Im Rückblick sieht vieles oft leichter und einfacher aus,
als es tatsächlich gewesen ist. Und selbst für schwierige
Geschichten und eine im wörtlichen Sinne dramatische
Geschichte finden Historiker mit dem gebotenen zeitlichen Abstand
meist plausible Erklärungen über Abläufe, ihre
Ursachen und ihre Wirkungen.
Die Charta der Heimatvertriebenen aus dem Jahr 1950 gehört
zu den Gründungsdokumenten der Bundesrepublik Deutschland, sie
ist eine wesentliche Voraussetzung ihrer vielgerühmten
Erfolgsgeschichte. Die Charta ist deshalb von historischer
Bedeutung, weil sie innenpolitisch radikalen Versuchungen den Boden
entzog, außenpolitisch einen Kurs der europäischen
Einigung und Versöhnung unter Einbeziehung der mittel- und
osteuropäischen Nachbarn vorbereitete und wirtschafts- und
gesellschaftspolitisch nicht nur die Integration von Millionen
Flüchtlingen und Vertriebenen, sondern über sie hinaus
einen beispiellosen Wirtschaftsaufbau ermöglichte, der
weltweit als "deutsches Wirtschaftswunder" Anerkennung gefunden
hat. Die wirkliche Bedeutung, ja die Größe dieser
Charta, zu der heute manche erstaunlichen Kommentare zu hören
und zu lesen sind, ergibt sich natürlich erst und nur aus der
Kenntnis der Umstände, in denen sie entstanden ist und an die
Frau Steinbach mit vollem Recht erinnert hat.
1950 lebten in Deutschland 12, 13 oder 14 Millionen
Flüchtlinge und Vertriebene, niemand weiß das ganz
genau, mehr als acht Millionen in der jungen Bundesrepublik. Von
den Heimatvertriebenen lebten im Jahre 1950, fünf Jahre nach
dem 2. Weltkrieg, noch 49,5 Prozent, also ziemlich genau die
Hälfte, in Lagern und 34,3 Prozent in Notwohnungen. Damals -
1950 - kamen in der Bundesrepublik auf 1000 Einwohner 220
Wohnungen. In den ausgebombten Städten des Westens war schon
angesichts des Fehlbestandes von 4,3 Millionen Wohnungen kein Platz
für die Aufnahme von Zuwanderern. Die Neuankömmlinge
wurden entweder in Barackenlager eingewiesen, die bis Kriegsende
durch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter belegt gewesen waren, oder
die Einheimischen wurden durch Flüchtlingskommissare oder die
Polizei gezwungen, Vertriebene in ihre Häuser und Wohnungen
aufzunehmen. Dabei wurden nicht selten leere Räume in
Dachgeschossen zugewiesen, die in der Regel nicht heizbar waren.
Die Ansiedlung erfolgte weithin auf dem Land, vorwiegend in Orten
unter 5000 Einwohnern. Die Statistik für den Freistaat Bayern,
die auf einer Volkszählung von Dezember 1949 beruht, weist
aus, dass damals insgesamt mehr als 75 Prozent der Vertriebenen in
Wohnorten unter 5000 Einwohnern lebten. In einem Dörfchen wie
Holzhausen am Starnberger See bekamen die 561 dort angestammten
Bürgerinnen und Bürger einen ungebetenen Zuzug von 824
Vertriebenen und Evakuierten.
Meine Damen und Herren, man braucht nicht viel Phantasie und man
muss auch - wie ich - damals noch nicht gelebt haben, um sich
vorzustellen, welche Unterschiede in der Mentalität, dem
Dialekt, den Lebensweisen und welche handfesten Interessen damals
hart aufeinander prallten. In einem Memorandum der britischen
Militärregierung hieß es damals, der Stress mit den
Einwanderern fördere "ein bedeutendes Unmutspotenzial". Das
war vermutlich eher vorsichtig formuliert. Ohne einschneidende
Verbesserungen, so hieß es weiter, werde "Deutschland zu
einem unbequemen Partner der westlichen Gemeinschaft". Der
Generaldirektor des Internationalen Roten Kreuzes soll damals das
Flüchtlingsproblem als "gefährlicher als die Atombombe"
bezeichnet haben. Solche Vergleiche sind immer etwas schwierig,
aber wer sich heute gelegentlich mit der explosiven Situation in
palästinensischen Flüchtlingslagern beschäftigt, wo
über Jahrzehnte der Zustand aufrecht erhalten geblieben ist,
der damals zeitweilig auch in Deutschland bestand, der bekommt
mindestens eine Vorstellung von den Problemen, den
Herausforderungen und Risiken, mit denen damals dieses Land und
insbesondere die Vertriebenen und Flüchtlinge konfrontiert
gewesen sind.
