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Dass der renommierte Karlspreis demnächst an Jean-Claude Trichet, den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, verliehen werden soll, findet Karl Schlögel nicht falsch. Aber noch lieber würde er ihn denen geben, die sich im Kleinen, im Verborgenen für das Zusammenwachsen Europas starkmachen: An Busfahrer, die Reisende vom Nordkaukasus nach Schottland kutschieren; an Händler, die in den Neunzigern aus dem litauischen Kaunas nach Warschau pendelten, um sich mit neuen Waren einzudecken; oder an polnische Bauarbeiter, ohne die "Berlin nach der Wende nicht in diesem Thema neu aufgebaut worden wäre“.
Prof. Dr. Karl Schlögel ist Historiker, an der deutsch-polnischen Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder hat er einen Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte inne. Er fühlt sich aber nicht nur in der Welt der Archive zu Hause, sondern hat auch zahlreiche Reisen nach Ost- und Mitteleuropa unternommen und seine Beobachtungen in mehreren Büchern festgehalten.
Am Mittwoch, 8. Dezember 2010, war er in das Berliner Marie Elisabeth-Lüders-Haus eingeladen, um sich im Rahmen der Vortragsreihe "W-Forum" der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages mit der Frage zu beschäftigen, wo denn die Grenzen Europas liegen.
In seinem Vortrag macht Schlögel klar, dass für ihn die Welt der Alltagserfahrungen und kleinen Beobachtungen genauso wichtig ist wie die Welt der großen Politik und bürokratischen Regelungen. Er ist überzeugt, dass die "Verknüpfung Europas“ ebenso von den Wanderarbeitern abhängt, die täglich aus der Ukraine oder aus Rumänien ins norditalienische Bergamo aufbrechen, wie von prominenten Akteuren wie Trichet.
Aber wo liegen die Grenzen Europas denn nun tatsächlich? Eine endgültige Antwort auf diese Frage wusste natürlich auch Schlögel nicht zu geben. Er betonte aber, dass Europa für ihn in erster Linie ein geografischer Raum "von Skandinavien bis Griechenland, von Großbritannien bis zum Ural“ sei und nicht primär ein Raum gemeinsamer Werte: "Sonst gäbe es keinen Grund, Los Angeles nicht auch in Europa einzubeziehen."
Auch das geistige Fundament Europas sei breiter und zweideutiger, als die aktuellen Floskeln von "Hellas, christlich-jüdischer Kultur und Renaissance“ suggerierten: "Europa hat Kant und Hitler hervorgebracht, Dostojewski genauso wie Stalin.“
Aufgrund seiner geografischen Definition wandte sich der Historiker auch gegen die Formulierung, Ost- und Mitteleuropa seien nach den friedlichen Revolutionen "wieder nach Europa zurückgekehrt“: Die dort liegenden Länder seien die ganze Zeit ein Teil Europas gewesen.
Bei der Überwindung von Grenzen setzt Schlögel auf diejenigen, die nicht mehr der "Generation Marienborn“ angehören: Die Älteren hätten die demütigenden Kontrollen am Grenzkontrollpunkt Marienborn an der innerdeutschen Grenze noch erlebt. Ost-Berlin habe sich für sie weiter entfernt angefühlt als "Mallorca und New York“.
Die junge Generation dagegen eigne sich das neue Europa ohne belastende Erinnerungen an. Dabei seien besonders gemeinsame Erlebnisse wichtig, findet Schlögel und freute sich, dass junge Leute aus dem ostpolnischen Bialystok vor einigen Jahren 800 Kilometer nach Berlin zur Love Parade fuhren.
Eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union - denn das ist die Gretchenfrage des Themas - lehnt Schlögel übrigens ab. Doch unterhalb dieser Schwelle gebe es "Hunderte Formen der Zusammenarbeit“ mit dieser "europäisch-asiatischen Macht“. (ktk)