Navigationspfad: Startseite > Dokumente & Recherche > Textarchiv > 2011 > Roman Herzog im Interview mit "Das Parlament"
Der ehemalige Bundespräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Roman Herzog, fordert in einem am Montag, 31. Januar 2011 erschienen gemeinsamen Interview mit Sachsen-Anhalts ehemaligem Finanzminister Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué mit der Wochenzeitung "Das Parlament" eine Neuordnung des Länderfinanzausgleichs und des deutschen Föderalismus generell. Die Finanzbeziehungen der Länder seien "undurchschaubar" geworden, so Herzog. Weil sich die Länder immer mehr in ihrer Finanzkraft unterschieden, sei "absehbar, dass dieses Gefälle so von den wenigen reichen Ländern kaum noch zu tragen sein wird". Das Interview im Wortlaut:
Herr Bundespräsident, seit Jahrzehnten wird über den
Länderfinanzausgleich gestritten. Nun stoßen auch Sie
sich an ihm. Was ist eigentlich sein Problem?
Roman Herzog: Dass ihn niemand versteht. Er berechnet sich derart kompliziert, dass die Finanzbeziehungen der Länder einfach undurchschaubar geraten. Und: Die Länder unterscheiden sich immer mehr in ihrer Finanzkraft. Da ist absehbar, dass dieses Gefälle so von den wenigen reichen Länder kaum noch zu tragen sein wird. Nordrhein-Westfalen als historisches Geberland steht auf der Kippe - und durch die deutsche Wiederereinigung haben wir fünf arme Flächenländer hinzubekommen, plus ein hochproblematisches Berlin. All diese Länder werden auf absehbare Zeit hin durch ihre Strukturgeschichte schwächer dastehen, selbst wenn sie sich noch ordentlich in den nächsten zehn Jahren entwickeln. Ein neues System muss also her, zumal ein Zieldatum vorgegeben ist: 2019 läuft der bisherige Länderpakt aus, und die für die Länder beschlossene Schuldenbremse beginnt zu greifen. Mit dem jetzigen System lässt sich einfach nicht mehr weiterleben: Was bleibt Ländern von ihrem Wachstum dann übrig? Je mehr Steuereinnahmen sie erzielen, desto mehr müssen sie in den Finanzausgleich einzahlen - und umgekehrt. Das nimmt der Landespolitik doch die Gestaltungsmöglichkeiten.
Aber macht sich denn dieser fehlende Anreiz bei den Steuereinnahmen der Länder tatsächlich bemerkbar?
Herzog: In solch einem System muss es ein Gefühl der Gerechtigkeit geben. Sonst sind einfach der politischen Kreativität die Hände gebunden.
Um welche Summe geht es eigentlich beim Länderfinanzausgleich?
Herzog: Es geht um etwa acht Milliarden Euro plus die Bundesergänzungszuweisung. Da kommen Sie in den Bereich von 20 Milliarden Euro.
Wird Politik mit Gefühl gemacht?
Paqué: Oh ja. Das jetzige System gleicht einem Labyrinth. Der heutige Finanzausgleich hat eine vertikale Komponente durch die Zahlungen des Bundes an die Länder und eine horizontale Komponente durch die Länderzahlungen untereinander. In einem solchen System kann sich jeder etwas anschließend berechnen, eine politische Polemik aufbauen und verkünden, dass er sich ungerecht behandelt fühlt - und in gewisser Weise hat jeder Recht. Systeme, die sehr kompliziert sind, werden immer als ungerecht empfunden. Das gleiche Problem haben wir auch bei der Einkommenssteuer, da es so viele Vergünstigungen gibt. Da weiß niemand mehr, wer was zahlt.
Also soll die Politik einfacher werden?
Paqué: Wenn ein Land ordentlich wirtschaftet, muss am Ende unterm Strich etwas für die Bürger oder für neue Investitionen herauskommen. Sonst lohnt die Mühe nicht.
Herzog: Die Anreizfrage stellt sich natürlich vor allem ganz konkret auf der kommunalen Ebene. Da gibt es den einen oder anderen Bürgermeister, der sagt: 'Warum soll ich meinen Bürgern durch ein Gewerbegebiet Lastwagen zumuten, die da immer rein- und rausfahren. Es ist doch viel schöner, wenn ich eine nette Eigenheimsiedlung habe und lass andere Kommunen für die Wirtschaft sorgen.' Da schlägt die Landesebene auf die Kommunalebene durch.
Kritiker befürchten, dass mehr Steuerautonomie zu einem Wettbewerb zwischen den Ländern führt, bei dem strukturschwächere Länder das Nachsehen haben könnten.
