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Vorabmeldung zu Interviews in der nächsten
Ausgabe der Wochenzeitung
"Das Parlament“ (Erscheinungstag: 06. September
2010)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen
Veröffentlichung –
Wenige Wochen vor dem 20. Jahrestag der Wiedervereinigung beklagen Spitzenpolitiker von Union und SPD ein mangelndes Interesse vieler Westdeutscher an den neuen Ländern. Es sei "beklagenswert, wie viele Westdeutsche noch nie im Osten Deutschlands waren" sagte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) in einem Gespräch mit der Wochenzeitung "Das Parlament" (Erscheinungstag: 06. September 2010). Dabei wäre es "doch normale menschliche Neugier, den anderen, so lange verborgenen Teil Deutschlands kennenzulernen". Schließlich sei Ostdeutschland "geschichtlich, kulturell und geografisch nicht weniger schön als der Westen".
Der frühere Bundesminister Rudolf Seiters (CDU), vor 20 Jahren Kanzleramtschef, sagte der Zeitung, es könne "nur negativ beurteilt werden", dass so viele Westdeutsche noch nie in den neuen Ländern gewesen seien. Dies dürfe andererseits auch nicht überbewertet werden, betonte Seiters. Er verwies auf eine Umfrage unter 18- bis 25-Jährigen, bei der "90 Prozent angaben, sich nicht als West- oder als Ostdeutsche zu betrachten, sondern als Deutsche". Das führe ?vielleicht auch zu der Erkenntnis, dass das Zusammenwachsen der Menschen in Deutschland – das wirkliche, verständnisvolle Zusammenwachsen – nicht nur Aufgabe einer Generation ist, sondern länger dauert", fügte der heutige Präsident des Deutschen Roten Kreuzes hinzu.
Nach Auffassung des langjährigen Außenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP) ist dagegen "die innere Einheit sehr viel weiter fortgeschritten, als viele es wahrhaben wollen". Vertreter der jüngeren Generation wüssten, "dass ihre Eltern eine getrennte Vergangenheit hatten, sie selbst aber eine gemeinsame Zukunft haben", sagte der einstige FDP-Vorsitzende dem Blatt. Dies stelle er bei vielen Begegnungen mit jungen Menschen stelle fest.
Thierse erinnerte daran, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten ?rund 2,3 oder 2,4 Millionen Menschen in den Westen gegangen, aber auch 1,6 oder 1,7 Millionen vom Westen in den Osten gezogen“ seien. Dies sei "doch wunderbar", unterstrich der SPD-Politiker: "Wir haben doch die Mauer nicht von Osten eingedrückt, weil wir unter uns bleiben wollten! Die Mischung macht’s!"
Die Interviews im Wortlaut:
Herr Thierse, werden im geeinten Deutschland die
Leistungen der frei gewählten Volkskammer und der letzten
DDR-Regierung angemessen gewürdigt?
Thierse: Da bin ich etwas befangen, weil ich dieser
Volkskammer 1990 selbst angehört habe und überzeugt bin,
dass diese Monate ein strahlendes Kapitel deutscher
Parlamentsgeschichte waren. Da haben Demokraten neu angefangen und
in abenteuerlich kurzer Zeit Parlamentarismus gelernt, wichtigste
Entscheidungen getroffen, unerhörten Druck ausgehalten, gewiss
auch Fehler begangen, aber das meiste im Grundsatz doch richtig
gemacht. Die geschichtliche Wahrheit ist: Die deutsche Einheit ist
kein Geschenk des Westens. Erst haben wir Ostdeutsche unsere
Freiheit erkämpft – und dadurch wurde die Einheit
möglich.
Noch heute klagen Ostdeutsche, dass der Beitritt nach
Artikel 23 des Grundgesetzes vollzogen wurde statt nach Artikel
146, der eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung
ermöglicht. Zu Recht?
Thierse: Ich verstehe den Schmerz, aber es gab angesichts
des Tempodrucks keine realistische Alternative. Drei Faktoren
wirkten 1990 atemberaubend beschleunigend: die Ungeduld der meisten
Ostdeutschen – "kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu
ihr" – , der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und die
außenpolitische Ungewissheit, wie lange Gorbatschow noch an
der Macht bleibt. Ein Jahr später gab es den Putsch in
Moskau.
