Navigationspfad: Startseite > Dokumente & Recherche > Textarchiv > 2010 > Jahresbericht Deutsche Einheit
Die Mehrheit der Redner hat in der Debatte am Donnerstag, 30. September 2010, zum Thema "20 Jahre Deutsche Einheit" die deutsche Vereinigung gewürdigt. Dennoch sorgten unterschiedliche Ansichten über die Bilanz der Einheit und die Lösung aktueller Probleme ostdeutscher Länder für eine kontroverse Debatte.
Kurz vor dem 20. Jahrestag der deutschen Vereinigung am Sonntag, 3. Oktober, sprachen sich die Fraktionen über die Politik der vergangenen zwei Jahrzehnte und Perspektiven des vereinten Deutschland aus. Im Vordergrund stand die Frage, was politisch noch umgesetzt werden muss, damit die Einheit vollendet werden kann. Die zunächst geplante Aussprache über den Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit ( 17/3000) wurde abgesetzt. Bis auf einen Abgeordneten kamen alle Redner aus den neuen Bundesländern. Abgelehnt wurden Entschließungsanträge der SPD und der Linksfraktion.
Eröffnet wurde die Debatte von Prof. Dr. Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, mit dem Bekenntnis: "Wir wollten die Freiheit und bekennen uns auch heute noch dazu. Welche Konsequenzen die Vereinigung haben würde, war damals niemandem bewusst."
Er sprach von der subjektiven Empfindung von Menschen ohne Arbeit, die sich enttäuscht fühlten von der Freiheit. Dabei sei die ostdeutsche Wirtschaftsleistung je Einwohner um hundert Prozent gestiegen, wenn auch das Niveau noch nicht die der westdeutschen erreicht habe.
Für ihn sei der Mauerfall und die deutsche Vereinigung "wie ein Wunder“, doch gebe es noch Probleme, die "uns noch weiter begleiten werden". Dazu zählte er die unterbrochenen Erwerbsbiografien, die geringeren Renten, Altersarmut und finanzschwache Kommunen.
Aus eigener Wirtschaftskraft sind laut Böhmer die neuen Bundesländer noch nicht überlebensfähig. "Für die riesigen finanziellen Hilfen sind wir sehr dankbar, doch möchten wir nicht mehr hilfsbedürftig sein, sondern selbst wettbewerbsfähig“, sagte Böhmer und plädierte dafür, eine Innovationspolitik im Osten ohne Argwohn untereinander zuzulassen.
Strukturelle Probleme seien bei Weitem nicht gelöst, stellte Dagmar Ziegler, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, fest. Sie bezog sich mehrmals auf den Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit und kritisierte daran, dass "Wort und Tat keine Einheit“ seien.
Der Bericht bekenne sich zur Förderung des Ostens, doch würde die Bundesregierung genau da kürzen, wo es den Osten besonders treffe. Sie kritisierte den aktuellen Haushaltsentwurf der Bundesregierung. Einsparungen, etwa für Arbeit und Soziales, träfen vor allem den Osten, wo es mehr Geringverdiener und Arbeitslose gebe. Deshalb lautete ihr Schlussappell an die Koalition: "Schauen Sie sich die Auswirkungen an. Fahren Sie mal in den Osten.“
Es seien die Ostdeutschen gewesen, die die Mauer eingerissen hatten, sagte der FDP-Abgeordnete Patrick Kurth - "eine beachtliche Leistung". Für ihn belegt der Bericht zur deutschen Einheit, dass seitdem "ein kleines Wirtschaftswunder stattgefunden hat“. Aber er gab auch zu bedenken: "20 Jahre Einheit können 40 Jahre Teilung nicht ohne Spuren heilen.“
Die DDR habe eine zerstörte Infrastruktur, eine kaputte Unternehmerkultur hinterlassen, viele seien in den Westen abgewandert. Inzwischen sei die Arbeitsproduktivität von 43 auf 73 Prozent gestiegen. Die osteuropäischen Nachbarstaaten lägen heute bei 30 Prozent.
Kurth sagte, "Aufbau Ost“ sei im Westen und im Osten unbeliebt und würde mehr trennen. Die Themen seien jetzt aber gesamtdeutsch. So sei die Überalterung kein reines ostdeutsches Problem, und der Osten könnte Vorbild für den Westen sein im Umgang damit.
Er wolle lieber mehr von der Aufbruchstimmung der Menschen lernen. "Sie hatten eine Vision vom besseren, selbstbestimmten Leben. Das könnte Vorbild für unsere Gesellschaft heute sein“, sagte Kurth.
Dr. Gesine Lötzsch (Die Linke) nannte die Einheit "alles andere als gelungen“. 34 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger lebten im Osten, dabei stellten die Ostdeutschen nur 15 Prozent der Bundesbürger.
Der Osten sei zwar arm, aber schlau. Davon profitiere wiederum der Westen, weil gute Leute in den Westen gingen, sagte Lötzsch weiter. Ein Ziel für eine gelungene Einheit müssten gleiche Renten, gleiche Löhne, gleiche Anzahl von Poliklinikern und Kindergärten sein.
Sie kritisierte alle Bundesregierungen bis heute dafür, dass gut gebildete Ostdeutsche keine Chance bekommen würden aufzusteigen: "Nur die Kanzlerin stammt aus dem Osten.“
Aber kein einziger ehemaliger Bürgerrechtler der DDR sei in dieser Bundesregierung. Lötzsch zog eine negative Bilanz: "Seit dem Fall der Mauer hat sich für viele Menschen in den alten Ländern das Leben verschlechtert.“
Das Thema Ostdeutschland auf Hartz IV zu reduzieren, nannte Stephan Kühn (Bündnis 90/Die Grünen) falsch. Der baupolitische Sprecher der Grünen im Bundestag erkannte die positive Bilanz an, sah aber auch Schatten. So sei die verfestigte Arbeitslosigkeit doppelt so hoch und junge gut Gebildete, die als Unternehmensgründer und Betriebsnachfolger dringend gebraucht würden, wanderten ab statt zu bleiben. "Man wird das nicht mit einem niedrigen Lohnniveau erreichen können“, sagte er. Seine Fraktion schlage vor, den Solidaritätszuschlag in einen "Bildungssoli" umzuwandeln.
Er kritisierte ebenfalls die Sparmaßnahmen der Bundesregierung. Damit würden die Rahmenbedingungen schwieriger. Er plädierte für einen Wechsel der Förderpolitik: "Statt zehn Kilometer Autobahn lieber ein Fraunhofer-Institut.“ Der Schlüssel zur "Reökonomisierung“ liege bei erneuerbaren Energien, bei den "jungen Umwelttechnologien" und Informationstechnologien.
Als einziger Abgeordneter aus den alten Bundesländern sprach Michael Glos, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion. Er dankte den Menschen der ehemaligen DDR, die demonstriert und die Risiken auf sich genommen hatten.
Für Glos ist Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Beispiel dafür, wie die Menschen aus den neuen Ländern angenommen wurden. Dann hob er die Leistungen der damaligen Regierung von Bundeskanzler Kohl hervor. "Das Vertrauen, das die Deutschen in der Welt erworben haben, hat das Wunder mit möglich gemacht“, sagte Glos. Er führte aus, wie wichtig es gewesen sei, sich für die soziale Marktwirtschaft und die D-Mark entschieden zu haben. Dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland am Ende so verlaufen ist, nannte er "einen Grund zur Freude und nicht zum Jammern“. (sq)