Paqué: Ich war selbst vier Jahre lang Finanzminister in einem strukturell hoch problematischen Land. Selbstverständlich wäre ein reines Zuschlagsrecht bei Steuern ein Danaergeschenk, wenn nicht gleichzeitig die Ausgaben ins Augenmerk rücken. Auf der Ausgabenseite kann tatsächlich mehr getan werden. Vor allem dann, wenn es bundesrechtliche Lockerungen gäbe. Zum Beispiel im Sozialbereich: Die Lebenshaltungskosten in Deutschland sind sehr unterschiedlich, und hier könnte man im Bereich der sozialen Unterstützung unterschiedliche stärker differenzierende Sätze vornehmen. Derzeit aber haben wir noch nicht einmal die genauen Daten, um diese Unterschiede zu erfassen.
Fordern Sie einen Hebesatz bei Hartz IV oder bei der Einkommensteuer? Dass also in Mecklenburg-Vorpommern Hartz IV weniger wäre als in München?
Paqué: Ja, es muss mehr Flexibilität auf der Ausgabenseite geben. Und beim Sozialbereich sind die größten Brocken. Sonst würden die schwächeren Länder völlig zu Recht sagen, dass ihnen eine Steuerautonomie nicht nutzen würde.
Wäre das gerecht gegenüber einem Arbeitslosen aus einem Nehmerland? Was kann der für die verschlungenen Wege des Länderfinanzausgleichs?
Herzog: Es ist eine schwierige Sache. Aber was ist Gerechtigkeit? Jedenfalls ist es auch nicht gerecht, wenn die gleichen Warenkörbe zu unterschiedlichen Preisen in unterschiedlichen Verhältnissen gekauft werden. Aber wir wollen ja keinen Kahlschlag. Zuerst einmal sollte die Möglichkeit der Länder, diese Sätze zu differenzieren, beschränkt werden. Der Einkommensteuertarif und der Umsatzsteuertarif darf nicht von Land zu Land anders festgesetzt werden. Sondern es wird bei einzelnen Steuern gesagt: Ihr könnt 1,5 Prozent zusätzlich nehmen oder 1,5 Prozent runtergehen. Das ist jetzt eine gegriffene Zahl. Aber dann lässt sich das Problem schon ausgleichen.
Sie haben gesagt, es sei eine schwierige Sache. Ich glaube, es sind zwei schwierige Sachen. Auf der einen Seite die Einführung der Steuerkompetenz, und auf der anderen Seite die Ausgabenberge - zumal beides ja nicht kausal miteinander verknüpft ist. Halten Sie das wirklich für realisierbar?
Herzog: Wir werden darüber nachdenken müssen. Ob es politisch realisierbar ist, weiß ich nicht. Bei den Unterschieden aber, die wir in der Zukunft haben werden, müssen wir über mehr und nicht weniger Föderalismus nachdenken, weil wir sonst einfach ein nicht mehr tragfähiges System hinbekommen. Deutschland hat sich grundlegend verändert in den letzten 20 Jahren. Bis in die sechziger Jahre hinein hatten wir eine Konvergenz der Länder. Jetzt, natürlich noch einmal nach der deutschen Wiedervereinigung, haben die ostdeutschen Länder zwar aufgeholt. Aber es zeichnet sich klar ab, dass sie in den nächsten 30 Jahren nicht dort stehen werden, wo heute Bayern oder Baden-Württemberg sind. Da gerät die Rhetorik manchmal in ein Missverhältnis zur wirtschaftlichen Leistungskraft. Außerdem: Dass etwas schwierig ist, hat mir noch nie imponiert. Schwieriger als das jetzige System wird es auf keinen Fall.
Sehen Sie den Föderalismus in Deutschland im Lazarett?
Herzog: Er ist jedenfalls auf der schiefen Bahn. Er funktioniert schlecht, weil zu viel auf Bundesebene entschieden und auf der Landesebene vollzogen und meistens auch finanziert wird. Das Grundsystem müsste sein wie in Amerika. Da werden nicht Kompetenzen, sondern Aufgaben verteilt. Und wer vor der Aufgabe steht, der macht erstens die Gesetze, zweitens vollzieht er sie und bezahlt drittens die Auswirkungen.
Paqué: Die Gesetzgebungskompetenz liegt praktisch oder fast ganz beim Bund. Die Vollzugskompetenz und die Vollzugslast liegt ganz bei den Ländern. Und wenn diese sich über differenzierte Verwaltungsvorschriften zu helfen versuchen, schreit die ganze Nation, dass dies ein Skandal ist. Das geht nicht. Wir brauchen wirklich funktions- und entscheidungsfähige Strukturen auf allen Ebenen. Bei Bund, Ländern und den Gemeinden.