Es war eine Zeit gründlicher existentieller
Veränderungen der Lebensverhältnisse für Millionen
Menschen. Zwei Drittel der vor dem Krieg im Osten
beschäftigten Flüchtlinge und Vertriebenen hatten
zwischen 1945 und 1950 in Westdeutschland ihren Erwerbszweig zu
wechseln. Bei den Agrarbeschäftigten waren es sogar 87
Prozent. Das, meine Damen und Herren, war die politische, die
soziale und die wirtschaftliche Situation, in der das erste
Bundestreffen der Heimatvertriebenen im August 1950 auf dem
Stuttgarter Schlossplatz stattgefunden hat. In der Stuttgarter
Zeitung war damals zu lesen: "Das sind Menschen, denen man ihr
schweres Los nicht nur an der dürftigen und verschlossenen
Kleidung ansieht. Ihr Schicksal, die grauenhaften Erlebnisse ihrer
Flucht vor fünf Jahren, haben sich in die Gesichter
eingezeichnet. Das sind ernste, resignierende Gesichter, die keinen
Zweifel darüber lassen, dass diese Demonstration nichts mit
einem fröhlichen Heimattreffen zu tun hat."
Für Fröhlichkeit bestand damals auch wenig Anlass.
Umso eindrucksvoller ist der "heilige Ernst", den diese Charta im
Wortlaut und im Geist zum Ausdruck bringt. Manche der Forderungen,
die aus der Situation heraus in dieser Charta formuliert worden
sind, wurden durch das Lastenausgleichsgesetz 1952, durch das
Bundesvertriebenengesetz 1953, durch eine Fülle mehr und
weniger auffälliger politischer, rechtlicher, sozialer,
gesellschaftlicher Initiativen erfüllt: gleiche Rechte als
Staatsbürger, eine gerechte und sinnvolle Verteilung der
Lasten, der sinnvolle Einbau aller Berufsgruppen der
Heimatvertriebenen in das Leben dieses Landes, des deutschen Volkes
und schon gar ihre Beteiligung am Wiederaufbau Europas. Und manche,
die sich in diesen Tagen verständlicherweise von diesem
Dokument aus dem August 1950 eine umfassende Beschreibung der
historischen Abläufe bis zu diesem Treffen erwarten, sollten
sich vielleicht gelegentlich in Erinnerung rufen oder rufen lassen,
dass dieser Text keine Analyse von Historikern war und auch keine
parlamentarische Resolution, sondern eine Stellungnahme von
Betroffenen.
Ich stimme dem Publizisten Ernst Friedlaender ausdrücklich
zu, der in seiner Beurteilung der Bedeutung dieses Textes
geschrieben hat: "Hier sprechen nicht radikale Interessenten,
sondern leidende Menschen, denen ihr Leid, über alle
Bitterkeit hinweg, Reife geschenkt hat, die Reife der Einsicht und
des Wollens." Und deswegen, verehrte Frau Frank, möchte ich
Ihnen stellvertretend für all diejenigen, die damals unter den
nur grob geschilderten, fast unglaublichen Bedingungen diesen
unglaublichen Text formuliert haben, meinen persönlichen
Respekt und auch den vieler Kollegen der
Vertretungskörperschaften dieses deutschen Volkes heute
übermitteln.
