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Vorabmeldung zu einem Interview in der
nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 13. Dezember
2010)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen
Veröffentlichung –
Nach der jüngsten Pisa-Studie dringt die SPD-Bildungsexpertin Ulla Burchardt auf einen verstärkten Ausbau von Ganztagsschulen in Deutschland. Trotz offensichtlicher Verbesserungen sei das Ergebnis der am vergangenen Dienstag veröffentlichten Pisa-Studie „alles andere als zufriedenstellend“, sagte die Vorsitzende des Bildungsausschusses des Bundestags in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Erneut sei bestätigt worden, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland „so groß wie in keinem anderen vergleichbaren Land“ ist. Zwar habe man „gewisse Erfolge“ durch das mit vier Milliarden Euro ausgestattete Ganztagsschulprogramm des Bundes erzielt. Trotzdem gebe es nur für jedes fünfte Kind in der Bundesrepublik einen Ganztagsschulplatz.
„Das ist zu wenig“, kritisierte die SPD-Parlamentarierin. Die gesamte wissenschaftliche Expertise weise darauf hin, „dass die besten Fördermöglichkeiten in Ganztagsschulen gegeben sind“. Sie böten „den Raum, alle Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen zur Entfaltung zu bringen, auch die kreativen und sozialen“.
Burchardt wandte sich zugleich mit Nachdruck gegen das sogenannte Kooperationsverbot, das dem Bund Investitionen im Bildungsbereich untersagt. Es wäre ein „wichtiges Signal, wenn sich der Bildungsausschuss über alle Fraktionsgrenzen hinweg darauf verständigen würde, die Aufhebung des Kooperationsverbotes zu fordern“. Kaum jemand halte das 2006 im Zuge der Föderalismusreform beschlossene Verbot noch für sinnvoll: „Die Herausforderungen lassen sich nur mit gemeinsamen Kraftanstrengungen meistern“.
Das Interview im Wortlaut:
Zehn Jahre Pisa, zehn Jahre Pisa-Schock. Vergangene
Woche wurde die vierte Studie veröffentlicht. Wie sieht Ihre
Bilanz aus?
Burchardt: Auch wenn es offensichtlich Verbesserungen
gegeben hat, ist das Ergebnis alles andere als zufriedenstellend.
Einer der Hauptbefunde der ersten Pisa-Studie – und das hat
damals auch zum großen Schockerlebnis geführt –
ist erneut bestätigt worden: Der Zusammenhang zwischen
sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland ist so
groß wie in keinem anderen vergleichbaren Land. Das ist der
Punkt, an dem man ansetzen muss.
Dieses Problem ist seit zehn Jahren bekannt. Wieso gibt
es dort keine Verbesserungen?
Burchardt: Die Kultusminister hatten sich zwar auf
Bildungsstandards verständigt, aber an dem Grundproblem, dass
es an einer systematischen Förderung mangelt, hat sich nicht
viel geändert. Wir haben gewisse Erfolge durch das
Ganztagsschulprogramm des Bundes erzielt, das mit vier Milliarden
Euro ausgestattet war und ausgelaufen ist. Trotzdem gibt es nur
für jedes fünfte Kind in Deutschland einen
Ganztagsschulplatz. Das ist zu wenig. Die gesamte wissenschaftliche
Expertise weist darauf hin, dass die besten
Fördermöglichkeiten in Ganztagsschulen gegeben sind. Sie
bieten den Raum, alle Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen
zur Entfaltung zu bringen, auch die kreativen und sozialen.
Gerade das wird bei Pisa nicht getestet…
Burchardt: Ja, und das zeigt – bei aller Bedeutung
der Pisa-Ergebnisse – auch deren Begrenztheit. Man kann nur
das messen, was sich messen lässt. Und Sozialkompetenz wird
von der OECD nicht abgefragt. Trotzdem sind soziale Kompetenz und
Kreativität Fähigkeiten, die zunehmend erforderlich sind,
um in der Berufswelt und im Leben zurechtzukommen.
