Navigationspfad: Startseite > Dokumente & Recherche > Protokolle > Vorläufige Plenarprotokolle > Vorläufiges Protokoll der 94. Sitzung vom 25. Februar 2011
94. Sitzung
Berlin, Freitag, den 25. Februar 2011
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, soweit Sie noch keinen Platz gefunden haben, sich einen der wenigen freien Sitzplätze zu sichern, damit wir in unsere Tagesordnung eintreten können.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
ZP 4 |
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Drucksachen 17/3404, 17/3958, 17/3982, 17/4032, 17/4058, 17/4095, 17/4303, 17/4304, 17/4719, 17/4770, 17/4830 - |
Verabschiedung |
Der Berichterstatter zu diesem Themenkomplex im Bundestag, der Abgeordnete Hubertus Heil, wünscht nicht das Wort zur Berichterstattung.
Mit einer schriftlichen Erklärung macht er aber auf sechs von Bund und Ländern abgegebene Protokollerklärungen aufmerksam. Diese Erklärung und die Protokollerklärungen nehmen wir zu Protokoll. Das gilt selbstverständlich auch für solche Erklärungen, die einzelne Abgeordnete zu ihrem persönlichen Abstimmungsverhalten gegebenenfalls zu Protokoll geben wollen.
Soweit der Wunsch nach mündlichen Erklärungen geltend gemacht werden sollte, schlage ich vor, dies nach der vereinbarten Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt durchzuführen. Das erscheint mir deswegen sachgerecht, weil dann jeder für sich noch einmal die Frage prüfen kann, ob die ihm wesentlichen Gesichtspunkte nicht in der Debatte gerade vorgetragen worden sind. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf der Drucksache 17/4830.
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderung gemeinsam abzustimmen ist. Dazu ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Abstimmungsurnen besetzt? - Dann eröffne ich hiermit die Abstimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mitglied des Hauses im Saal, das seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Nachdem sich nun auch Mitglieder der Bundesregierung noch rechtzeitig an der Abstimmung haben beteiligen können, schließe ich jetzt die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir werden das Ergebnis der Abstimmung während der Debatte bekannt geben.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:
ZP 5 |
Vereinbarte Debatte zur Lage von SGB-Leistungsempfängern und ihrer Kinder |
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Frau Dr. Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in den letzten Wochen immer viel Kraft aus einem Zitat geschöpft
- es wurde dazwischengerufen: Schon wieder ein Zitat -,
das vom guten alten Goethe stammt: ?Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.? Ich finde, jetzt ist die Einigung da. Wir haben viele Steine im Weg gehabt. Jeder Stein ist jetzt an seinem Platz. Ich bin der festen Überzeugung: Wir haben mit dem Bildungspaket etwas richtig Gutes gebaut.
Die Hauptgewinner dieser Reform sind die Kinder, und es sind die Kommunen. Wenn ich mich daran zurückerinnere, wie groß die Zahl der Kritiker des Bildungspaketes noch im letzten Jahr war, dass ich Sätze gehört habe wie ?Wo kommen wir denn da hin? Das haben wir noch nie gehabt. Wie soll das denn enden??, und wenn ich heute sehe, wie groß die Zahl der Befürworter ist, dann kann ich nur sagen: Schön, dass das Bildungspaket jetzt so viele Väter und Mütter hat! Das ist der sicherste Beweis dafür, dass der Grundgedanke richtig ist und dass er überzeugend ist.
Mit dem Bildungspaket denken wir zum ersten Mal in den Hartz-Gesetzen wirklich vom Kind her. Es ist der richtige Ansatz, nicht mehr Geld mit der Gießkanne auszuschütten, sondern etwas im Leben der Kinder ganz konkret zu verändern. Es macht eben einen Unterschied, ob Kinder beim Schulmittagessen danebensitzen und nicht mitessen können oder ob sie daran teilnehmen können. Es macht einen Unterschied, ob sie beim Schulausflug dabei sind. Es macht einen Unterschied, ob ein 16-Jähriger den Schulabschluss durch Lernförderung noch schafft oder ob er die Schule schmeißt. Es macht einen Unterschied für die Kinder - und zwar ein Leben lang -, ob sie ihr Leben selbstständig in die Hand nehmen können oder nicht.