Meine Damen und Herren, ich will nicht unterschlagen, dass nicht
alle späteren öffentlichen Erklärungen von
Spitzenvertretern von Vertriebenenorganisationen in Form und Inhalt
den Geist dieser Charta geatmet und vermittelt haben. Aber wahr ist
auch, dass die übergroße Mehrheit der in den
Vertriebenenorganisationen Organisierten keineswegs
rechtsextremistisch oder revisionistisch orientiert war und dass
die ganz überwiegende Mehrheit sich in erstaunlich kurzer Zeit
in das Spektrum der demokratischen Parteien dieser neuen Republik
eingebunden hat.
Im Blick auf 65 Jahre deutscher Nachkriegsgeschichte ist heute
deutlicher, was viele Zeitgenossen damals nicht wahrhaben wollten
oder nicht wahrhaben konnten. Christian Graf von Krockow hat in
seinem lesenswerten Buch "Heimat - eine Einführung in das
Thema" geschrieben: "Im Rückblick möchte man fast meinen,
dass die Heimatvertriebenen sich als exemplarisch, um nicht zu
sagen als eine Vorhut für die Gesamtbevölkerung erwiesen
haben. In einem weiteren und tieferen Sinne waren nach 1945 alle
Deutschen Entwurzelte, auf der Flucht vor dem, was gestern noch
galt und was sie begeistert hatte. Und sie waren die Deklassierten,
die moralisch Geächteten der Siegermächte und der
Völker ringsum. Die Konzentration auf Arbeit und Leistung, die
Umwendung von der Vergangenheit zur Zukunft brachte darum nicht nur
den Aufstieg zum Wohlstand, sondern auch - und vielleicht noch
wichtiger - die Entlastung von drängenden Fragen, die
Möglichkeit, sich ein neues Selbstwertgefühl zu
verschaffen."
Heute, meine Damen und Herren, ist das Bruttoinlandsprodukt in
Deutschland 50 mal so hoch wie damals. Damals hatte, um
Größenordnungen halbwegs vergleichbar zu machen, die
Bundesrepublik Deutschland ein Sozialprodukt, das etwa dem heutigen
von Burma entspricht. Und durch eine ganz außerordentliche,
historisch kaum mit Parallelen versehene, gemeinsame Aufbauleistung
ist heute das Sozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung 30 mal so
hoch wie das 1950 der Fall gewesen ist. Eine erstaunliche
Erfolgsgeschichte, an der die Vertriebenen und Flüchtlinge
einen großen Anteil haben.
Meine Damen und Herren, 60 Jahre nach Verabschiedung der Charta
stehen wir in Deutschland vor neuen Integrationsaufgaben
ähnlichen Umfangs und nicht geringerer Bedeutung,
ähnlichen Herausforderungen mit beachtlichen Risiken, aber
wieder einmal mit noch größeren Chancen.
Die Zahl der in Deutschland lebenden Migranten hat im Jahr 2009
erstmals die Grenze von 16 Millionen überschritten. Das sind
fast 20 Prozent unserer Bevölkerung. Wenn wir heute von 16
Millionen Migranten reden, dann reden wir erstaunlicherweise
über eine sehr ähnliche Größenordnung, wie
über die erzwungenen Migranten der Zeit zwischen 1945 und
1950. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund steigt
insbesondere unter den jüngeren kontinuierlich. Mehr als ein
Drittel der Kinder unter fünf Jahren stammt aus
Einwandererfamilien. In Großstädten sind es noch
deutlich mehr, in Frankfurt kommen mehr als 65 Prozent der unter
Sechsjährigen aus einer Zuwandererfamilie.
Das ist eine beachtliche Herausforderung. Aber wenn, wie der
Innenminister zurecht angemahnt hat, ein Tag wie heute nicht nur
dem Dank und Respekt für eine in der Vergangenheit erbrachte
Leistung dienen soll, sondern auch der Ermutigung für die
Bewältigung von neuen Herausforderungen in der Zukunft, dann
ist es mindestens angemessen, auf diese neue, andere, aber nicht
weniger gewichtige Herausforderung aufmerksam zu machen.
