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Es war ein historischer Tag, dieser 2. Dezember 1990, der erste Adventssonntag im Jahr: Zum ersten Mal seit November 1932 fand in ganz Deutschland wieder eine freie Parlamentswahl statt. Nur zwei Monate nach den Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 waren neben den rund 46,5 Millionen wahlberechtigten Westdeutschen auch gut elf Millionen Wahlberechtigte in Ostdeutschland sowie etwa 2,5 Millionen Berliner aufgerufen, den zwölften Deutschen Bundestag zu bestimmen.
Die besondere Bedeutung dieser Wahl war auch den Wahlkämpfern bewusst: So betonte der damalige Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm (CDU) immer wieder: "Der Wahlkampf 1990 ist nur mit dem Wahlkampf 1949 zu vergleichen. Wieder beginnt ein neuer Streckenabschnitt in der Geschichte unseres Vaterlandes!"
Blüm hatte recht, tatsächlich war der Wahlkampf ein ungewöhnlicher. Stand er doch voll und ganz im Zeichen eines einzigen Themas: der deutschen Einheit. Deren Finanzierung entwickelte sich dabei zur zentralen und heftig diskutierten Frage. Während Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, Spitzenkandidat der Union, die Verwandlung der fünf neuen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt in "blühende Landschaften" prophezeite, warnte Oskar Lafontaine, Kanzlerkandidat der SPD, vor explodierenden Kosten, steigender Staatsverschuldung und unausweichlichen Steuererhöhungen.
Vielleicht lag es an der Diskussion um diese finanziellen Folgen, doch zwei Monate nach der feierlich vollzogenen Wiedervereinigung schien die große Euphorie in der Bevölkerung verflogen zu sein. Zwar tourten die Wahlkämpfer kreuz und quer durch das Land, füllten zwischen Flensburg und München, Cottbus und Aachen wie sonst auch bei Wahlkämpfen Plätze und Säle, doch die Stimmung blieb insgesamt matt.
Der Wahlkampf kam nicht in Gang. Den Grund dafür sahen viele Beobachter in einer gewissen Müdigkeit des zentralen Themas der Wiedervereinigung gegenüber. Mehr als ein Jahr nach dem Mauerfall, der die Menschen politisiert hatte, waren nun alle Argumente über den Weg zur Einheit ausgetauscht - der Wahlkampf konnte nicht mehr viel bewegen.
Hinzu kam, dass der Wahlausgang längst festzustehen schien: Die wöchentlichen Meinungsumfragen sahen stets die CDU, die Partei des Kanzlers, mit der CSU vorne. Auch ihrem bisherigen Koalitionspartner, der FDP, prognostizieren die Demoskopen ein glänzendes Wahlergebnis. Abgeschlagen hingegen die SPD. Selbst deren Anhängern ging in den Wochen vor dem Urnengang peu à peu der Glaube abhanden, dass ihr Spitzenkandidat die Wahl noch gewinnen - oder wenigstens ein gutes Ergebnis einfahren würde.
Zwar vermochte Lafontaine bei öffentlichen Auftritten mit seiner rhetorischen Stärke Stimmung zu machen, doch gegen Kohl, der als "Kanzler der Einheit" einen gehörigen Amtsbonus genoss, hatte sein Herausforderer keine Chance.
Kohl, der maßgeblich am Zustandekommen der Einheit mitgewirkt hatte, betonte mit viel nationalem Pathos die Chancen der Wiedervereinigung und versprühte Optimismus. Lafontaine hingegen legte in seinen Wahlkampfreden immer wieder den Finger in die Wunde. Er thematisierte die steigende Arbeitslosigkeit in der früheren DDR, den Zusammenbruch der dortigen Industrie, die Sicherung der Renten.
Doch Lafontaines Pessimismus kam nicht an: Gerade die Menschen in den neuen Bundesländern taten sich schwer mit dem bewusst antinational und kühl argumentierenden Saarländer. Ihre Seelenlage traf nicht er, sondern der amtierende Bundeskanzler.