Ich weiß, dass es im Verlauf der Verhandlungen viele Kritiker gegeben hat, die vor allem das Trennende aufgezählt haben, das, wo wir nicht einer Meinung waren. Aber ich glaube im Rückblick: Das Bildungspaket ist im Verlauf des Vermittlungsverfahrens so gut geworden, weil es unser gemeinsames Bildungspaket geworden ist. Es gibt einen guten Grund, warum wir uns bei großen sozialpolitischen Reformen bemühen, einen breiten Konsens nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch zwischen den verschiedenen politischen Parteien herzustellen. Keiner hat mehr versucht, das Bildungspaket aufzuschnüren. Ich freue mich, dass es auf die Kinder von Geringverdienern ausgeweitet worden ist. Man hat wirklich gemerkt, dass dieser Gedanke uns gemeinsam am Herzen lag. Die Einigung hat sicherlich nicht so lange gedauert, weil wir so weit auseinander waren, sondern eher, weil wir viel näher am Ziel und beieinander waren und es nicht wirklich wahrhaben wollten und deshalb um jedes Detail so erbittert gerungen haben.
Der Riss ging quer durch beim Thema Regelsatz. Mir ist völlig klar, dass Teile der Opposition sehr damit hadern, dass sie die Gesetze mit dem Namen Hartz auf den Weg gebracht haben.
Sie haben mir immer wieder gesagt, dass sie nicht noch einmal wegen der Höhe der Regelsätze in Karlsruhe landen möchten. Aber, meine Damen und Herren, das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Höhe der Regelsätze angeprangert.
Es hat die Intransparenz, die Abschläge und die Schätzung ins Blaue angeprangert. Das haben wir korrigiert. Dazu können wir jetzt stehen.
Völlig intransparent ist für mich allerdings das Verhalten der Grünen. Sie haben noch im Sommer letzten Jahres auf einen neuen Regelsatz von 420 Euro spekuliert. Am Ende der Verhandlungen sind Sie bei 6 Euro ausgestiegen. Wo ist da noch die Nachvollziehbarkeit? Da ging es nicht mehr um konkrete Gründe. Da ging es einfach nur darum, die Flucht nach vorne aus der Verantwortung anzutreten. Damit haben Sie Ihrem Ruf als Dagegen-Partei wahrlich wieder Ehre gemacht.
Es gibt bei dieser Reform neben den Kindern einen weiteren großen Gewinner: Das sind die Kommunen. Sie erhalten durch das Bildungspaket eine schöne Aufgabe,
eine nachhaltige Aufgabe. Sie werden durch die Übernahme der Grundsicherung für Ältere und Erwerbsgeminderte dauerhaft entlastet. Das sind alleine bis zum Jahr 2020 52 Milliarden Euro. Damit haben wir den Kommunen gegenüber Wort gehalten. Die Kommunen erhalten vor Ort Spielraum für alle Familien und alle Kinder. Der Bund hat sich sehr weit bewegt, damit dieser Anfang auch ein neuer Anfang für die Kommunen sein kann. Darauf sind wir stolz.
Es sind harte Verhandlungen gewesen. Bei diesem großen und wichtigen Thema ist das auch nachvollziehbar und verständlich. Am Ende stand die Allianz der Vernünftigen, der Konsensorientierten, der Lösungsorientierten. Das gilt auch für die Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit, die zum 1. Mai kommen wird. Das gilt für die Mindestlöhne im Wach- und Sicherheitsgewerbe und in der Weiterbildungsbranche. Ich danke allen Beteiligten, die die Kraft aufgebracht haben, diese große Reform auf den Weg zu bringen: auf der Seite der Koalition, auf der Seite der SPD, im Bund, aber auch in den Ländern. Es ist wahrlich eine gute Tradition, solche großen Themen, die mit vielen Auseinandersetzungen und Konflikten, aber auch mit den richtigen Schwerpunkten verhandelt werden, gemeinsam zu bewältigen.
Der Weg dahin war mühsam. Ich finde, Politik muss am Ende nicht einen Schönheitspreis gewinnen, sondern sie muss gut sein. Das heißt, sie muss nachhaltig etwas für die Menschen bewegen. Genau das lösen wir mit diesem Gesetz ein.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich kann Ihnen nun das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses bekannt geben: abgegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt 433, mit Nein haben gestimmt 132, enthalten haben sich 2 Mitglieder des Hauses. Damit ist die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses angenommen.
Ich erteile das Wort nun der Ministerin Manuela Schwesig.