Als Bundestagspräsident waren Sie der erste
Politiker aus den neuen Ländern in einem der höchsten
Staatsämter der Bundesrepublik, mit Angela Merkel ist eine
ehemalige DDR-Bürgerin Kanzlerin. Dennoch wird derzeit
über eine mangelnde Repräsentanz der Ostdeutschen in
Spitzenpositionen geklagt...
Thierse: ...zu Recht, wenn man Bereiche wie Wirtschaft,
Medien, Wissenschaft nimmt. Da sind Ostdeutsche schlicht
unterrepräsentiert. Der politische Bereich der Demokratie ist
die große Ausnahme: Dort konnten die Ostdeutschen von Anfang
an Menschen ihresgleichen in führende Positionen wählen.
Ich sage ihnen das immer wieder: Ihr könnt schimpfen, aber die
Demokratie ist doch eure große Chance. Ihr müsst sie nur
viel mehr nutzen. Frau Merkel und ich sind ja Beispiele dafür,
dass es geht. Aber etwa in Wirtschaftsunternehmen oder
Fernsehanstalten hatten Ostdeutsche keine vergleichbare Chance.
Kann die Politik daran etwas ändern?
Thierse: Zum Glück ist der Einfluss der Politik auf
die anderen Bereiche – anders als in der DDR – deutlich
geringer. Die Politik kann nicht Stellen in der Wirtschaft
besetzen. Die Einführung von Quoten hat etwas Zweischneidiges.
20 Jahre nach der Wiedervereinigung wird die Frage nach der
geografischen Herkunft ohnehin weniger dramatisch. Noch ist der
Nachholbedarf groß, doch wird sich dieses Problem
gewissermaßen auswachsen.
Was halten Sie vom Vorschlag, den Stasi-Einfluss auf den
Bundestag seit 1949 untersuchen zu lassen?
Thierse: Ich habe nichts gegen einen präzisen
Forschungsauftrag, aber machen wir uns keine Illusionen: Wenn das
kein parteipolitisch instrumentalisierbarer, oberflächlicher
Auftrag werden soll, muss man komplexe Vorgänge untersuchen,
Entscheidungsprozesse in Bundestag und Regierung und ob dabei
Einflussversuche der Stasi erfolgreich waren oder nicht. Nur eine
Namensnennung führt zu Irrtümern wie bei der Untersuchung
zur Wahlperiode von 1969 bis 1972: Da wurden 43 Abgeordneten mit
Stasi-Bezug genannt. Am Schluss stellte man fest: Nur 3 waren
Spitzel, die anderen wurden ohne ihr Wissen abgeschöpft.
Die Arbeitslosenquote Ost ist noch immer etwa doppelt so
hoch wie im Westen, die Ost-Löhne liegen weiter unter
Westniveau. Ist die Einheit für die Ostdeutschen
wirtschaftlich gesehen ein Misserfolg?
Thierse: Sie ist noch nicht fertig, die Einheit. Wir haben
noch keine dem Westen vergleichbare Wirtschaftsstruktur. Im
Solidarpakt II haben wir einen Zeithorizont bis zum Jahr 2019
festgelegt. Bis dahin müssen wir noch hart arbeiten. Ich
füge aber hinzu: Die Ost-Löhne lagen 1991 bei 46 Prozent
des Westniveaus, heute im Durchschnitt bei 83 Prozent. Zudem: Die
Arbeitnehmer, die nach Tarifvertrag bezahlt werden, kommen im Osten
bereits auf 93 Prozent. Das heißt, die ostdeutschen
Arbeitnehmer müssen sich mehr gewerkschaftlich organisieren
und für Tarifverträge kämpfen.
Ist das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse eine
Illusion?
Thierse: Nein – das ist ein gültiges Ziel, eine
politische Aufgabe von Verfassungsrang. Man muss allerdings sehen,
dass es auch im Westen unterschiedliche Wohlstandsniveaus gibt
– zwischen Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg,
zwischen Bayern und Niedersachsen. Wenn der Osten sich in diese
Relationen einfügt, haben wir eine Art Normalität
erreicht.
In den Aufbau Ost ist ja schon jetzt viel Geld
geflossen. Können Sie verstehen, wenn westdeutsche Politiker
sagen, sie wollten auch mal wieder mehr Mittel?
