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Ob in den letzten Monaten "die Proteste oder lediglich das öffentliche Interesse an ihnen zugenommen hat, wissen wir noch gar nicht", sagte Dieter Rucht im Gespräch mit der Wochenzeitung. Es gebe allerdings einen Wandel, weil Demonstrationen seit den 1970er und 1980er Jahren ihr "Nimbus von Querulantentum und Staatsgefährdung immer mehr verloren" hätten. Sie seien "bis hinein in staatsnahe Berufe" zu einer weithin akzeptierten Ausdrucksform geworden. Für "grandios überschätzt" hält der Forscher die Rolle der neuen Medien für die Protestbewegung. Das Internet tauge nicht zur "Weckung von politischem Interesse", Foren wie Facebook würden von "ohnehin schon Interessierten" für politische Information und Aktion genutzt. Im Falle von "anhaltenden Polarisierungen und knappen Mehrheiten im Parlament" plädiert Rucht für direktdemokratische Entscheidungen, beispielsweise durch Volksentscheide.
Das Interview im Wortlaut:
Allerorten ist zurzeit von der Kluft zwischen
Regierenden und Regierten die Rede. Ist diese tatsächlich
tiefer geworden?
Das ist schwer zu sagen.
Regelmäßig im selben Wortlaut gestellte Umfragen lassen
ein sinkendes Vertrauen in Regierung und Politiker kaum erkennen.
Fragt man allerdings nach konkreten Ereignissen, ergibt sich ein
anderes Bild. Als wir anlässlich des geplanten Bahnhofs in
Stuttgart die Menschen gefragt haben, ob sie glauben, es werde
über sie hinweg regiert, sagte eine große Mehrheit: Ja!
Eins steht in jedem Fall fest: In den Medien ist die
Unzufriedenheit ein immer größeres Thema.
Die Proteste der jüngsten Zeit, allen voran der in
Stuttgart, gaben ja auch reichlich Anlass dazu.
Auch
für das Protestverhalten insgesamt gilt aber: Ob die Proteste
oder lediglich das öffentliche Interesse an ihnen zugenommen
hat, wissen wir noch gar nicht. Wir wissen nur, dass
die mediale Aufmerksamkeit für Aktionen gegen Stuttgart 21 wie
auch gegen die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke
enorm ist. Und: Es wird sehr positiv berichtet - was wiederum einen
verstärkenden Effekt für diese Protestbewegungen hat.
Stimmt denn die Annahme, dass sich in Stuttgart eine
neue Qualität zeige: Statt der üblichen Verdächtigen
gehe jetzt auch die bürgerlich-konservative Mittelschicht auf
die Barrikaden?
Auch das ist nicht neu. In Stuttgart
verdichtet sich nur eine seit Jahrzehnten anhaltende Entwicklung.
Seit den 1970er und 1980er-Jahren haben Demonstrationen ihren
Nimbus von Querulantentum und Staatsgefährdung immer mehr
verloren. Sie sind eine weithin akzeptierte Ausdrucksform geworden
- bis hinein in staatsnahe Berufe. Ärzte und Milchbauern tun
ihren Unmut kund; sogar Polizisten. Schon vor 15 Jahren beteiligten
sich Mitglieder einer Landesregierung, nämlich der
bayerischen, an einer Demonstration gegen das
Bundesverfassungsgericht. Das hatte zum großen Unmut der CSU
geurteilt, religiöse Kreuze sollten auf Antrag aus den
Klassenzimmern verschwinden. Dass ein Verfassungsorgan sich am
Straßenprotest gegen ein anderes Verfassungsorgan beteiligt,
wäre noch in den 1970er-Jahren undenkbar gewesen.
War Protest in Deutschland nicht schon immer eher
bürgerlich? Auch 1968 gingen vor allem Studierende aus der
Mittelschicht auf die Straße.
Im 19. und auch
zunächst im 20. Jahrhundert war Protest durchaus eine Sache
der unteren Schichten: Von den Bergarbeiterstreiks 1880 über
die Demonstrationen zur Wahlrechtsreform bis in die Weimarer
Republik gingen vor allem Arbeiter auf die Straße. 1968
protestierten zwar tatsächlich eher die Kinder der
Mittelschicht. Aber anders als heute wollten sie nicht einen
moderierten Dialog mit dem Staat führen oder ihren Status
verbessern - sondern eine andere Weltordnung. Das hatte eine andere
Qualität.
Welche Rolle spielen denn Parlamente bei Konflikten und
Protesten?
Parlamente können Orte des
Interessenausgleichs sein. Und sie sind es auch vielfach.
Häufiger jedoch werden sie - teils zu Recht, teils zu Unrecht
- als eine Bühne wahrgenommen, wo sich Politiker in
Selbstdarstellungen gefallen und sich wechselseitig schlecht
machen. Dazu trägt die Fixierung der Medien auf den
Nachrichtenwert von Streit und Konflikt bei.