Manuela Schwesig, Ministerin (Mecklenburg-Vorpommern):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ihnen liegt heute der Vorschlag des Vermittlungsausschusses vor. Es ist ein guter Kompromiss erreicht worden,
wenn auch nicht alles erreicht wurde, was wichtig wäre. Es hat lange gedauert. Es waren harte und zähe Verhandlungen bis auf die letzten Meter; aber am Ende hat es sich gelohnt. Es ist uns gelungen, in drei wichtigen Bereichen Verbesserungen zu erzielen. Wir haben aus dem Bildungspäckchen ein Bildungspaket gemacht. Wir haben Fortschritte beim Mindestlohn erzielt, und beim Regelsatz konnten wir zwei Korrekturen erreichen. Deshalb wird die SPD heute, nach diesen vielen zähen Verhandlungen im Bundestag und im Bundesrat, diesem Kompromiss zustimmen.
Aber sehr geehrte Frau von der Leyen, bleiben wir realistisch: Sozialpolitische Geschichte wird heute hier nicht geschrieben; denn das, was vorliegt, reicht noch nicht, um die Armut in Deutschland zu bekämpfen und die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen. Dazu muss es mehr geben: flächendeckende Mindestlöhne, Ganztagskitas, Ganztagsschulen und viel mehr Investitionen in Bildung.
Ich bin sicher, dass diese große sozialpolitische Reform kommen wird. Sie war in dieser Größe mit der Bundesregierung nicht möglich, weil soziale Gerechtigkeit und Aufstieg durch Bildung auf ihrer Prioritätenliste nicht ganz oben stehen. Unsere Aufgabe konnte deshalb nur sein, den vorliegenden Gesetzentwurf zu verbessern. Das ist uns gelungen.
Gelungen ist uns dies gemeinsam mit den Grünen. Auch wenn die Grünen heute am Ende nicht zustimmen werden - aus Gründen, die ich teilweise verstehe -, möchte ich Danke sagen für die gute rot-grüne Teamarbeit, danke vor allem dir, lieber Fritz Kuhn.
Für mich zählt unter dem Strich, was wir erreicht haben und ob es den Menschen nach dieser Reform besser geht. Wir haben erreicht, dass zusätzlich 500 000 Kinder aus Geringverdienerfamilien ein warmes Mittagessen bekommen, in Vereinen gefördert sowie in Kitas und Schulen unterstützt werden. Diese 500 000 Kinder hatte die Bundesregierung vergessen.
Wir haben erreicht, dass 3 000 Schulsozialarbeiter zukünftig die Kinder unterstützen - Menschen für Kinder und Jugendliche anstatt Chipkarten, Automaten und Bürokratie.
Wir haben erreicht, dass die Kinder nicht zum Arbeitsamt gehen müssen, um sich Essenmarken abzuholen; vielmehr werden die Kinder vor Ort unterstützt, in den Städten und Gemeinden, in den Kitas und in den Schulen. Da, wo sie sind, bekommen sie ihre Unterstützung. Die Kommunen sind die Experten für die Kinder und nicht das Arbeitsamt. Deshalb ist es gut, dass wir die Umsetzung des Bildungspakets in die Hand der Kommunen geben. Ich freue mich darüber, dass wir am Ende diesen Weg gemeinsam gehen, auch wenn Sie sich manchmal selbst am meisten im Weg gestanden haben, Frau von der Leyen.
Dabei war es uns wichtig, dass die Kommunen das Geld wirklich eins zu eins bekommen. Das ist deshalb wichtig, weil wenn die Kinder Leistungen bekommen, dann das Geld vor Ort zur Verfügung gestellt werden muss. Ich bin froh darüber, dass wir in der letzten Sitzung des Vermittlungsausschusses parteiübergreifend mit den Ländern knallhart waren und die Istkostenerstattung durchgesetzt haben.
Damit gibt es die Garantie, dass die Leistungen wirklich bei den Kindern ankommen.
Wir haben erreicht, dass zukünftig 1,2 Millionen Menschen mit Mindestlöhnen unterstützt werden. Die Hilfe für 170 000 Menschen, die Tag und Nacht Wachdienst schieben, für 25 000 Menschen, die sich in der Weiterbildungsbranche engagieren, und für 900 000 Menschen, die in Leih- und Zeitarbeit arbeiten und einen ordentlichen Job machen, also für Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer, die tagtäglich schuften und davon nicht leben können, war uns wichtig. Das zeigt, dass es richtig war, hartnäckig zu bleiben. Der Mindestlohn gehört zum Existenzminimum und zur Menschenwürde. Deswegen ist es gut, dass wir uns beim Mindestlohn durchgesetzt haben.