Thierse: Wenn es vergleichbare Arbeitslosigkeit und
Infrastrukturschwäche gibt, verstehe ich das sehr gut. Aber
insgesamt ist die ostdeutsche Wirtschaft immer noch deutlich
schwächer ist als im Westen, im Durchschnitt jedenfalls. Wenn
etwa Bochum und Duisburg klagen, ihnen gehe es genauso schlecht,
haben sie das Recht, das zu sagen. Das ist aber kein Argument gegen
Ost, sondern ein Argument für differenzierte
Strukturpolitik.
Vermissen Sie bei Westdeutschen Respekt vor der
Lebensleistung Ostdeutscher?
Thierse: Ja – aber da steckt auch viel Unkenntnis
drin, und Unkenntnis ist immer die Quelle von Vorurteilen. Es ist
beklagenswert, wie viele Westdeutsche noch nie im Osten
Deutschlands waren. Es wäre doch normale menschliche Neugier,
den anderen, so lange verborgenen Teil Deutschlands kennenzulernen.
Und Ostdeutschland ist ja geschichtlich, kulturell und geografisch
nicht weniger schön als der Westen. Man muss nur mal an die
Ostsee fahren oder nach Görlitz – die für mich
schönste Stadt Deutschlands.
Wer ist stärker im geeinten Deutschland angekommen
– die Ostdeutschen, die sich zwangsläufig dem Neuen
anpassen mussten, oder die Westdeutschen, für die sich oft nur
wenig geändert hat?
Thierse: Das ist so nicht richtig zu beantworten. Es
stimmt: Warum sollte sich in Freiburg etwas ändern, nur weil
in Leipzig der Kommunismus zusammengebrochen ist? Die
Veränderungsnotwendigkeiten waren ungleich. Im Osten musste
sich alles ändern, im Westen nichts. Aber 20 Jahre danach
haben doch hoffentlich alle miteinander begriffen, dass dieses Land
sich gemeinsam verändern muss, um die Herausforderungen etwa
der Globalisierung oder des demografischen Wandels zu
bewältigen. Das betrifft doch alle miteinander! Das bietet
auch die Chance einer neuen Gleichberechtigung.
Viel geklagt wird auch über die Abwanderung im
Osten. Viele hunderttausende Ostdeutsche sind in den Westen gezogen
und dort heimisch geworden. Sind das nicht auch Botschafter, die
ihren neuen Nachbarn die Dimension von Einheit nahe bringen
können?
Thierse: Das wünsche ich mir. Deshalb habe ich mir
immer gewünscht, dass die Ostdeutschen selbstkritisch und
selbstbewusst zugleich sind, also auch Botschafter einer
differenzierten Betrachtung der DDR-Geschichte und von
DDR-Biografien – und nicht ihre Geschichte verstecken: Dass
sie erzählen, wie das Leben war, was gut war und was schlecht
war, wo sie mutig waren und wo feige. Im Übrigen sind zwar
rund 2,3 oder 2,4 Millionen Menschen in den Westen gegangen, aber
auch 1,6 oder 1,7 Millionen vom Westen in den Osten gezogen. Das
ist doch wunderbar! Wir haben doch die Mauer nicht von Osten
eingedrückt, weil wir unter uns bleiben wollten! Die Mischung
macht’s!
* * *
Herr Seiters, am Abend des Mauerfalls 1989 mussten Sie
als Kanzleramtsminister im Bundestag eine Regierungserklärung
zu den Ereignissen in Berlin abgeben – Helmut Kohl war in
Polen. Wie haben Sie damals vom Mauerfall erfahren?
Seiters: Ich sprach im Kanzleramt mit den Fraktionschefs
von CDU/CSU, SPD und FPD über anstehende politische Fragen,
als die ersten Meldungen kamen. Wir haben die Sitzung unterbrochen,
um den Wahrheitsgehalt dieser Meldungen zu erkunden, dann
informierten wir den Bundeskanzler, zu dem wir die ganze Nacht
hindurch Kontakt hielten. Dann habe ich die
Regierungserklärung abgegeben, die Fraktionsvorsitzenden
sprachen, die Abgeordneten erhoben sich und sangen die
Nationalhymne.
Ihre Regierungserklärung ließ
Überraschung spüren und auch
Vorsicht…
Seiters: Das ist richtig. Ich stand ja in Verhandlungen
über ein neues DDR-Reisegesetz – wir wussten, dass
gewisse Erleichterungen kommen würden, aber wir waren
völlig überrascht, dass die Mauer an diesem Tag
geöffnet wurde – es war ja auch nicht geplant.