Das zeigte sich schließlich bei der Wahl, bei der - wieder eine Besonderheit des ersten gesamtdeutschen Urnengangs - zwei Wahlgebiete galten. Diese Einteilung in ein Wahlgebiet West und ein Wahlgebiet Ost mit separat zu berechnender Fünf-Prozent-Sperrklausel sollte die Chancengleichheit der kleineren Parteien sichern.
Kurz vor der Wahl hatte das Bundesverfassungsgericht nämlich entschieden, dass die Situation des gerade erst wiedervereinten Deutschlands einen besonderen Umstand darstellt und auch eine Fünf-Prozent-Sperrklausel für das gesamte Wahlgebiet in diesem speziellen Fall verfassungswidrig sei. Aus diesem Grund musste eine Partei entweder im alten Bundesgebiet einschließlich West-Berlins oder im neuen Bundesgebiet mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten, um in den Bundestag einzuziehen. Eine Regelung, die de facto eine Abschwächung der Fünf-Prozent-Hürde darstellte.
Erstmals durften 1990 auch die West-Berliner direkt den Bundestag mitwählen. Die bisher geltende Sonderregelung, nach der die 22 Berliner Bundestagsabgeordneten vom Berliner Abgeordnetenhaus gewählt wurden, fiel weg.
Als die Wahllokale am 2. Dezember schlossen und die Stimmen ausgezählt wurden, war bald klar, dass die Demoskopen Recht behalten hatten: Klarer Sieger der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl war die bisherige Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP. Auf die Union entfielen 43,8 Prozent der Stimmen, auf die FDP, die mit ihrem populären Außenminister und Vize-Kanzler Hans-Dietrich Genscher zugelegt hatte, elf Prozent.
Die SPD stürzte dagegen von 37 auf 33,5 Prozent ab und erreichte ihr bis dato schlechtestes Ergebnis seit 1957. Die Wahlanalytiker waren sich über die Ursachen schnell einig: Die Sozialdemokratie hatte auf das richtige Thema gesetzt - aber zur falschen Zeit.
Noch härter als die SPD traf es die Grünen in Westdeutschland: Sie hatten im Wahlkampf das Thema Atomausstieg thematisiert, aber damit kaum Wähler mobilisieren können. Mit 3,8 Prozent scheiterten sie an der Fünf-Prozent-Hürde. Die Einteilung in zwei Wahlgebiete sicherte aber immerhin der östlichen Listenverbindung Bündnis 90/Grüne, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit den Grünen im Westen vereinigt war, den Einzug in den Bundestag mit insgesamt acht Abgeordneten.
Auch die SED-Nachfolgepartei PDS/Linke Liste hatte von der getrennten Sperrklausel profitiert und erhielt trotz der bundesweit erzielten 2,4 Prozent der Stimmen 17 Sitze im Parlament. Für einen Fraktionsstatus war dies allerdings zu wenig. Wie auch Bündnis 90/Die Grünen bekam die PDS nur einen Gruppenstatus zuerkannt.
Relativ gering war auch die Wahlbeteiligung im Vergleich zu den vorhergegangenen Bundestagswahlen: Nur 77,8 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab.
18 Tage nach dem Urnengang, am 20. Dezember 1990, kam der Bundestag zu seiner Konstituierung zusammen - nicht in Bonn, sondern symbolträchtig im Berliner Reichstagsgebäude. Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) eröffnete als Alterspräsident die erste Sitzung; Prof. Dr. Rita Süssmuth (CDU) wurde erneut als Bundestagspräsidentin im Amt bestätigt.
Am 17. Januar 1991 wählte dann der Bundestag Helmut Kohl mit 378 Ja-Stimmen gegen 275 Nein-Stimmen und neun Enthaltungen zum ersten Bundeskanzler im wiedervereinigten Deutschland.
In seiner Regierungserklärung versprach Kohl eine zügige Umsetzung seiner Wahlversprechen: Die "geistige, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Einheit Deutschlands" sowie eine rasche Angleichung der Lebensverhältnisse für die Menschen in den alten und neuen Bundesländern. (sas)