Auch haben wir erreicht, dass das Thema ?Gleicher Lohn für gleiche Arbeit? in der Gesellschaft und in den Medien bewusst diskutiert worden ist und dass uns die Bürgerinnen und Bürger dabei mit großer Mehrheit unterstützen. Es muss so kommen, dass Menschen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten. Es ist schade, dass wir bei dieser Reform noch nicht weiterkommen. Aber ich verspreche Ihnen: Wir bleiben dran. Wir werden gleichen Lohn für gleiche Arbeit durchsetzen - entweder mit Ihnen oder mit einer Mehrheit gegen Sie.
Schwierig waren die Verhandlungen beim Regelsatz. Die Bundesregierung und Union und FDP haben den Regelsatz zum Tabu erklärt. Es sollte keine Korrekturen geben. Deshalb ist es gut, dass trotzdem Korrekturen stattgefunden haben. Der Regelsatz wird nicht nur um 5 Euro steigen, sondern zum 1. Januar 2012 um 8 Euro zuzüglich Preissteigerungen.
Klar muss sein: Das ist nicht viel Geld. Für die betroffenen Menschen ist es schwer, mit so wenig Geld klarzukommen.
Uns war ebenfalls wichtig, dass ehrenamtlich tätige Hartz-IV-Empfänger nicht bestraft werden, sondern dass sie weiterhin ihre Übungsleiterpauschale behalten können. Es darf nicht sein, dass Ehrenamtliche im Jahr des Ehrenamtes bestraft werden. Dafür haben wir uns eingesetzt.
Auch für die Menschen mit Behinderung wird es eine Lösung geben. Da nehmen wir Länder und Bundesregierung beim Wort. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten auf den Weg bringen, dass wir Menschen mit Behinderung nicht benachteiligen, sondern dass wir die UN-Konvention in Deutschland leben.
Ich will auch sagen, dass für uns die Bedenken beim Regelsatz nicht vollständig ausgeräumt sind. Die Bundesregierung hat hier die juristische Einschätzung abgegeben, dass dies ausreiche. Deshalb müssen Sie dafür die Verantwortung tragen.
Zur Teilhabe gehört auch, dass Städte und Kommunen in der Lage sind, Teilhabe zu sichern. Deswegen ist es gut, dass wir sie mit 4 Milliarden Euro entlasten. Auch hier, Frau von der Leyen, nehmen wir Sie beim Wort, dass das nicht zulasten des Arbeitsmarktes gehen kann.
Ziehen wir einen Strich unter all diese Punkte. Mit diesem Gesetz wird zwar nicht alles gut sein, aber das Leben für viele Menschen, vor allem für über 2 Millionen Kinder, wird sich wesentlich verbessern. Mir ist wichtig, dass wir gemeinsam ein Gesetz machen, das die Lebenssituation von Menschen verbessert. Deswegen ist es gut, zuzustimmen.
Wir bringen heute dieses Gesetz für mehr Bildung und mehr Mindestlöhne für die Menschen auf den Weg und werden ab morgen dafür kämpfen, dass es so weitergeht: für soziale Gerechtigkeit, mit flächendeckenden Mindestlöhnen, mit mehr Bildung für Kinder und mit einer fairen Unterstützung für sozial Schwache.
Das versprechen wir den Menschen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion.
Birgit Homburger (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede von Frau Schwesig hat noch einmal dokumentiert, dass sich die SPD in keiner Weise entscheiden kann: Auf der einen Seite tragen Sie vor, was Sie Großartiges erreicht haben; auf der anderen Seite haben Sie in Ihrer Rede immer wieder erklärt, dass Sie vollkommen unzufrieden sind und dass Sie sich noch viel mehr gewünscht hätten.
Damit haben Sie dokumentiert, dass die Koalition in diesem Verfahren den Kurs der Vernunft und der Verfassungskonformität durchgesetzt hat.
Die Neuregelung der Hartz-IV-Sätze ist eine gute Nachricht für diejenigen in diesem Land, die die Solidarität der Gemeinschaft brauchen. Wir werden jetzt endlich die 5 Euro Regelsatzerhöhung auszahlen können, die zum 1. Januar dieses Jahres gelten sollte. Endlich sind wir auch in der Lage, das Bildungspaket umzusetzen, das diese Koalition auf den Weg gebracht hat.
Das ist eine gute Nachricht, nicht nur für diejenigen, die die Solidarität brauchen, sondern auch für diejenigen, die das Geld erwirtschaften. Wir haben nämlich durchgesetzt, dass es im Jahr 2011 bei der Regelsatzerhöhung um 5 Euro bleibt. Frau Schwesig, es sind eben nicht 8 Euro zum 1. Januar 2012. Streuen Sie den Menschen keinen Sand in die Augen! Im Jahr 2011 sind es 5 Euro und ab dem Jahr 2012 3 Euro.