Musste die Bundesregierung, mussten Sie sich an diesem
Abend zurückhalten?
Seiters: Was die Bundesregierung anbetrifft, waren die
ganzen Monate 1989 und auch später von einer sehr vorsichtigen
Steuerung geprägt. Wir mussten Rücksicht nehmen auf
Empfindlichkeiten im Osten wie im Westen, wollten auch die
Gespräche mit der DDR nicht belasten.
Wann ahnten Sie, dass die Weichen Richtung
Wiedervereinigung standen?
Seiters: Nicht am 9. November beim Mauerfall – wohl
aber am 19. Dezember in Dresden bei der Rede Helmut Kohls. Man muss
sich vorstellen: Da kommt ein Staatsgast, der Bundeskanzler,
in die DDR, und die DDR-Führung lässt ihn mit der eigenen
Bevölkerung alleine, weil sie offensichtlich die
Gleichzeitigkeit des Beifalls für Kohl und der Pfiffe für
sich selbst fürchtete. In der Nacht waren wir überzeugt:
Es hat überhaupt keinen Sinn, noch weitere Absprachen mit der
DDR zu treffen – mit einer Ausnahme: möglichst schnell
freie Wahlen herbeizuführen. Wir waren sicher: Wenn die
Menschen in der DDR frei entscheiden können, werden sie sich
nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die
Einheit entscheiden.
Bei der Kundgebung in Dresden bekräftigte Kohl das
Ziel der Einheit mit der Einschränkung: "Wenn die
geschichtliche Stunde es zulässt". Welche Hürden hielten
Sie damals für die höchsten?
Seiters: Kohl hat nach seinem Zehn-Punkte-Programm vom 28.
November zur Einheit berichtet, dass noch nie auf einem EU-Gipfel
die Stimmung so eisig gewesen sei wie bei dem Treffen der
Regierungschefs in Straßburg Anfang Dezember: Mitterrand
hatte damals noch Vorbehalte, von Andreotti stammt der Spruch "Ich
liebe Deutschland so sehr, dass ich am liebsten zwei davon habe",
die Niederländer waren alles andere als
begeistert, Margaret Thatcher war dagegen. Das
heißt: Wir waren Ende des Jahres überzeugt, dass es mit
der DDR zu Ende geht, aber natürlich mussten die Bedenken im
Westen ausgeräumt werden – und auch der damals noch
vorhandene Widerstand von Gorbatschow und Schewardnadse.
Im Februar 1990 ging dann alles ganz schnell: Die
Verhandlungen über eine Währungsunion mit der DDR wurden
auf den Weg gebracht…
Seiters: … das war ganz wichtig, weil die DDR
auszubluten drohte. Denn der Übersiedlerstrom hörte nicht
mit dem Mauerfall auf, sondern erst, als die Menschen mit dem
Angebot der D-Mark die Perspektive einer möglicherweise
schnellen Wiedervereinigung erkannten.
Ebenfalls im Februar signalisierte Gorbatschow
prinzipielle Zustimmung zur Einheit, die
Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen wurden beschlossen. War der
Einheitsprozess damit nicht im Grunde schon vor der Volkskammerwahl
vom März unumkehrbar?
Seiters: Die Volkskammerwahl hat den Prozess zumindest
sehr beschleunigt, weil für die ganze Welt erkennbar war: Die
DDR will die deutsche Einheit.
Nach dieser Wahl wurden ostdeutsche Volksvertreter im
Westen gerne als "Laienspieler" betrachtet. Welchen Eindruck hatten
Sie von den neuen DDR-Vertretern?
Seiters: Ich muss auch im Nachhinein sagen, dass ich
voller Respekt bin vor den Volkskammerabgeordneten. Wir
Westdeutschen kannten uns aus mit parlamentarischen Fragen, mit
Regierung und Opposition, mit der Behandlung politischer
Entscheidungen in einer Demokratie. Das war in der Volkskammer ja
nicht vorhanden. Und wie etwa der letzte DDR-Ministerpräsident
Lothar de Maizière die Probleme angepackt hat, oder sein
Unterhändler Günther Krause beim Einigungsvertrag –
da kann ich nur sagen: Hut ab! Wenn das Laien waren, haben sie sich
aber sehr professionell verhalten.
