Navigationspfad: Startseite > Dokumente & Recherche > Textarchiv > 2010 > Historische Debatten: Tschenobyl
60 Jahre Bundestagsgeschichte - das sind 16 Legislaturperioden, acht Bundeskanzler und unzählige Reden, die im Plenum des Parlaments gehalten wurden. Einige Debatten in dieser Zeit waren besonders kontrovers, wie etwa die über die Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands 1952 oder die der Ostverträge 1972. Ein Streifzug durch die bedeutendsten Dispute und Entscheidungen der bisherigen 16 Wahlperioden.
Es war der bislang schwerste Unfall in der Geschichte der zivilen Atomenergienutzung: die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Am Samstag, 26. April 1986, explodierte in dem Kernkraftwerk nahe der nordukrainischen Stadt Prypjat gegen 1.24 Uhr nachts einer von vier Reaktoren. Große Mengen von Radioaktivität wurden bei der Explosion in die Luft geschleudert und verseuchten Böden vor allem in der Ukraine, in Russland und in Teilen Weißrusslands.
Eine Fläche von rund 40.000 Quadratkilometern wurde auf Jahrzehnte verstrahlt. Die radioaktive Wolke zog von dort zunächst nach Skandinavien, breitete sich aber dann über ganz Europa aus: In Deutschland ging der "Fallout" insbesondere über Regionen in Südbayern nieder.
Die Nachricht von dem Reaktorunfall löste in der Öffentlichkeit große Unruhe aus: In der ganzen Bundesrepublik kannte man plötzlich den Begriff Becquerel - die Einheit, mit der man die Aktivität eines radioaktiven Stoffes angibt. In der ersten Panik wurden ganze Salatfelder untergepflügt und sogar Straßensperren errichtet, um die Verbreitung des verseuchten Gemüses zu verhindern. Kinder durften nicht mehr im Sandkasten spielen.
Wie hoch muss die Strahlendosis sein, um Gesundheitsschäden zu verursachen? Die Wissenschaftler stritten, auch die Politik zeigte sich unsicher: Viele Bürger reagierten mit Angst und Wut. Sie warfen der Regierung Versagen vor.
Schnell entwickelte sich die hitzige Diskussion über das Ausmaß der radioaktiven Belastung zu einer sehr grundsätzlichen Debatte in Öffentlichkeit und Politik über die weitere Nutzung der Kernenergie - und vor allem konkret über den Bau der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage im opferpfälzischen Wackersdorf. Am 14. Mai 1986 kam der Bundestag in Bonn zu einer vierstündigen Plenardebatte zusammen, um über Tschernobyl und die Folgen des Unfalls zu beraten.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl (CDU), der eigentlich an diesem Tag eine Regierungserklärung zu einem bevorstehenden Wirtschaftsgipfel in Tokio abgeben wollte, widmete den Großteil seiner Rede der Reaktorkatastrophe. Über die Geschehnisse müsse schließlich gesprochen werden, so der Bundeskanzler. Da es um "menschliche Urängste" gehe, müsse dies unvoreingenommen, mit "Redlichkeit und Realismus" geschehen, mahnte Kohl und wandte sich damit ausdrücklich gegen das "Schüren einer Katastrophenstimmung".
Kohl verurteilte die sowjetische Informationspolitik scharf. Das Ausland sei erst Tage später über den Unfall in Kenntnis gesetzt worden war. Die Kernenergie selbst stellte der Bundeskanzler nicht grundsätzlich in Frage: "Sie bietet viele Chancen, aber wir müssen sie behutsam nutzen." Das tue Deutschland: Seine Kernkraftwerke gehörten zu den sichersten Anlagen der Welt und besäßen, anders als der Reaktor in Tschernobyl, mehrere unterschiedlich wirkende Sicherheitssysteme, versicherte Kohl.
Vor diesem Hintergrund sei das Restrisiko "vertretbar" und die Nutzung der Kernenergie "ethisch verantwortbar". Dennoch müsse der Vorfall in Tschernobyl Konsequenzen haben. Der Bundeskanzler kündigte an, sich international für höchste Sicherheitsstandards sowie eine sofortige Meldepflicht bei Störfällen einzusetzen.
Dr. Hans-Jochen Vogel genügte das nicht. Der SPD-Fraktionsvorsitzende griff die schwarz-gelbe Koalition scharf an: Nicht nur die Sowjetunion sei für ihre Informationspolitik zu kritisieren, sondern auch die Bundesregierung. Die "Hilflosigkeit gegenüber der Krise, die Widersprüchlichkeit der Informationen, der Bewertungen und Empfehlungen", so Vogel, sei erschreckend gewesen.