Danach folgt der Ausgleich, der nach dem Gesetz, das wir auf den Weg gebracht haben, gezahlt werden muss. Das bedeutet, dass wir in diesem Jahr eine Regelsatzerhöhung um 5 Euro haben. An dieser Systematik halten wir fest.
Der Vermittlungsausschuss hat ein weiteres gutes Ergebnis erzielt, nämlich dass es keine neuen Sonderbedarfe, beispielsweise in der Mobilität, gibt. Damit ist eine unkontrollierte Ausweitung in einen Nebenregelsatz verhindert worden.
Das Verfahren hat erneut gezeigt: Die Grünen scheuen die Verantwortung wie der Teufel das Weihwasser. Der Regelsatz ist angeblich nicht verfassungskonform. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass das Gesetz, das wir heute im Auftrag des Bundesverfassungsgerichts reparieren, unter Rot-Grün gemacht wurde. Ihr Gesetz war nicht verfassungskonform, und wir reparieren es.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Terpe?
Birgit Homburger (FDP):
Ja, bitte.
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Kollegin Homburger, ich habe eine Frage an Sie - wahrscheinlich habe ich Ihre Rede nicht richtig verstanden -: Sie wollen zum 1. Januar 2012 den Regelsatz wieder kürzen?
Können Sie uns das noch einmal erklären?
Birgit Homburger (FDP):
Herr Kollege, ich erkläre es Ihnen gerne. Eben habe ich erläutert, was wir gemeinsam im Vermittlungsverfahren beschlossen haben, natürlich ohne die Grünen, weil sich die Grünen mal wieder aus der Verantwortung stehlen. Das ist ihr Markenzeichen.
Dafür kann ich nichts. Damit müssen Sie leben.
Das Vermittlungsverfahren hat folgendes Ergebnis erzielt: Der Regelsatz wird - genau das hat das Bundesverfassungsgericht von uns verlangt - nach den Bestimmungen des neuen Gesetzes transparent errechnet.
Es wird nicht Pi mal Daumen geschätzt, es wird nicht nach dem Motto ?Wünsch dir was? verfahren, sondern es wird klar errechnet, und zwar nach transparenten Kriterien.
Danach ergibt sich zum 1. Januar 2011 eine Erhöhung um 5 Euro. Zum nächsten Jahr wird es, so wie es das Gesetz vorsieht, eine entsprechende Berechnung geben. Ebenso wird, wie es im Gesetz steht, ein Ausgleich unter Berücksichtigung der Preis- und Lohnentwicklung vorgenommen.
Es gibt auch noch eine entsprechende Veränderung beim Berechnungszeitraum. Das bedeutet, dass wir jetzt umstellen: Die Anpassung findet zukünftig nicht mehr zum 1. Juli statt, sondern zum 1. Januar, wie es das Bundesverfassungsgericht gefordert hat.
- Genau, Frau Ferner. Es steht im Gesetz.
Aber der Kollege hat gerade noch einmal nachgefragt. Es ist ja nicht mein Problem, dass er es noch einmal erklärt haben möchte. Ich nehme gerne die Gelegenheit wahr, es noch einmal zu erklären.
Für das erste Halbjahr 2010 - Sie dürfen gerne stehen bleiben, Herr Kollege; ich bin immer noch bei der Beantwortung Ihrer Frage -
wird es eine entsprechende Erhöhung geben, nämlich die 3 Euro zum 1. Januar 2012, und dann für den Zeitraum 1. Juli 2011 - -
- Entschuldigung, für den Zeitraum 1. Juli 2010 bis 30. Juni 2011 wird es die entsprechende Berechnung geben, wie ich es gerade gesagt habe.
Ich stelle fest: Wir haben in diesem Verfahren einen Weg gefunden, um zu erreichen, dass es transparente Berechnungen und ein verfassungskonformes Gesetz gibt.
Sie haben die ganze Zeit nach dem Motto ?Wünsch dir was? erst 6 Euro mehr, dann 17 Euro mehr, anschließend 3 Euro mehr gefordert. Die Grünen haben zwischendurch einen Regelsatz von 420 Euro gefordert, also 61 Euro mehr. Das ist nicht realistisch. Das macht keinen Sinn.
Es geht hier nicht um ein Würfelspiel, sondern um transparente Berechnung. Genau das haben wir an dieser Stelle gemacht.
Sie haben sich aus der Verantwortung gestohlen, so wie Sie es in vielen anderen Fällen gemacht haben. Sie festigen Ihren Ruf als Dagegen- und Auf-und-davon-Partei.
