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Vorabmeldung zu einem Interview in der
nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 29. November
2010)
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung
-
Der Bund macht 2011 mehr Schulden als nötig. Dies wirft der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, der Regierung in einem Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 29. November) vor. Trotz der am Freitag vom Bundestag beschlossenen Senkung der Neuverschuldung von 57,5 auf 48,4 Milliarden Euro sieht der SPD-Haushaltsexperte noch weitere Sparmöglichkeiten: „Mit unseren Vorschlägen wäre eine Nettokreditaufnahme von 42 Milliarden Euro ausreichend“, betonte er.
Außerdem wirft Schneider der Regierung vor, „getrickst“ zu haben. So rechne Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) beim sogenannten strukturellen Defizit mit veralteten Zahlen. Die Folge sei, dass die Regierung im Wahljahr 2013 „zusätzlich Luft für Wahlgeschenke“ habe. „Nach meinen Berechnungen verschafft sich Herr Schäuble so 40 Milliarden Euro zusätzliche Kreditaufnahme, nur weil er mit veralteten Zahlen rechnet“, sagte Schneider.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Schneider, der Bundestag hat am vergangenen Freitag
den Haushalt 2011 verabschiedet. Es ist gelungen, die
Neuverschuldung von 57,5 Milliarden Euro auf 48,4 Milliarden Euro
zu senken. Ist das nicht ein schöner Erfolg?
Es
ist zumindest ein Erfolg der Bevölkerung Deutschlands, da
diese dafür gesorgt hat, dass in den letzten Jahren keine
Panik ausgebrochen ist. Auch die Konjunkturprogramme der
Großen Koalition zeigen jetzt ihre Wirkung. Es ist jedoch
auch klar, dass die jetzige Regierung an diesen Erfolgen nur einen
geringen Anteil hat. Der Rückgang der Neuverschuldung
berücksichtigt diese konjunkturellen Verbesserungen nicht. Es
werden also mehr Schulden als nötig gemacht
Wie hoch hätte die Neuverschuldung sein
können?
Mit unseren Vorschlägen wäre
eine Nettokreditaufnahme von 42 Milliarden Euro ausreichend. Dabei
ist schon berücksichtigt, dass wir Teile des Sparpaketes
zurücknehmen würden und zwar in den Bereichen, die einzig
die sozial Benachteiligten treffen. Auch die
Städtebauförderung und das
CO2-Gebäudesanierungsprogramm könnten wir dabei von
Kürzungen ausnehmen.
Wie wollen Sie das finanzieren?
Wir haben
vier Gegenfinanzierungsmaßnahmen aufgestellt. Ansatzpunkt
ist, dass die Finanzkrise, die auch ein Staatsfinanzierungkrise
geworden ist, nicht von den Arbeitslosen verursacht wurde.
Verursacher waren Vermögende, die hohe Risiken eingegangen
sind. Deshalb müssen sie auch einen höheren Teil zur
Konsolidierung beitragen. Wir schlagen deshalb erstens eine
moderate Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent vor.
Diese soll erst ab einem Jahreseinkommen von 100.000 Euro greifen,
also nicht die Mittelschicht belasten.
Zweitens, sollen die Steuervergünstigungen für Hoteliers zurückgenommen werden. Drittens schlagen wir die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro in allen Branchen vor. Daraus ergeben sich Mehreinnahmen durch höhere Steuern und Minderausgaben unter anderem für Aufstocker im ersten Jahr der Einführung in der Summe von rund 3,5 Milliarden Euro allein für den Bund. Viertens wollen wir wie der Bundesrechnungshof die Steuerverwaltung optimieren, was nach unseren Berechnungen in einem ersten Schritt 3,7 Milliarden Euro bringen würde. Auch bei der Erbschaftssteuer ist noch Luft nach oben.
Sie gehen also davon aus, dass, wären Sie an der
Regierung, die Neuverschuldung geringer ausfallen würde? Zudem
halten Sie das Sparpaket für sozial
unausgewogen.