Gab es 1990 Entscheidungen, die Sie im Nachhinein als
Fehler sehen?
Seiters: Wir hatten keine Schubladenpläne für
den Weg zur Einheit – zu Recht, denn hätten wir solche
Pläne gehabt, wäre das bekannt geworden und hätte
die Entspannungspolitik torpediert. Bei den Verträgen von 1990
waren die Grundentscheidungen richtig – etwa, statt auf
eine neue Verfassung auf den Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz
zu setzen, was auch die DDR wollte. Für eine neue
Verfassung hätten wir viel Zeit gebraucht, und dann
wäre bei den Großmächten der Resonanzboden für
die deutsche Einheit nicht mehr da gewesen. Unterschätzt haben
wir die schwierige Wirtschaftslage, und einiges musste
nachgebessert werden, etwa beim Thema "Rückgabe und
Entschädigung" oder bei der Arbeit der Treuhand.
Der Einheitseuphorie folgte Ernüchterung: Dem
Westen dämmerte, dass das Ganze ziemlich teuer wird; im Osten
machte sich das Gefühl breit, von den Wessis "platt" gemacht
zu werden. Können Sie das nachvollziehen?
Seiters: Wir haben damals die katastrophale
ökonomische und ökologische Hinterlassenschaft der DDR
unterschätzt. Das Ausmaß dieser Katastrophe haben auch
die Geheimdienste nicht erkannt, die Amerikaner nicht, die
Wirtschaft nicht. Die OECD zählte die DDR noch im Sommer 1990
zu den zehn wirtschaftsstärksten Nationen der Welt. Weil wir
das unterschätzt haben, ist der Aufbauprozess ein Stück
langsamer gelaufen. Nicht erkennbar war damals auch das
Auseinanderbrechen der Sowjetunion, womit die Ostmärkte
praktisch wegbrachen, was die Lage zusätzlich erschwerte. Es
sind damals auch Übererwartungen aus dem Westen geweckt
worden, die später zu Enttäuschungen geführt haben.
Und es waren ja nicht nur Lichtgestalten, die aus dem Westen
plötzlich in die DDR kamen, um dort ihre Geschäfte zu
machen.
Wurden die Ressentiments zwischen Ost und West durch die
Folgen des Transformationsprozesses im Osten
befördert?
Seiters: Ich habe 1992 in einem Vortrag gesagt, die
Umwandlung einer über 40 Jahre gewachsenen, sozialistischen,
zentralistischen, planwirtschaftlichen Kommandowirtschaft in eine
soziale Marktwirtschaft sei ein gigantisches Unternehmen –
nicht nur eine wirtschafts- und finanzpolitische, sondern viel mehr
noch eine geistige und kulturelle Herausforderung. Über viele
Jahrzehnte sind die Menschen in unterschiedlichen
Gesellschaftsordnungen – dort eine Diktatur, hier eine freie
Gesellschaft – aufgewachsen: Dass das Zusammenwachsen dieser
Menschen psychologisch nicht einfach gewesen ist, liegt auf der
Hand. Dazu hat es viel Verständnis für die jeweils andere
Seite bedurft, das nicht immer da gewesen ist. Vielen im Osten ging
der Aufbau auch nicht schnell genug, während es im Westen
Verständnislosigkeit gab nach dem Motto "Wir geben doch so
viel Geld dahin..."
Sind sich Ost- und Westdeutsche mittlerweile näher
gekommen?
Seiters: Dass beispielsweise so viele Westdeutsche noch
nie in den neuen Ländern waren, kann nur negativ
beurteilt werden, darf aber auch nicht überbewertet werden. Es
gab vor wenigen Wochen eine Umfrage unter 18- bis 25-Jährigen,
bei der 90 Prozent angaben, sich nicht als West- oder als
Ostdeutsche zu betrachten, sondern als Deutsche. Das führt
vielleicht auch zu der Erkenntnis, dass das Zusammenwachsen der
Menschen in Deutschland – das wirkliche,
verständnisvolle Zusammenwachsen – nicht nur Aufgabe
einer Generation ist, sondern länger dauert.
Welche Bilanz würden Sie heute, nach 20 Jahren
Einheit und Aufbau Ost, ziehen?