Frau Schwesig, ich erwarte, dass Sie endlich Schluss machen mit der Märchenstunde.
Tun Sie doch nicht so, als ob Sie das Bildungspaket erfunden hätten. Rot-Grün hat in seinem Gesetz die Kinder vergessen und sich nicht gekümmert. Auch das hat das Bundesverfassungsgericht reklamiert.
Wir haben jetzt ein Bildungspaket auf den Weg gebracht. Für uns steht soziale Gerechtigkeit ganz oben.
Für uns ist Bildung die soziale Frage unserer Zeit.
Genau aus diesem Grunde haben wir dieses Bildungspaket so gemacht.
Es gibt eine weitere gute Nachricht für die Arbeitnehmer. Wir haben die Zeitarbeit als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt gerettet.
Auch das ist ein gutes Ergebnis, das in diesen Verhandlungen erreicht wurde. Die Zeitarbeit, für deren Erhalt wir gesorgt haben, stellt insofern eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt dar, als sie denjenigen, die es schwer haben, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, die Chance bietet, auf Dauer eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bekommen.
Das ist ein großer Erfolg, der zeigt, dass wir an die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land denken und nicht Sie, meine Damen und Herren.
Wir haben ein großzügiges Angebot vorgelegt. Wir sind bis an die Grenze des Finanzierbaren gegangen.
Ich sage Ihnen: Wir hätten sehr viel früher zu diesem Ergebnis kommen können.
- Nein, das hat der Richtige dazwischengerufen. Ausgerechnet die SPD war es doch, die mit ihren Maximalforderungen diese Verhandlungen über Wochen hinweg auf dem Rücken der Schwächsten blockiert hat.
- Sie brauchen nicht dazwischenzurufen, Herr Heil.
In Hamburg entdeckt die SPD die Wirtschaft neu; in Berlin und in Düsseldorf befindet sie sich mit den Linken in einem sozialen Überbietungswettbewerb. Etwas weniger Schwesig und etwas mehr Scholz hätte der SPD gutgetan und dafür gesorgt, dass in diesem Verfahren schon etwas früher ein Ergebnis erreicht worden wäre.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Dass Sie mich fürchten, begrüße ich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Union, FDP und SPD haben sich auf dem Rücken der Ärmsten unserer Gesellschaft auf ein verfassungswidriges Gesetz verständigt,
das das Urteil des Bundesverfassungsgerichts weitgehend ignoriert und - auch das sage ich - die Hartz-IV-Beziehenden verhöhnt. Außerdem wurden der Rechtsstaat und die Demokratie schwer beschädigt.
Führende Politikerinnen und Politiker der SPD haben verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, stimmen aber trotzdem zu. Ich halte das für unverantwortlich.
Die Grünen haben erst fünf Minuten vor zwölf kalte Füße gekriegt, aber immerhin: Sie haben sie bekommen; das ist ja ein kleiner Fortschritt.
Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit und verantwortlich für Hartz IV, sagte in der Sendung Klipp & Klar des RBB am Dienstag, dass niemand auf Dauer von diesem Regelsatz leben könne.
- Ja, er wies darauf hin, das Ziel sei ja, die Hartz-IV-Beziehenden wieder in Erwerbsarbeit zu bringen.
- Ja, aber er und Sie übersehen zwei Tatsachen: Sie übersehen nämlich, dass 860 000 Menschen, die Hartz IV als Grundsicherung im Alter erhalten, überhaupt nicht mehr für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und da auch keine Chance haben. Sie übersehen außerdem, dass, seitdem SPD und Grüne Hartz IV eingeführt haben, das heißt seit knapp sechs Jahren, rund 1,4 Millionen Menschen ununterbrochen Hartz-IV-Leistungen empfangen, weil sie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.
Das heißt, 2,3 Millionen Menschen sind dauerhaft auf Hartz IV angewiesen, wozu Herr Alt von der Bundesagentur sagt, dass man davon dauerhaft nicht leben kann. Nehmen Sie doch einmal zu dieser Tatsache Stellung!
Der Kompromiss, den Sie gefunden haben, ist scheinheilig, unsozial und unredlich.
Ich darf daran erinnern, dass mit dem sogenannten Sparpaket 3,8 Milliarden Euro bei den Leistungen für Hartz-IV-Beziehende gestrichen wurden. Das Elterngeld wurde gestrichen. Die Rentenbeiträge wurden gestrichen. Leistungen für Weiterbildung wurden drastisch gekürzt. Das bedeutet doch, dass die Hartz-IV-Empfangenden sämtliche gefeierten Leistungssteigerungen selbst bezahlen. Das kommt dabei heraus.