Es ist ökonomisch kurzsichtig und
unausgewogen in dem Sinne, dass die Sparmaßnahmen die sozial
Schwächsten treffen und sich ansonsten über
Steuererhöhung auf Tabak und Flugtickets finanziert. Konkret
werden die Kürzungen nur bei den Arbeitslosen. Das
bringt mich zum Ausgangspunkt zurück: Das Sparpaket ist nur
wegen der Finanzkrise notwendig geworden, doch diejenigen die die
Krise zu verantworten haben, werden nicht zur Rechenschaft gezogen.
Im Gegenteil, ihre Verluste sind sozialisiert worden. Deswegen sind
wir der Meinung, dass die Vermögenden dieses Landes einen
Beitrag leisten müssen. Bisher leisten sie jedenfalls keinen
Beitrag. Das sieht die Union übrigens ähnlich, sie konnte
sich nur nicht gegen die FDP durchsetzen.
Mit welchen Maßnahmen wollen Sie die weltweit
agierenden Banken in die Pflicht nehmen?
Da die
Beteiligung der Banken am Rettungsfonds während der
Großen Koalition im Jahr 2008 am Widerstand der CDU
scheiterte, können wir es nur noch mit der Einführung
einer Finanztransaktionssteuer erreichen. Das hat Herr
Schäuble auch in seinen Haushalt ab 2012 eingeplant. Ich bin
gespannt, ob er sich europäisch durchsetzen kann und ob er
überhaupt dafür kämpft.
Wegen der im Grundgesetz vorgeschriebene Schuldenbremse
muss gespart werden. Sehen Sie die Regierungskoalition
grundsätzlich auf dem richtigen Weg?
In den
Reden ja, im Handeln nein. Wir sind im ersten Jahr der Anwendung
der Schuldenbremse, und der Umgang mit diesem neuen Mechanismus ist
entscheidend für die Akzeptanz in der Bevölkerung, aber
auch im Parlament. Wie ist die aktuelle Lage, ist die entscheidende
Frage für die Berechnung des strukturellen Defizits, also wie
viele Schulden darf der Staat machen und wie schnell muss es wieder
abgebaut werden. Herr Schäuble fragt aber nicht, wo wir heute
stehen, sondern er stellt fest, wo wir gestern standen, in diesem
Falle im Juni. Die Entwicklung ist aber viel besser als die alten
Juni-Zahlen nahelegen. Schon jetzt ist absehbar, dass sich die
Haushaltssituation im zweiten Halbjahr dieses Jahres nochmals
erheblich verbessert hat. Dass die aktuellen Zahlen nicht
zugrundegelegt werden, ist eine politische Entscheidung. Wären
diese die Grundlage, müsste das Defizit schneller
zurückgeführt werden. Da wird im Finanzministerium
bewusst getrickst, um im Wahljahr 2013 zusätzlich Luft
für Wahlgeschenke zu haben. Auch wird ein falsches
Berechnungssystem angewendet, um konjunkturelle Schwankungen in
Deutschland darzustellen. Nach meinen Berechnungen verschafft sich
Herr Schäuble so 40 Milliarden Euro zusätzliche
Kreditaufnahme, nur weil er mit veralteten Zahlen rechnet.
Welche Maßnahmen würden Sie umsetzen, wenn
Sie die Möglichkeit dazu hätten?
Die FDP
hat immer gesagt: Der Staat hat ein Ausgabenproblem. Ich meine der
Staat hat vor allem ein Einnahmeproblem, gerade wenn man sich die
steigenden Anforderungen an den Staat ansieht. Die SPD würde
diejenigen, die über 100.000 Euro im Jahr verdienen höher
besteuern um dem Staat seine Aufgaben im Bereich Forschung, Bildung
und soziale Sicherheit finanzieren zu können. Insbesondere im
Bereich Steuervollzug muss einiges getan werden. Wir haben zwar
überall in Deutschland gleiches Recht, doch es wird nicht
gleich angewandt. Die Gefahr einer Steuerprüfung ist in den
einzelnen Bundesländern doch recht unterschiedlich verteilt.