Dass im übrigen ein immer größerer Teil unserer
Gesellschaft und mit Blick auf die nachwachsende Generation ein
noch höherer Teil unserer Gesellschaft aus Einwandererfamilien
stammt, hat sich jedenfalls für die Deutsche
Fußballnationalmannschaft zuletzt bei der Weltmeisterschaft
nicht als unüberwindliches Handicap herausgestellt. Und ich
habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass die sich daraus
herleitenden Einsichten auch jenseits von Fußballplätzen
ihre Wirkung entfalten können, wenn wir mit dieser
Herausforderung so intelligent umgehen, wie das damals unter ganz
anderen Voraussetzungen ganz offenkundig in einer bemerkenswerten
Weise gelungen ist. Genau daran müssen wir arbeiten: Dass aus
den Nachkommen von Türken, von Griechen, von Spaniern und
Portugiesen genauso selbstbewusste Schwaben und Sachsen,
Mecklenburger, Bayern und "Ruhris" werden, wie die polnischen
Zuwanderer und die Heimatvertriebenen aus Mittel- und Osteuropa
auch.
Auch wenn das keineswegs schon allgemeiner gesellschaftlicher
Konsens ist: unser Problem in Deutschland ist nicht zu viel
Einwanderung, sondern zu wenig Einbürgerung. Es gelingt uns
nicht in hinreichendem Maß, das eine in das andere zu
übersetzen. Dass im übrigen nichts die Integration mehr
fördert, als das Gefühl, willkommen zu sein, ist eine
Erfahrung, die damals Vertriebene und Flüchtlinge gemacht
haben und die ohne jeden Zweifel für die neuen
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in ganz genau der gleichen
Weise gilt.
Meine Damen und Herren, Flucht und Vertreibung sind eine
scheinbar unendliche Geschichte. Sie handelt nicht nur von der
Vergangenheit, sondern auch von der Gegenwart. Sie hat weder im 20.
Jahrhundert begonnen, noch ist sie bedauerlicherweise im 20.
Jahrhundert zu Ende gegangen. Im Jahr 2009 hat nach den Zahlen der
Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen die Zahl der
Flüchtlinge weltweit die Größe von 43 Millionen
Menschen erreicht. Mehr als die Hälfte von ihnen sind
Flüchtlinge im eigenen Land.
Wer eine schreckliche Vergangenheit nicht in die Zukunft
verlängern will, muss die Lektionen der Geschichte lernen,
soweit sich überhaupt über Generationen hinweg
Erfahrungen vermitteln und Einsichten in Veränderungen
umsetzen lassen. Eine ganz besondere Schwierigkeit besteht in der
Diskrepanz zwischen den großen historischen Ereignissen und
den scheinbar kleinen persönlichen Schicksalen, deren Summe
aber überhaupt erst die großen Veränderungen
ausmachen. Die Geschichte der Vertreibung in Europa ist dafür
ein besonders gutes und zugleich sensibles Beispiel. Die
historischen Kausalitäten, der Zusammenhang zwischen Ursache
und Wirkung liegen bei den großen Vertreibungen, die es in
der europäischen Geschichte vor allem des 20. Jahrhunderts
gegeben hat, regelmäßig klar zu Tage. Eine hinreichende
Erklärung für das persönliche Vertreibungsschicksal
ergibt sich daraus fast nie. Das macht den Umgang mit dem Thema so
schwierig, persönlich wie politisch, das Risiko von
Missverständnissen und Verletzungen so hoch, und es darf
dennoch nicht zu dem bequemen Ausweg verleiten, Einzelschicksale
verdrängen zu wollen und für die großen
Zusammenhänge und für das veränderte Verhältnis
von Nachbarländern zueinander - wie es so schön
heißt - Irritationen zu vermeiden. Der Preis der
Verdrängung ist Distanz. Nicht die kühle Distanz des
Historikers, der emotionslos Fakten und Ereignisse sortiert,
sondern die emotionale Distanz von Betroffenen zu den Institutionen
und Repräsentanten des eigenen wie des dauerhaft fremden
Landes, das auf diese Weise nie zum gefühlten guten Nachbarn
werden kann. Deshalb, meine Damen und Herren, ist Erinnerungskultur
ebenso wichtig wie schwierig. Und deshalb ist sie auch eine
staatliche Aufgabe.