Seiters: Betrachtet man die Schlussbilanz der DDR, die
weit über ihre Verhältnisse gelebt hat, die die Umwelt
flächendeckend zerstört hat, Innenstädte verfallen
lassen und die Menschen – als Preis für soziale
Sicherheit auf niedrigem Niveau – in Unmündigkeit
gehalten hat: Wenn man diese Schlussbilanz vergleicht
mit dem, was heute entstanden ist mit vielen blühenden
Landschaften – noch nicht überall, aber doch viele
blühende Landschaften –, dann ist das eine ganz
große Leistung, die vom Osten und vom Westen erbracht worden
ist. Auch wenn wir wissen, dass noch viel Arbeit bevorsteht, kann
doch eine sehr positive Bilanz gezogen
werden.
* * *
Herr Genscher, Sie haben als gebürtiger Hallenser
und DDR-Flüchtling stets gesamtdeutsch gedacht. Schmerzt es
Sie, wenn man nach 20 Jahren Einheit immer noch von Ossis und
Wessis spricht?
Genscher: Ich fürchte, es wird so bleiben. Aber
darauf kommt es weniger an als darauf, dass die innere Einheit sehr
viel weiter fortgeschritten ist, als viele es wahrhaben wollen. Bei
vielen Begegnungen mit jungen Menschen stelle ich fest: Sie wissen,
dass ihre Eltern eine getrennte Vergangenheit hatten, sie selbst
aber eine gemeinsame Zukunft haben.
Wo lagen im Prozess zur Einheit die größeren
Schwierigkeiten – bei den deutsch-deutschen Verhandlungen
oder der außenpolitischen Absicherung?
Genscher: Natürlich waren die innerdeutschen
Verhandlungen kompliziert. Aber sie wurden von beiden Seiten mit
dem Ziel geführt, zusammenzukommen. Komplizierter waren die
außenpolitischen Fragen, weil Moskau jahrzehntelang die
These von der Endgültigkeit der deutschen Teilung vertreten
hatte. Dort musste eine Kehrtwendung im wahrsten Sinne des Wortes
stattfinden.
Wann haben Sie erkannt, welche Chancen sich mit der
Reformpolitik von KP-Chef Michail Gorbatschow
eröffneten?
Genscher: Die Wiedervereinigung kam nicht von selbst. Die
Entspannungspolitik und die Politik im Rahmen der Konferenz
für Sicherheit und Zusammenarbeit waren Voraussetzungen
dafür, dass es zu friedlichen Freiheits-Demonstrationen kommen
konnte, die dann zur Überwindung der Teilung Europas
führten. Moskau hatte eine gesamteuropäische
Sicherheits-Konferenz vorgeschlagen, um sich den Besitzstand in
Europa vertraglich sichern zu lassen. Daraus wurde die Konferenz
zur Öffnung des Tors zur Einheit Deutschlands. Nach meiner
ersten Begegnung mit Gorbatschow 1986 im Kreml habe ich zu einem
meiner Mitarbeiter gesagt: Wenn der alles macht, was er uns gesagt
hat, haben wir erstmals eine realistische Chance, in absehbarer
Zeit die deutsche Einheit Deutschlands zu erreichen.
Moskau hatte bereits im Februar 1990 in diese Einheit
eingewilligt, aber eine Nato-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands
zunächst strikt abgelehnt. Wie ist es gelungen, den Kreml
davon abzubringen?
Genscher: In der Schlussakte von Helsinki war verankert,
dass sich jeder Staat einem Verteidigungsbündnis
anschließen darf. Entscheidend war, dass uns die US-Regierung
nachdrücklich unterstützt hat. So kam es, dass
Gorbatschow im Frühsommer 1990 in den USA überraschend
erklärte, diese Frage müssten die Deutschen selbst
entscheiden. Damit war das Tor offen. Es ging deshalb bei unserem
Besuch im Juli in Moskau und im Kaukasus vorrangig nur noch darum,
wie stark die Streitkräfte eines vereinten Deutschlands sein
würden, wann die sowjetischen Truppen aus der DDR abziehen und
welche Zahlungen wir für ihre Rückführung und
Unterbringung leisten.
Welche Rolle spielte dabei Ihr Verhältnis zu
Gorbatschow und seinem Außenminister Eduard
Schewardnadse?
