Navigationspfad: Startseite > Dokumente & Recherche > Textarchiv > > Bundestagspräsidenten > Bundestagspräsidenten
Nach dem Bundespräsidenten steht der Bundestagspräsident protokollarisch an zweiter Stelle in der deutschen Demokratie. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. In unserer Serie stellen wir die zehn Männer und zwei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Dr. h.c. Annemarie Renger, von 1972 bis 1976 die erste Frau in diesem Amt.
Als Annemarie Renger (SPD) 1972 zur Bundestagspräsidentin gewählt wird, ist das in zweierlei Hinsicht eine Premiere: Zum ersten Mal übernimmt eine Frau das Amt an der Spitze des Parlaments – und zum ersten Mal bekleidet ein Mitglied der SPD-Fraktion dieses Amt, nachdem die SPD durch ihren Wahlsieg stärkste Fraktion im Bundestag geworden ist.
Das gefällt nicht jedem: Im Bundestag und selbst in ihrer eigenen Fraktion ist ihr Aufstieg zur Parlamentspräsidentin zunächst umstritten. Doch schnell erwirbt sich Renger breite Anerkennung. Geschickt, charmant und resolut steuert die Politikerin die Arbeit des Bundestages. Ihr Resümee nach vierjähriger Amtszeit: "Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann!"
Annemarie Renger wird am 7. Oktober 1919 als fünftes Kind von Martha und Fritz Wildung in Leipzig geboren. Sie wächst in einer sozialdemokratisch geprägten Familie auf: Der Vater ist Stadtrat und bis zur Machtübernahme der Nazis 1933 führend in der Arbeitersportbewegung aktiv. 1924 siedelt die Familie nach Berlin um, wo Annemarie Renger bis 1934 ein Lyzeum besucht.
Als ihr aufgrund der politischen Einstellung der Eltern das Schulstipendium gestrichen wird, beginnt sie eine dreijährige Lehre im Verlagswesen. Nach der Prüfung zur Kaufmannsgehilfin arbeitet sie in verschiedenen Funktionen als Angestellte, auch als Stenotypistin. 1938 heiratet sie den Werbeleiter Emil Renger, und im selben Jahr wird Sohn Rolf geboren.
Emil Renger fällt 1944 in Frankreich. Auch drei ihrer Brüder sterben im Zweiten Weltkrieg. Annemarie Renger wird kurz vor Kriegsende aus dem umkämpften Berlin evakuiert und zieht zu Verwandten in die Lüneburger Heide. Den 8. Mai 1945 erlebt sie in Visselhövede.
In dieser Zeit stößt sie beim Lesen des "Hannoverschen Kuriers" auf Auszüge einer Rede Kurt Schumachers. Der aus zehnjähriger KZ-Haft entlassene Sozialdemokrat betreibt nach Kriegsende von Hannover aus die Wiederbelebung der SPD. "Da war von demokratischem Neuaufbau die Rede und dem Lebensrecht auch dieses geschlagenen Volkes", schreibt Renger später in ihren Memoiren. "Die Sätze machten mir Mut."
Sie beeindrucken die damals 25-Jährige so sehr, dass sie an Schumacher schreibt und ihm ihre Mitarbeit anträgt. Am 15. Oktober 1945 nimmt Renger ihre Tätigkeit auf: Bald ist sie Sekretärin, Reisebegleiterin, persönliche Vertraute und engste Gefährtin des SPD-Vorsitzenden. Renger leitet das Verbindungsbüro der SPD zur Partei und den Behörden in Berlin und führt Schumachers Haushalt.
Nach dessen Tod 1952 beginnt Renger, sich aktiv politisch zu engagieren. Bereits 1953 zieht sie als SPD-Abgeordnete in den Bundestag ein. Bis 1990 wird sie ihm ununterbrochen angehören – 37 Jahre lang. In dieser Zeit ist Renger unter anderem Mitglied im Innenausschuss, im Entwicklungshilfeausschuss, dem Auswärtigen Ausschuss sowie im Gemeinsamen Ausschuss nach Artikel 53a des Grundgesetzes, der das "Notparlament" im Verteidigungsfall darstellt, wenn dem rechtzeitigen Zusammentreten des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen.
Auch in der SPD bekleidet sie viele hohe Ämter: Von 1961 bis 1973 gehört sie dem Parteivorstand an, von 1970 bis 1973 auch dem Präsidium. Sieben Jahre, von 1966 bis 1973, ist sie Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses. Zudem ist sie die erste Frau, die den Posten einer parlamentarischen Geschäftsführerin übernimmt. Von 1969 bis 1972 ist sie zuständig für Finanzen, Personal, Ausschussbesetzung und die Präsenz in der Fraktion.
Nach ihrem Wahlsieg 1972 ist die SPD stärkste Fraktion im Bundestag. Annemarie Renger erreicht nun den Gipfel ihrer politischen Karriere: Am 13. Dezember 1972 wird sie zur Bundestagspräsidentin gewählt – auch gegen Zweifler in der eigenen Fraktion.
Schon ihre Kandidatur sei für manchen "beinahe eine Provokation" gewesen, so erinnerte sich der amtierende Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert (CDU) beim Staatsakt im Bundestag für seine 2008 verstorbene Vorgängerin. Aber Renger habe immer schon über eine "gesunde Portion Selbstvertrauen" verfügt.
Als Bundestagspräsidentin schiebt sie überfällige Reformen an und intensiviert die parlamentarischen Beziehungen zu Deutschlands östlichen Nachbarn. Renger ist es auch, die die ersten Bundestagsdelegationen nach Polen, Rumänien und in die Sowjetunion leitet.
Nach der Bundestagswahl 1976 wird Karl Carstens neuer Bundestagspräsident und Annemarie Renger Vizepräsidentin. Im Mai 1979 lässt sie sich dann, trotz aussichtsloser Position, von ihrer Partei in die Pflicht nehmen und kandidiert für das Amt des Bundespräsidenten. Das findet Anerkennung in der SPD, mit der Renger jedoch nicht immer eins ist: Bereits 1973 wird sie aus dem Präsidium gewählt, für manche Beobachter Zeichen eines beginnenden Linksrucks.
Anfang der achtziger Jahre geht Renger, dem konservativen Flügel der SPD angehörend, zudem in Opposition zum Vorsitzenden Willy Brandt. Sie fordert mehr Abgrenzung von "Randgruppen", während Brandt um deren Integration bemüht ist. Nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag 1990 setzt sich Renger als Präsidentin des Deutschen Rats der Europäischen Bewegung für die Weiterentwicklung der EU ein.
Besonderes Engagement zeigt sie zeitlebens für den deutsch-israelischen Dialog: 14 Jahre ist Renger Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe im Bundestag. 2006 erhält sie den Heinz-Galinski-Preis der jüdischen Gemeinde Berlin.
Am 3. März 2008 stirbt Annemarie Renger im Alter von 88 Jahren nach langer Krankheit in ihrem Haus in Remagen-Oberwinter. Sie war zweimal verwitwet und überlebte auch ihren Sohn Rolf (1938-1998). Beim Staatsakt im Bundestag am 13. März 2008 würdigte Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert seine Vorgängerin als "bedeutende Parlamentarierin und leidenschaftliche Demokratin".