Ist die Pisa-Studie ein geeignetes Instrument, um die
Leistungsfähigkeit deutscher Schüler zu bewerten?
Burchardt: Der Hype um Pisa steht in keinem
Verhältnis zu der Aussagekraft. Pisa ist eine Momentaufnahme
von getesteten 15jährigen zu einem bestimmten Zeitpunkt, sagt
aber nichts über die Leistungsfähigkeit des
Bildungssystems aus. Da sind andere Berichte ergiebiger. Der
Integrationsbericht belegt die Benachteiligung junger Migranten in
Schule und Ausbildung. Der Nationale Bildungsbericht hat in diesem
Jahr zum dritten Mal die Schwachstellen des Bildungssystems
offenbart.
Die Pisa-Studie bekommt eine große
öffentliche Aufmerksamkeit. Ausgerechnet hier gibt es keinen
Bundesländervergleich mehr. Können sich die Länder
dadurch nicht aus der Verantwortung ziehen?
Burchardt: Der Bildungsföderalismus steht
mittlerweile unter einem erheblichen Legitimationsdruck. Die
Bürgerinnen und Bürger sind extrem unzufrieden. Deswegen
müssen sich Bildungspolitik von Bund und Ländern auf den
Prüfstand stellen lassen genauso wie Schulen und Lehrer. Wir
brauchen einen Nationalen Bildungspakt, in dem sich Bund und
Länder auf nachhaltige Bildungsfinanzierung und
Infrastrukturausbau verständigen. Zur besseren Koordinierung
plädiere ich dafür, den Nationalen Bildungsbericht zu
einem Steuerungs- und Koordinierungsinstrument auszubauen. Bund und
Länder müssen sich nicht nur auf gemeinsame Ziele
verständigen, wie sie es schon oftmals getan haben, zum
Beispiel beim Sieben-Prozent-Ziel, die nationalen Bildungsausgaben
bis 2015 auf sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu
erhöhen, oder der Halbierung der Schulabbrecherquote. Sie
müssen vielmehr auch offenlegen, in welchem Zeitraum, mit
welchen Mitteln jeder seinen Anteil zur Zielerreichung leistet.
Konkrete Vorschläge hierzu hat die SPD in ihrem Antrag
„Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern
verlässlich weiterentwickeln“ vorgelegt.
Da die Finanzierung des Ganztagsschulprogramms
ausgelaufen ist, wird derzeit in Ihrer Partei über die weitere
Finanzierung gestritten. Ein Thema ist dabei auch die
Überlegung, das Kindergeld zu senken…
Burchardt: Der Bund hat dafür zu sorgen, dass
Länder und Kommunen ausreichende Mittel haben, um ihre
Aufgaben im Bildungsbereich erfüllen zu können. Um das
Sieben-Prozent-Ziel zu erreichen, wären mindestens 10
Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich für Bildung
nötig. Klar ist: Anstelle von Kindergelderhöhungen oder
gar Betreuungsprämie muss das Geld in den Ausbau der Kitas,
Schulen und Hochschulen fließen.
Welche Schlüsse kann der Bundestag – und der
Bildungsausschuss – für seine Arbeit aus der Pisa-Studie
ziehen?
Burchardt: Bei Erfolgen und Misserfolgen spielen viele
Faktoren eine Rolle. Diese ausschließlich an der Farbe einer
jeweiligen Landesregierung festzumachen, ist eine sehr
beschränkte Sichtweise. Es wäre ein wichtiges Signal,
wenn sich der Bildungsausschuss über alle Fraktionsgrenzen
hinweg darauf verständigen würde, die Aufhebung des
Kooperationsverbotes zu fordern.
Das Kooperationsverbot, das dem Bund Investitionen im
Bildungsbereich untersagt, wurde 2006 im Zuge der
Föderalismusreform beschlossen...
Burchardt: Kaum jemand hält das Verbot noch für
sinnvoll. Die Herausforderungen lassen sich nur mit gemeinsamen
Kraftanstrengungen meistern. Im Prinzip gäbe es für die
Abschaffung eine überwältigende Mehrheit.