Menschen, die persönlich schuldlos Opfer politischer
Verwicklungen, staatlich veranlasster Verirrungen oder Verbrechen
geworden sind, haben einen Anspruch darauf, in ihrem Schmerz, mit
ihrem Schicksal nicht allein gelassen zu werden. Auch deshalb sind
überall in Deutschland zahlreiche Heimatmuseen und mehr als
tausend Denkmäler entstanden, die an alte deutsche Städte
und Stätten erinnern, der Opfer von Flucht und Vertreibung
gedenken, und dies ist selbstverständlich die eigentliche,
große Aufgabe der Stiftung Flucht, Vertreibung und
Versöhnung, wie der Innenminister zu Recht gerade noch einmal
hervorgehoben hat.
Wir reden hier über eine gemeinsame öffentliche
Aufgabe, die durch gesellschaftliche Initiativen zu ergänzen,
aber nicht zu ersetzen ist. Wer - wie ich - als Vertreter der
Nachkriegsgeneration auch nur einen Hauch von Vorstellungskraft
über Ereignisse besitzt, die er selber nicht erleben musste,
wird sich keine Illusion über die Größe der
Anstrengungen machen, die notwendig sind, um diesen Ansprüchen
zu genügen. Aber ich fühle mich außerordentlich
ermutigt, gerade durch die Fülle der Kontakte der letzten
Jahre mit Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten wie den
Regierungen unserer Nachbarländer. Und dies gilt in einer ganz
besonderen Weise gerade für die Nachbarländer, mit denen
uns das Flüchtlings- und Vertreibungsschicksal, an das wir
heute erinnern, historisch in einer ganz besonderen Weise dauerhaft
in Verbindung gebracht hat.
Ich bin im November 2007 - mit Erika Steinbach in meiner
Begleitung - in das ungarische Parlament eingeladen gewesen und
habe dort bei einer Veranstaltung gesprochen, in der sich die
damalige ungarische Parlamentspräsidentin im Namen ihrer
Volksvertretung für die Vertreibung von Deutschen nach dem
zweiten Weltkrieg aus Ungarn entschuldigt hat. Sie werden mir
sofort glauben: Dies ist eine der eindrucksvollsten Erfahrungen
meiner ganzen politischen Biografie gewesen. Ich habe diese
Veranstaltung damals als ein großartiges Zeichen der
Aussöhnung verstanden und ein bisschen wie eine späte
Antwort auf die Charta der Heimatvertriebenen von 1950, die aus
vielen Gründen, die heute hier nicht zu untersuchen sind, in
anderen europäischen Ländern nach wie vor schwer
vorstellbar erscheint. Allein der Umstand, dass diese Veranstaltung
stattgefunden hat und nicht irgendwo stattgefunden hat, sondern in
einem frei gewählten Parlament eines Landes, das heute
scheinbar selbstverständlich zur Europäischen Union
gehört, zeigt, welche Wirkung der Geist entfaltet hat, der
auch und nicht zuletzt in der Charta der Heimatvertriebenen zum
Ausdruck gebracht ist: Der Aufbau eines neuen Europa, das durch den
Geist der Verständigung und der Versöhnung geprägt
ist.
Meine Damen und Herren, jede Kultur beruht auf Erinnerung. Sie
beginnt mit Erinnerung. Sie will freilich darüber hinaus, aber
ohne Erinnerung hätte sie nicht einmal begonnen. Für uns
Europäer gilt, schon gar im Kontext einer noch immer im
Wachstum befindlichen Gemeinschaft, nach Überwindung der
politischen Teilung dieses Kontinents, die nie, zu keinem
Zeitpunkt, eine kulturelle Trennung war, dass wir uns im Interesse
der gemeinsamen Zukunft auch um ein gemeinsames Verständnis
der Vergangenheit bemühen müssen. Das ist schwierig, aber
möglich und nötig ist es ganz gewiss.
Die Charta der Heimatvertriebenen ist nicht nur ein wichtiges
Dokument der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik
Deutschland, der zweiten deutschen Demokratie, sie ist auch ein
bleibendes Vermächtnis für die Zukunft des
wiedervereinigten Deutschland in einem zusammenwachsenden
Europa.