Setzt ein neuer Finanzausgleich die Neuordnung der Bundesländer voraus?
Herzog: Nein, das wäre nicht nötig. Auch eine Neuordnung wird die meisten fundamentalen regionalen Ungleichheiten nicht beseitigen, weil eine Neuordnung immer eine Art regionale Klumpung bedeutet. Und dann schließt man eben drei Arme zusammen: Wenn sich Mitteldeutschland - Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen - zusammenschließt, dann kriegt man auch kein Baden-Württemberg hin. Das ist einfach nicht so. Da lässt sich vielleicht das eine oder andere Problemchen lösen, nicht aber die fundamentale Wirtschaftsschwäche einer Region.
Paqué: Die Idee der Länderfusion ist doch vor allem, die unterschiedlichen Schulden- und Zinslasten der Länder auszugleichen. Dies ließe sich aber - auch ohne Fusion - durch eine neue gesamtdeutsche Schuldenregelung erreichen. Dies würde gleiche Startbedingungen schaffen. Eine grundlegende Reform des Finanzausgleichs ist eine historische Reform. Da kann man auch einmal die Schuldenfrage neu regeln. Für Länderfusionen sind die Bürger zuständig, und sie sollen es auch bleiben. Und da sind die Beharrungskräfte der Menschen samt ihrer Vorbehalte gegenüber Neuem zu groß.
Sind die Bundesländer einfach mittlerweile historisch gewachsene Gebilde?
Herzog: Da habe ich meine Zweifel. Was hält zum Beispiel das Drei-Buchstaben-Land NRW wirklich zusammen? Wir steuern derart schwierigen Zeiten entgegen, dass Deutschland eigentlich durch vier, fünf Länder am besten regiert würde. Aber sei es drum: Erst einmal muss ein neuer Finanzausgleich her. Und allein dadurch würde auf das eine oder andere Land Druck entstehen. Da kann ich nur sagen: Soll er entstehen.
Der bisherige Länderfinanzausgleich endet 2019, bis dahin muss er neu ausgehandelt werden. Aber kaum eine Frage wird über eine Legislaturperiode hinaus behandelt. Wie wollen Sie jetzt vorgehen? Werben Sie in einzelnen Gesprächen mit Abgeordneten für Ihre Reformvorschläge?
Paqué: Wir erwarten nicht, dass in dieser Legislaturperiode noch etwas passiert. Aber die Schuldenbremse wird irgendwann eine Reform des Finanzausgleichs auf den Tisch bringen.
Herzog: 2019 wird es eine große Anzahl von Ländern und eine noch größere Anzahl von Bundesratsstimmen geben, die sagen: 'Halt mal, jetzt ist Schluss.' Und dann stehen die Ostländer barfuß in der Nacht - und das wird nicht so bleiben können. Übrigens sind neun Jahre nichts für solch schwierige politische Entscheidungen. Da müssen schon jetzt die Überlegungen und Berechnungen losgehen. Diese Vorarbeit versuchen wir zu leisten.
Gibt es keine Einigung bis 2019, gilt der bisherige Pakt zum Finanzausgleich nicht mehr. Ist das ein Drohmittel in den Händen der Geberländer?
Herzog: Das ist kein Drohmittel. Es ist ein Anlass für uns zu warnen, rechtzeitig sich zu überlegen, wie es weitergehen soll. Wir sollten nicht derart unvorbereitet in solch eine Situation schlittern wie 1989 in die deutsche Wiedervereinigung. Auch die Finanzkrise hat ja kaum jemand vorausgesehen; obwohl die Zahl derer wächst, welche die Wiedervereinigung nachträglich vorausgesehen haben...
Apropos Krise. Brauchen wir einen europäischen Finanzausgleich?
Herzog: Nein, wir brauchen nur Regeln für Notstandssituationen. Ansonsten brauchen wir eine harte Finanzkonsolidierung für die Länder, die auf einer schiefen Ebene sind. Das geschieht derzeit. Wenn die greift, wird Europa ein anderes Problem haben: Die Wachstumspotenziale sind sehr unterschiedlich. Wir brauchen keinen Finanzausgleich, sondern eine europäische Wachstumspolitik, die dafür sorgt, dass tatsächlich die Innovationskraft in den Regionen zunimmt. Das bedarf aber nicht irgendwelcher netten Projekte aus EU-Mitteln, sondern einer Strukturarbeit.
(jr/kt)