Im Prinzip?
Burchardt: Wenn alle Kollegen ausschließlich nach
ihrer persönlichen Überzeugung abstimmen würden,
hätten wir tatsächlich eine Mehrheit – das
wäre eine Initialzündung.
Die rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen will das Konzept der Gemeinschaftsschulen durchsetzen. Die erste soll in Ascheberg eröffnet werden, einer CDU-geführten Gemeinde. Ist das ein Zeichen, dass in Zukunft an einem Strang gezogen wird – jenseits aller ideologischen Linien?
Burchardt: Faktisch hat sich die Mehrheit der Bundesländer vom dreigliedrigen Schulsystem verabschiedet. In Nordrhein-Westfalen hatten einige CDU-Gemeinden schon unter der alten Landesregierung eine Gemeinschaftsschule beantragt. Das wurde abgelehnt. Die jetzige Landesregierung ermöglicht es.
Allerdings ist in Hamburg die von Schwarz-Grün
angestrebte Schulreform gerade an dem Punkt des längeren
gemeinsamen Lernens gescheitert. Ist das Konzept durchsetzbar
angesichts des Widerstandes in der Bevölkerung?
Burchardt: In Nordrhein-Westfalen ist das Vorgehen anders.
Die Landesregierung gibt den Verantwortlichen die Freiheit zu
entscheiden, welche Schule zur Gemeinschaftsschule ausgebaut werden
soll. Dieser Ansatz ist bürgernah. Und dass die Eltern das
längere gemeinsame Lernen pauschal ablehnen würden, kann
ich aus meiner Dortmunder Erfahrung nicht bestätigen: Die
Anmeldezahlen für die bestehenden Gesamtschulen
übersteigen jedes Jahr bei Weitem das Angebot.
Angesichts eines drohenden Fachkräftemangels und
des bereits einsetzenden demographischen Wandels: Wie dringend muss
Deutschland in die Pisa-Spitzengruppe aufschließen?
Burchardt: Der Expertenbericht „Forschung und
Innovation“ mahnt zum wiederholten Male: Die mangelnde
Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems ist die
Achillesferse für die Innovationsfähigkeit und
nachhaltiges Wachstum. Wenn es gelingt, alle Potenziale zu
fördern und jedem die Chance auf Einstieg und Aufstieg durch
Bildung zu ermöglichen, werden wir auch in der
PISA-Spitzengruppe landen. Dann hat Deutschland gute Chancen, das
Fachkräfteproblem zu meistern und im internationalen
Wettbewerb zu bestehen.
In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“, Nr. 50, lesen Sie:
Afghanistan im Bundestag: Die Lage am Hindukusch vor der Regierungserklärung (Seite 1)
Interview: Ulla Burchardt (SPD), Vorsitzende des Ausschuss für Bildung zum Abschneiden Deutschlands bei der jüngsten Pisa-Studie (Seite 2)
Deutsch ins Grundgesetz. Ein Essay. (Seiten 3)
Von Banker-Boni, Stuttgart 21, Rettungsschirm, Job-Center, Sparhaushalten und Afghanistan. Ein Jahresrückblick. (Seite 4-8)
Prof. Dr. Nobert Lammert im Interview. Der Auftakt zur Serie „Die Präsidenten des Bundestages“ (Seite 9)
WikiLeaks und die Demokratie. Ein Standpunkt von Rolf Kleine (Seite 10)
Mexiko. Die organisierte Kriminalität zersetzt das Land. Wer hat die Kontrolle – Staat oder Mafia?
Weitere Themen sind: Bundeswehr: Die Verkürzung der
Wehrpflicht; Bonität: Staatsanleihen unter Druck; EU-Haushalt:
Einigung in letzter Minute; Arbeit: Opposition fordert Mindestlohn
für Praktikanten; Irland: Mit Sparhaushalt in den
Wahlkampf
Mit der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“.
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