Parlamente reagieren häufig erst auf Proteste aus
der Bevölkerung. Wie können sie dazu beitragen,
Unzufriedenheit zu vermeiden?
Bei anhaltenden
Polarisierungen und knappen Mehrheiten im Parlament wäre es
denkbar, die Entscheidung dem Volk zu überlassen.
Woraus beziehen Bürgerinitiativen oder
Demonstranten ihre Legitimation? Im Gegensatz beispielsweise zu
Abgeordneten sind sie schließlich nicht
gewählt.
Sie haben keinen Auftrag, die
Interessen anderer zu vertreten und sind in diesem Sinne nicht
legitimiert. Andererseits können solche Gruppen sehr wohl
legitime Anliegen vortragen, sei es in eigener Sache oder im Sinne
des Gemeinwohls. Dabei haben sie zuweilen sogar den Vorteil, dass
sie von parteipolitischen und wahltaktischen Rüchsichten frei
sind. Insofern können sie leichter unbequeme Fragen aufwerfen
und über die nächste Wahl hinausdenken.
Wenn heute von einer "Dagegen-Republik" die Rede ist -
war Deutschland in den 60er, 70er Jahren nicht viel mehr eine
Dagegen-Republik? Auch von Seiten des Staates wurden die
Auseinandersetzungen mit sehr viel mehr Härte
geführt.
Das ist richtig; die Forderungen waren
aber auch ganz andere: Weite Teile der Studentenbewegung wollten
nicht allein mehr Mitbestimmung oder mehr Demokratie - sondern eine
sozialistische Revolution im Schulterschluss mit den
Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Heute steht das System nicht
im Grundsatz zur Debatte. Sondern nur seine Ausgestaltung, manchmal
auch nur der eigene Lebensstandard.
Gehen die Protestierenden heute aus egoistischen Motiven
auf die Straße?
Eher nein. Aber solche Proteste
gibt es natürlich: Wenn Bürger von Berlin bis
München gegen Flugrouten oder gegen eine
Müllverbrennungsanlage protestieren, schwingt der Gedanke
"Macht das doch bitte nicht hier, sondern woanders" bei vielen mit.
Den Bahnhofsgegnern in Stuttgart, aber auch den
Anti-Atom-Protestlern, geht es jedoch nicht um persönliche
Anliegen.
Eine andere gängige Annahme ist: In Stuttgart gehen
Ältere auf die Straße als
sonst.
Ältere ja - Alte nein. Die 45- bis
64-Jährigen sind deutlich überproportional vertreten;
Jüngere eher seltener dabei. Außerdem ist ihr
Bildungsgrad sehr viel höher als in der
Gesamtbevölkerung. Wer glaubt, es seien besonders viele
CDU-Wähler unter ihnen, irrt allerdings. Laut unserer Umfrage
ordnen sich nur neun Prozent den Christdemokraten zu. Beinahe jeder
zweite steht den Grünen nahe.
Sind protestierende Menschen in der Regel
Nicht-Wähler?
Nein. Protestierende beteiligen
sich im Allgemeinen in überdurchschnittlichem Maße an
Wahlen. Dies zeigte sich zuletzt auch bei einer Befragung der
Demonstrierenden gegen Stuttgart 21.
Seit den Demonstrationen gegen den Einmarsch der USA im
Irak im Jahre 2003 heißt es immer wieder, die Jugend werde
politischer. Können Sie das
bestätigen?
Mein Eindruck ist: Ja - und zwar
nicht nur in Deutschland. Auch in Frankreich waren viele, die
jüngst lautstark gegen die Erhöhung des Rentenalters
protestierten, unter 25. Das war schon sehr überraschend.
Worauf führen Sie das zurück?
Es
spricht viel für einen Zusammenhang mit den immer weiter um
sich greifenden Zukunftssorgen. Ist mein Examen noch etwas wert?
Komme ich in den Beruf, für den ich qualifiziert bin? Wie
steht es um die Klimaerwärmung? All das sind Fragen, die
Jugendliche sich stellen - und bei denen sie feststellen: So toll
sieht es nicht aus. Also machen sie mobil. Immer nur eine
Minderheit natürlich - aber das war ja schon so in der
Studentenbewegung. Man mag im Rückblick einen anderen Eindruck
haben. Aber die meisten Studenten haben 1968 nicht
protestiert.
Welche Rolle spielen die neuen Medien für
Protestbewegungen?
Ich glaube, sie werden grandios
überschätzt. Natürlich ist das Internet ein
hervorragendes Mittel, Informationen zu beschaffen und zu
verbreiten. Aber zur Weckung von politischem Interesse taugt es
nicht. Vor allem die ohnehin schon Interessierte nutzen es für
politische Information und Aktion.
(jgo)