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Lange war über ihn gestritten worden - vor einem Jahr, am 1. Dezember 2009, ist er in Kraft getreten: der Lissabon-Vertrag. Als Europäische Verfassung im Jahr 2002 gestartet, blieb das bis dato größte europäische Reformprojekt im Jahr 2005 in zwei Referenden an den Nein-Stimmen der Franzosen und Niederländer stecken. Damit die Arbeit aber nicht umsonst war, übernahmen die Staats- und Regierungschefs wesentliche Teile der Verfassung im Jahr 2007 in Lissabon. Statt die EU- und EG-Grundlagenverträge durch eine Verfassung zu ersetzen, wurden sie durch den Lissabon-Vertrag nur abgeändert und umbenannt.
Doch nach einem negativen Referendum in Irland im Jahr 2008 drohte auch das neue Reformwerk zu scheitern. Zusätzlich standen die Mitgliedstaaten Polen und Tschechien dem Vertrag sehr skeptisch gegenüber. Auch in Deutschland galt die Zustimmung nicht als sicher, weil mehrere Organstreitverfahren und Verfassungsbeschwerden unter anderem vom Bundestagsabgeordneten Dr. Peter Gauweiler (CSU) und der Fraktion Die Linke gegen den Lissabon-Vertrag anhängig waren.
Zwar erklärte das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil am 30. Juni 2009 den Vertrag für vereinbar mit dem Grundgesetz, doch das Gericht entschied auch über das mit dem Vertrag eingereichte Begleitgesetz, das die Rolle des Parlaments gegenüber der Europäischen Union und das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung regeln sollte.
Das Begleitgesetz zur "Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union" ( 16/8919) war vom Deutschen Bundestag in der Sitzung vom 24. April 2008 von den Fraktionen CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke verabschiedet worden.
Nach Ansicht der Verfassungsrichter gewährleistete es jedoch keine hinreichenden Beteiligungsrechte für Bundestag und Bundesrat in Rechtsetzungs- und Vertragsveränderungsverfahren der EU. Das Gericht erklärte das Gesetz für verfassungswidrig.
Eilig traten die Abgeordneten in der Sommerpause am 26. August zusammen, um die Reform zu retten - Ziel der Parlamentarier war es, vor dem zweiten Referendum in Irland mit der Ratifizierung des Vertrages das Reformprojekt zu stärken.
Statt einem Gesetz legten die Parlamentarier zur ersten Lesung nun vier vor; darunter das Integrationsverantwortungsgesetz ( 16/13923), das die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil umsetzt und die Beteiligung von Bundestag und Bundesrat unter anderem bei Änderungen der Verträge, die nicht dem üblichen Ratifikationsverfahren unterliegen, und bei der Anwendung von primärrechtlichen Rechtsgrundlagen, mit denen die Kompetenzen der EU ausgedehnt werden können, festschreibt.
In namentlicher Abstimmung wurden die Begleitgesetze ( 16/13923, 16/13924, 16/13925, 16/13926) mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP, der Oppositionsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke am 8. September nach der zweiten und dritten Lesung angenommen. Ein Gesetzesentwurf ( 16/13928) der Fraktion Die Linke war mit den Stimmen der übrigen Fraktionen abgelehnt worden.
Nachdem schließlich die Iren am 2. Oktober 2009 für den Reformvertrag votiert hatten, gaben auch die EU-skeptischen Präsidenten Polens und Tschechiens ihre Blockade auf. Der Lissabon-Vertrag konnte am 1. Dezember 2009 in Kraft treten.
Der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU/CSU), sieht durch die "Parlamentarisierung" der Europapolitik nicht nur die Position des Bundestages gegenüber der EU gestärkt, sondern auch gegenüber der eigenen Regierung: "Seitdem ist in allen Belangen der Europapolitik auch ein stärkeres Zugehen der Bundesregierung auf das Parlament festzustellen."
Besonders durch die "Stellungnahmen", mit denen sich der Bundestag positioniere, werde die Regierung an "Wertungen und Einschätzungen" gebunden. Verbrieft sind in Deutschland diese Rechte in Artikel 23 des Grundgesetzes, der eigens im Zuge der Reform erweitert wurde. Und wenn dennoch einmal von den Vorgaben des Bundestages abgewichen wird, dann ergebe sich daraus "ein Rechtfertigungszwang gegenüber dem Parlament", so Krichbaum.
Die signifikante Erhöhung der Anzahl der Stellungnahmen in EU-Fragen in den vergangenen zwölf Monaten wertet der EU-Ausschussvorsitzende als Zeichen dafür, dass sich die Abgeordneten der Fachausschüsse des Bundestages zunehmend mehr mit der Europapolitik beschäftigen.
Am 7. Oktober 2010 machten die Koalitionsfraktionen auch erstmals Gebrauch von der sogenannten Subsidiaritätsrüge gegenüber der EU, die mit einem Entschließungsantrag ( 17/3239) auf den Weg gebracht wurde. Die Rüge war mit den Stimmen von CDU/CSU, der FDP und Die Linke gegen die Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschlossen worden.
Die Initiative richtete sich an die Europäische Kommission, die in einem Gesetzesvorschlag verlangte, dass unterschiedslos alle Banken in der EU ein gemeinsames Einlagensicherungssystem einführen sollten, um auf künftige Finanzkrisen besser reagieren zu können (Ratsdokument 12386/10).
Der Bundestag sah in dem Vorschlag den Subsidiaritätsgrundsatz verletzt, wonach die EU nur das regeln soll, was nationalstaatlich nicht befriedigend geregelt werden kann. Weil in Deutschland die Einlagensicherung von Sparkassen und Genossenschaftsbanken auf dem System der gegenseitigen Institutssicherung beruht, konnten sie bislang von solch einer Pflicht befreit werden.
Nach Ansicht des Bundestages hätte eine zusätzliche Verpflichtung zur Einlagensicherung die Bildung zusätzlicher Rückstellungen erfordert und Wettbewerbsnachteile zur Folge gehabt. Ziel der Subsidiaritätsrüge war, dass die EU-Kommission zur Überprüfung ihres Vorschlags gezwungen wird.
Mit seinem Vorstoß ist der Bundestag jedoch gescheitert. Erfolgreich ist eine Subsidiaritätsrüge, wenn sie von einem Drittel der 27 nationalen Parlamente unterstützt wird. Doch nur die Parlamente von Schweden und Dänemark hatten sich der Initiative angeschlossen. Zu wenige, um die Kommission in die Schranken zu weisen.
Der EU-Ausschussvorsitzende Gunther Krichbaum zieht dennoch ein positives Fazit: "Zwar wurde dabei das notwendige Quorum nicht erreicht. Es zeigt sich aber, dass die Vorhaben aus Brüssel im Bundestag kritisch, aufmerksam und dennoch konstruktiv verfolgt werden."
Damit aber in Zukunft die Einbringungen der Mitgliedsländer erfolgreich sind, müssten sich nach Ansicht Krichbaums die nationalen Parlamente untereinander besser abstimmen, um Mehrheiten zu organisieren. Ein Hindernis auf dem Weg erfolgreicher Europapolitik sei aber, dass die Mitwirkungsrechte der einzelnen Parlamente in europapolitischen Fragen nicht gleich ausgestaltet und die Ausschüsse in den europäischen Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ausgestattet sind.
"Deshalb ist die gegenseitige Vernetzung der Europaausschüsse und -politiker wichtiger denn je. Dies ist eine zentrale Herausforderung für die COSAC, die gemeinsame Konferenz der nationalen Europaauschüsse", sagt Gunther Krichbaum. (eis)