Stolz verkünden Sie zum Beispiel - Frau von der Leyen ist ganz stolz darauf -, dass das Bildungspaket um 500 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt wird. Aber die gleiche Summe sparen Sie durch die Streichung des Elterngeldes pro Jahr ein. Das heißt, die Eltern und die Hartz-IV-Kinder finanzieren das Bildungspaket selbst. Das kommt dabei heraus und nichts anderes.
Stolz haben Sie auch verkündet - damit wurden die Länder geködert -, dass die Grundsicherung im Alter nicht mehr von den Kommunen bezahlt wird, sondern vom Bund. Das ist aber nicht wahr; denn es bezahlt nicht der Bund, sondern es bezahlt die Bundesagentur für Arbeit. Das heißt, es bezahlen die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.
Soweit die es nicht bezahlen, werden Leistungen gekürzt. Dann geht es wieder zulasten der Erwerbslosen. Nicht aus Steuermitteln wird das Ganze finanziert, sondern aus Beitragszahlungen, und das ist völlig falsch.
Es ist gut - das begrüße ich auch -, dass 3 000 Schulsozialarbeitsstellen geschaffen werden. Aber die Mittel dafür werden nach drei Jahren wieder gestrichen.
Es gilt der Grundsatz: Arm, ärmer, Kommune. In drei Jahren sind die Kommunen nicht reicher. Sie wissen schon heute nicht mehr, wie sie ein Bad, eine Bibliothek oder ein Theater bezahlen sollen. Deshalb hätten sie sich niemals auf die Befristung auf drei Jahre einlassen dürfen.
Man hat ein schlechtes Gewissen, etwas einzuführen, wenn man es wieder abschaffen muss. Unbefristet brauchen wir Schulsozialarbeitsstellen.
Die Bundesregierung hat die Regelsätze für Kinder ermitteln lassen und kam zu dem Ergebnis, dass die heutigen Regelsätze sogar zu hoch seien. Nur: Ihre Verbrauchsstichproben in Bezug auf Kinder wurden von allen Sachverständigen als nicht repräsentativ qualifiziert. Auch das verstößt gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Sie stellen 10 Euro im Monat für Kinder für eine Mitgliedschaft in einem Sportverein, für Musikunterricht etc. zur Verfügung. Finden Sie das nicht verhöhnend niedrig? Wer soll denn davon eigentlich was real bezahlen?
Rechtsstaat und Demokratie, habe ich gesagt, wurden schwer beschädigt - damit auch das Ansehen der Parteien, und zwar aller Parteien:
Erstens. Im Jahr 2008 hat Finanzminister Steinbrück verkündet, dass die Erwachsenenregelsätze um 5 Euro zu erhöhen sind. Sie haben die Vergleichsproben willkürlich so zugeschnitten, bis die 5 Euro herauskamen. Das widerspricht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Sie haben die Bezugsgröße geändert. Statt 20 Prozent der unteren Einkommen beziehen Sie nur 15 Prozent ein, damit die 5 Prozent, die schon etwas höher sind, nicht mehr in die Berechnung hineinfallen. Sie haben die verdeckt Armen nicht herausgerechnet. All das verstößt gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Zweitens. Der ganze Widerstand der SPD endete in willkürlich gewählten weiteren 3 Euro, die aber erst im nächsten Jahr gezahlt werden. Die SPD ist der Union und der FDP also nur 3 Euro wert, und das auch erst in einem Jahr. Das andere, das Sie aufzählen, sind völlig unverbindliche Protokollerklärungen. Die FDP wird selbst gegen die unbefriedigenden Regelungen beim Mindestlohn für die Zeitarbeit tapferen Widerstand leisten.
Drittens. Die Vergleichsprobe bei den Kindern - das habe ich schon gesagt - war unzulässig.
Viertens. Dies ist das Entscheidende in Bezug auf das Urteil: Das Bundesverfassungsgericht hat eine Grundsicherung verlangt, die ein menschenwürdiges Existenzminimum und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gewährleistet. Davon sind wir meilenweit entfernt.
Wir brauchen neben dieser Grundsicherung natürlich endlich einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn,
der selbstverständlich in verschiedenen Branchen verbindlich überschritten werden darf, und zwar auch, um das Abstandsgebot zwischen Grundsicherungsbeziehenden und Erwerbstätigen zu wahren und aus vielen anderen Gründen.