Das ist nicht hinnehmbar. Wenn man eine Akzeptanz von Recht und dem
Rechtsstaat an sich haben will, muss er auch überall gleich
durchgesetzt werden.
Die Länder verschaffen sich also einen
Standortvorteil?
Das wird ihnen kein Finanzminister
eines Landes sagen, aber das ist doch stark zu vermuten. Es ist
aber auch ein Anreizproblem. Die Bundesländer können nur
einen geringen Teil der Mehreinnahmen aus Steuerprüfungen
selbst verbuchen, der Rest geht an den Bund und in den
Länderfinanzausgleich. In der Konsequenz läuft es darauf
hinaus, dass der Bund die Hoheit über diese Aufgabe
übernehmen muss.
Weg von den Ländern, hin zu Europa: Wie kann ein
deutscher Haushaltspolitiker auf Krisen in Europa, wie
kürzlich Griechenland und jetzt Irland,
reagieren?
Die einzige Chance ist, die Probleme
frühestmöglich zu erkennen und schnellstmöglich und
klug zu handeln. Die Finanzkrise hat uns überrascht, die
Griechenlandkrise eigentlich nicht. Auch die Probleme in Irland
waren bekannt. Die Griechenlandkrise hat die Regierung wegen der
damaligen Wahl in Nordrhein-Westfalen selbst verschleppt. Das hat
zu einer Verschärfung der Situation und für uns
Parlamentarier zu dem furchtbaren Druck geführt, in einer
Woche entscheiden zu müssen. Das war eine
Selbstverstümmelung des Parlaments. Da muss man sich nicht
wundern, wenn man von der Bevölkerung nicht mehr ernstgenommen
wird, weil man sich selbst nicht mehr ernst nimmt. Meine Position
dazu ist sehr nah beim Bundestagspräsidenten Nobert Lammert,
der wiederholt das Verfahren, zuletzt bei der Atomdebatte,
kritisiert hat. Er hat Recht. Die SPD-Fraktion hat damals gegen
meine Empfehlung einer Fristverkürzung zugestimmt. Ich meine
aber, eine Woche mehr Beratung hätte da nicht geschadet.
In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“, Nr. 49, lesen Sie:
Generaldebatte im Bundestag: Positionen der Fraktionen und Ergebnisse der namentlichen Abstimmung zum Haushaltsgesetz 2011 (Seite 1)
Interview: Carsten Schneider (SPD), Haushaltsexperte: Koalition hat bei der Etatplanung getäuscht und getrickst (Seite 2)
Bundeshaushalt I: Trotz Protesten am Sparkurs hat der Finanzminister seinen ersten Haushaltsetat durch das Parlament gebracht. Kritik an seiner Person begegnet er offensiv/Überblick über die Etats der Ressorts (Seiten 3-8)
Schulden: Auf 69,9 Milliarden Euro steigt das Kreditvolumen des Bundes – jeder 5. Euro des Haushaltes wird auf Pump finanziert (Seite 9)
Terror: Die Kuppel des Reichstages ist bis auf weiteres für Besucher gesperrt. Auch das Parlamentsviertel wird verstärkt geschützt (Seite 10)
Afghanistan: Wahlbetrug, Drogenhandel und Schattenwirtschaft. Präsident Hamid Karsai habe sein Land nicht mehr unter Kontrolle (Seite 12)
Bundeswehr: Bundestag berät über die Verlängerung von Auslandseinsätzen (Seite 12)
Weitere Themen sind unter anderem: Konjunktur: Finanzverwaltung erwartet für nächstes Jahr höhere Einnahmen; Jung und Alt: Der jüngste und der erfahrenste Parlamentarier feiern am 1. und 15. Dezember ihre Geburtstage. Heinz Riesenhuber wird 75 Jahre alt, Florian Bernschneider 24 – zwei Porträts; Buchrezension: Das Leben der Petra Kelly