Fragen, die wir ihr gestellt haben -, dass auch die Leistungen für Mobilitätshilfe und die Leistungen für besondere Förderungen sich in Zukunft nur noch auf 80 Prozent des Regelsatzes beziehen und nicht mehr auf 100 Prozent. Wenn Sie weiterhin von ?sozial? sprechen und das Soziale überhaupt noch für sich in Anspruch nehmen wollen, dann fordere ich Sie auf: Nutzen Sie die Chance eines neuen Vermittlungsverfahrens, und nehmen Sie diese Regelung als allererste zurück! Dafür haben die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land auch Verständnis.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege Altmaier, bitte.
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin Schmidt, Sie waren bei den Verhandlungen nicht dabei.
Ich habe vorhin gesagt: Ich kann mich nicht an jedes einzelne Detail erinnern, das die Kollegin Ferner erwähnt hat. Ich bin aber gerne bereit, zuzugestehen, dass sie es so, wie sie es geschildert hat, vorgetragen hat.
Ich saß in den entscheidenden Verhandlungsrunden mit Frau Schwesig, Herrn Oppermann und Herrn Kuhn an drei Tagen und in drei Nächten zusammen. Wir haben über 100 verschiedene Punkte gesprochen. Dieser Punkt ist von SPD und Grünen in dieser Chefrunde kein einziges Mal thematisiert worden.
Ich finde es nicht in Ordnung, dass Sie, wenn Ihnen dieser Aspekt nicht wert ist, in den Verhandlungen thematisiert zu werden, vor dem Forum der Öffentlichkeit so tun, als sei dies aus Ihrer Sicht der wichtigste Punkt der gesamten Veranstaltung gewesen.
Herr Kollege Kuhn, auch Sie waren in den Verhandlungen ein sachlicher und ein fairer Partner. Aber Sie sollten das, was vom Bundesrat beschlossen wird, genau lesen. Wenn Sie sagen, der Entlastung der Kommunen bei der Grundsicherung stünden Mehrbelastungen von 1,8 Milliarden Euro bei den KdU entgegen, dann dürfen Sie nicht vergessen, dass wir noch am Mittwoch die Protokollerklärung so geändert haben, dass in Zukunft eine Berechnung nach Istkosten erfolgt. Das hat große Freude bei den Kommunen und erhebliche Sorgen beim Finanzminister ausgelöst. Aber es ist ein Grund dafür, dass inzwischen immer mehr kommunale Vertreter sagen: Ihr müsst dieses Paket retten; denn dieses Paket wird unsere Lage durchgreifend verbessern.
Der zweite Punkt, lieber Kollege Kuhn, ist: Sie haben zu Beginn dieser Verhandlungen Forderungen gestellt. Sie haben jetzt gesagt: Man darf die Verhandlungen nicht überfrachten. - In der allerersten Runde, in der Sie uns Ihre Wünsche ausgebreitet haben, hatten Sie allerdings Wünsche für über 20 000 Sozialarbeiter im Gegenwert von 2,5 Milliarden Euro. Sie hatten Wünsche für Steigerungen des Regelsatzes an verschiedenen Stellen. Wenn man diese addiert, kommt man auf 2,5 Milliarden Euro.
Sie haben alle Ihre Wünsche aufgeführt, und daraufhin hat der Kollege Heil gesagt: Selbstverständlich reden wir über einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in ganz Deutschland.
Meine Damen und Herren, Sie können doch nicht glauben, dass Sie die Zahl der Weihnachtsgeschenke dadurch erhöhen, dass Sie Ihren Wunschzettel verlängern.
Wenn Sie alle unerfüllten Wünsche der letzten 20 Jahre, die Sie nicht einmal in Ihrer eigenen Regierungszeit ansatzweise realisiert haben, in ein solches Vermittlungsverfahren einbringen, dann ist das eine Überfrachtung und Überladung des Verfahrens. Deshalb haben wir Sie wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt.
Der letzte Punkt, meine Damen und Herren. Ich habe nicht damit angefangen, aus internen Verhandlungen zu zitieren. Aber wenn wir schon darüber sprechen, was wir intern gesagt haben, dann will ich auch darauf hinweisen, dass Sie in der vorletzten Verhandlungsrunde gesagt haben: Uns ist der Regelsatz besonders wichtig, und wenn wir uns da einigen, dann sind wir auch bereit, auf die Regelung von Equal Pay zu verzichten.
Das war Ihr Angebot in dieser letzten Verhandlungsrunde.
Als dann die Verhandlungen beendet waren, haben Sie schamhaft gesagt, Sie hätten Equal Pay jetzt doch gern nach vier Monaten.
Deshalb sage ich Ihnen: Sie haben sich bei diesen Verhandlungen vergaloppiert.
Sie haben sich bei diesen Verhandlungen übernommen.
Wir werden gemeinsam mit den Ministerpräsidenten von CDU und SPD dafür sorgen, dass dieses Gesetzespaket in einer annehmbaren und in einer praktikablen Form in nächster Zeit durch Bundestag und Bundesrat beschlossen werden kann.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach unserer Geschäftsordnung sind Kurzinterventionen auf Kurzinterventionen hin nicht zulässig. Deswegen, Kollege Altmaier, ist es misslich, wenn Sie in Ihrer letzten Antwort Dinge mitteilen, die die anderen Gesprächs- und Verhandlungspartner natürlich provozieren müssen,
ich diesen aber nicht die Gelegenheit geben kann, darauf zu antworten. Das ist ein bisschen eine schwierige Lage, ich bitte um Verständnis dafür. Weitere Kurzinterventionen werden nicht zugelassen.
Ich schließe die Aussprache.
Ich teile Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch mit: abgegebene Stimmen 565. Mit Ja haben gestimmt 313, mit Nein haben gestimmt 252, Enthaltungen keine. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 91. Sitzung - wird am
Montag, den 14. Februar 2011,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]