Wer außerdem nach dem Unfall in Tschernobyl das Restrisiko weiterhin als vertretbar bezeichne, der habe nichts gelernt, sagte der Politiker mit einem weiteren Seitenhieb auf seinen Vorredner Kohl. Nach Tschernobyl sei nichts mehr wie zuvor. Die Bundesregierung müsse im Hinblick auf die Nutzung der Kernenergie umdenken.
Vogel forderte, den Bau der Aufarbeitungsanlage Wackersdorf sowie die Inbetriebnahme des Schnellen Brüters in Kalkar zu stoppen. Auch wenn die deutschen Sicherheitsstandards strenger seien als die anderer Länder, lehne die SPD den Ausbau der Kernenergie ab. Die Nutzung vorhandener Kraftwerke sei nur noch für eine Übergangszeit zu verantworten. Ein Konzept, um die Kernkraft überflüssig zu machen, werde man erarbeiten.
Auf so einen Kompromiss wollten sich die Grünen jedoch nicht einlassen: Hannegret Hönes verlangte einen sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie und erhob schwere Vorwürfe. Die Hauptsorge nicht nur der Moskauer, sondern auch der Bonner Regierung gelte nicht der Gesundheit der Bevölkerung, sondern deren Irreführung.
Alle im Bau befindlichen Anlagen sollten nicht mehr in Betrieb genommen, alle Atomkraftwerke abgeschaltet werden, so die Abgeordnete der Grünen. Die Kernenergie berge zu große Risiken. Die Folgen des Unfalls in Tschernobyl hätten Deutschland tief getroffen, argumentierte Hönes, die Böden seien auf Jahre hinaus belastet und für den Anbau von gesunder Nahrung nicht mehr geeignet: "Strom können wir produzieren, aber kein gesundes Brot." Das verschweige die Regierung jedoch lieber.
"Alle 374 Kernkraftwerke auf dieser Erde sind Kriegserklärungen an die Menschen […]. Lassen Sie es mich noch einmal ganz deutlich sagen, damit das klar ist, meine Damen und Herren: Es ist verbrecherisch, Atomkraftwerke weiterlaufen zu lassen, alle Atomkraftwerke müssen abgeschaltet werden, hier und heute!"
Diese Forderung wies wiederum Dr. Alfred Dregger, Fraktionsvorsitzender der Union, zurück: Beim Stand der Kraftwerksentwicklung in der Welt und in Anbetracht ihrer geografischen Lage könne die Bundesrepublik Deutschland gar nicht die Rolle des Aussteigers übernehmen.
"Deutschland muss die Rolle des Vorreiters übernehmen, des Vorreiters in der Sicherheit der Kernenergie", so Dregger. Außerdem: Durch einen Ausstieg könne man nicht die Sicherheit verbessern, gab der CDU-Politiker zu bedenken. Denn die unsicheren Kraftwerke "in der Nachbarschaft" existierten weiter und blieben eine Bedrohung, auch wenn Deutschland keine mehr besäße.
Nachdenklich zeigte sich der Koalitionspartner FDP: Gerhart Baum, stellvertretender Parteivorsitzender, sagte, Deutschland erlebe eine Krise des Vertrauens in die Kernenergie: "Erneut wachsen die Zweifel an der Beherrschbarkeit komplexer technologischer Entwicklungen. Es stellt sich die Frage, ob wir nicht zu sorglos mit unserem Raumschiff Erde umgehen."
Die FDP habe nie leichtfertig dem Ausbau der Kernenergie und nur unter hohen Sicherheitsauflagen zugestimmt. Die Politik müsse aber weiterhin alles tun, um die Risiken der Kernenergie zu mindern, Deutschland habe die besten Sicherheitsstandards in der Welt.
Aber: "Die Begründungszwänge nehmen zu. Wir müssen darlegen, was wir tun", appellierte Baum. "Wir müssen auf die Menschen zugehen und uns ihren Fragen stellen." Der Liberale plädierte zudem für die Einsetzung einer neuen Enquete-Kommission, um die Debatte zu "versachlichen".
Zur Einsetzung der Enquete-Kommission kam es nicht. Die Bundesregierung reagierte stattdessen mit einer anderen Einrichtung: dem ersten Bundesumweltministerium in der Geschichte der Bundesrepublik. Am 6. Juni 1986 wurde Walter Wallmann (CDU) zum Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ernannt.
Seit dem Unfall in Tschernobyl wurde kein Kernkraftwerk in Deutschland mehr gebaut. 2000 beschloss die rot-grüne Regierung unter Dr. Gerhard Schröder (SPD) den Ausstieg aus der Atomenergie. Doch die Debatte um Chancen und Gefahren dieser Energie dauert bis heute an.