Genscher: Ich habe in einer Rede 1987 in Davos gesagt, der
Westen solle Gorbatschow ernst nehmen und eine historische Chance
nicht versäumen. Zu der Zeit begegnete man Gorbatschow im
Westen noch mit Kleingläubigkeit. Ich wurde wegen meiner
Äußerung in Washington und auch Bonn kritisiert.
Das hat bei Gorbatschow einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Hinzu kam das sehr gute Verhältnis zu Schewardnadse.
Haben Sie bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen einmal
ein Scheitern befürchtet?
Genscher: Nicht aus den Gesprächen heraus. Aber
Helmut Kohl und ich hatten immer die Sorge: Halten die das in
Moskau durch? Der Putsch gegen Gorbatschow 1991 hätte ja auch
früher kommen können.
Am 15. Juli 1990 saßen Sie nach den erfolgreichen
Verhandlungen im Kaukasus mit Kohl und Gorbatschow um einen
Holztisch. Hat Sie dieser Augenblick ähnlich berührt wie
Ihr Auftritt auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag,
als Sie die Ausreiseerlaubnis für die DDR-Flüchtlinge
verkündeten?
Genscher: Vielleicht nicht so emotional. Mir ging etwas
anderes durch den Kopf. Ich sah Gorbatschow an und musste daran
denken, was man einst Martin Luther zugerufen hatte:
Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang.
Ein weiterer Knackpunkt war die Westgrenze Polens.
Warschau verlangte, die Unantastbarkeit der Oder-Neiße-Grenze
noch vor der Vereinigung rechtsgültig zu besiegeln. Kohl
wollte damit bis zur Bildung einer gesamtdeutschen Regierung
warten. Was haben Sie ihm geraten?
Genscher: Ich fand, es bestand kein Anlass zu zögern.
Ich hatte bereits in meiner Rede vor der UNO im September 1989 dem
Außenminister des neuen Polen versichert, wir Deutsche
würden die Oder-Neiße-Grenze nie in Frage stellen.
Dieser Satz wurde im Oktober 1989 Teil einer Entschließung
des Bundestages. Und dann auch 1990 in Resolutionen der freien
Volkskammer und des Bundestages. Damit ist dem Wunsch Polens
Rechnung getragen.
Als Minister bemühten sie sich, Forderungen nach
einem deutschen Militär-Engagement außerhalb des
Nato-Gebietes abzuwehren. Mittlerweile ist die Bundeswehr an vielen
Brennpunkten der Welt. Haben Sie damals befürchtet, dass ein
souveränes Deutschland sich dieser Verantwortung nicht
würde entziehen können?
Genscher: Man musste damit rechnen, dass an ein
vereinigtes Deutschland neue Erwartungen gestellt werden. Ich fand,
die Politik der Zurückhaltung der Bundesrepublik war kein
Verzicht auf Souveränität, sondern eine kluge Lehre aus
der deutschen Geschichte. Die Probleme heute sind in Wahrheit
Probleme der Nato. Sie hat in der Zeit von US-Präsident George
W. Bush versäumt, eine politische Strategie für die Zeit
nach dem Kalten Krieg zu entwickeln. Das erklärt auch die
Probleme, die der Westen sich beigebracht hat – siehe Irak
und Afghanistan.
War diese Entwicklung von der Balkan-Krise bis hin zum
Bundeswehr-Einsatz am Hindukusch nicht zwangsläufig?
Genscher: Sie war es eben nicht. Natürlich gab es bis
zu höchsten Stellen der Republik törichte Reden, wir
müssten nach der Vereinigung endlich Verantwortung
übernehmen. Dabei hatten wir im Kalten Krieg von allen
europäischen Partnern den größten Beitrag zur
westlichen Sicherheit geleistet: Wir hatten nicht den geringsten
Nachholbedarf.
Würden Sie heute Entscheidungen wie die frühe
Anerkennung von Slowenien und Kroatien anders treffen?
Genscher: Sie kam zu spät. Diese Entscheidung hat den
Krieg, den Serbien nach Kroatien und Slowenien trug, sofort
beendet. Wäre dies früher geschehen, hätte dies
vieles erspart.
Was sagen Sie Leuten, die meinen, die innere Einheit sei
noch nicht erreicht?
Genscher: Ich würde ihnen raten, sich ‘mal
vertieft mit den neuen Ländern zu befassen. Ich höre das
mehr in West- als in Ostdeutschland.