Außerdem ist Ihr Ergebnis illegal zustande gekommen.
Der Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat bildete eine Arbeitsgruppe unter Ausschluss der Linken.
Erst mithilfe des Bundesverfassungsgerichts wurden wir in die Arbeitsgruppe einbezogen. Ab Mitte Januar tagte sie nicht mehr. Es wurden illegale Kungelrunden organisiert.
Vor der Hamburg-Wahl konnten sich Union, FDP, SPD und Grüne nicht einigen. So entschied der Bundesrat - hören Sie zu! -, erneut den Vermittlungsausschuss anzurufen, und zwar mit den Stimmen aus Brandenburg und Berlin, also auch mit den Stimmen der Linken. Bis Dienstag dieser Woche hat der angerufene Ausschuss nie getagt. Seit Sonntag gibt es aber ein Ergebnis, wieder in einer illegalen Kungelrunde unter Ausschluss der Linken zustande gekommen.
Sie wollen verhindern, dass die Linken von Ihren verabredeten Nebendeals erfahren. Aber Sie beschädigen die Demokratie, weil Sie das Wahlergebnis nicht respektieren.
So wie wir die Wahl der anderen Fraktionen und die Bildung von Landesregierungen respektieren, müssten Sie eigentlich bereit sein, unsere Wahl und unsere Teilnahme an Landesregierungen anzuerkennen. Es tut mir leid: Aber Sie sind undemokratischer als wir, und zwar alle zusammen.
- Hören Sie zu! Ich mache Ihnen jetzt ein schönes Angebot. - Ich denke, wir sehen uns wieder, und zwar vor dem Bundesverfassungsgericht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Lieber Kollege Gysi, zumindest in der Bemessung der Ihnen zugedachten Redezeit werden Sie eine Benachteiligung gegenüber anderen Fraktionen beim Verfassungsgericht nicht geltend machen können.
Das Wort hat nun der Kollege Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem Vermittlungsverfahren, das ein Kompromissverfahren ist, muss es informelle Gespräche zwischen allen, die an einer Einigung interessiert sind, geben können.
Das ist nichts Illegales, Herr Kollege Gysi.
Als Jurist sollten Sie mit solchen Begriffen vorsichtiger sein.
Ich will aber jetzt zur Sache reden. Wir haben nach neun Wochen Verhandlungen dem Kompromiss am Ende nicht zugestimmt, und zwar nicht deswegen, weil wir uns in der Nacht aus der Verantwortung hätten stehlen wollen, sondern weil wir die Regelsätze, wie sie jetzt festgelegt sind, nicht für verfassungskonform halten. Von der Regierung sind keine Vorschläge, mit denen man dies hätte heilen können, unterstützt worden.
Dass man dann Nein sagt, heißt eigentlich, Verantwortung zu übernehmen. Jedenfalls haben wir es so interpretiert.
Was haben Sie denn bei den Regelsätzen gemacht? Sie haben zunächst die Referenzgruppe arm gerechnet, indem Sie den Anteil der unteren Einkommensbezieher von 20 auf 15 Prozent reduziert haben. Dann haben Sie entgegen der Mahnung des Bundesverfassungsgerichts Zirkelschlüsse ausdrücklich zugelassen, indem Sie die Aufstocker und die verdeckten Armen nicht herausgerechnet haben. Das heißt, Sie haben die Referenzgruppe durch die Verschiebung nach unten arm gerechnet.
In einem weiteren Schritt haben Sie Einzelposten so massiv gestrichen - quasi nach der alten Warenkorbmethode -, dass ein Ausgleich zwischen den verschiedenen zugewiesenen Posten nach der Statistikmethode gar nicht mehr möglich ist. Deswegen glauben wir in der Summe, dass Sie ein verfassungswidriges Gesetz vorgelegt haben;
aber das wird in Karlsruhe entschieden. Niemand kann - Frau Homburger, da erstaunt mich Ihr Politikverständnis - von einer Fraktion, die dieser Überzeugung ist, erwarten, dass sie dennoch zustimmt und deswegen bis 3 Uhr nachts dableibt.
Ich glaube, das ist erklärt.
Die Nummer mit der Dagegen-Partei können Sie sich an dieser Stelle sparen. Wir haben - ähnlich wie Manuela Schwesig; ich möchte mich an dieser Stelle auch für die gute Kooperation bedanken -
die FDP in diesen neun Wochen als verkörperte Instruktion und Obstruktion wahrgenommen,
weil sie nie Kompromissvorschläge auf den Tisch gelegt hat.
Frau von der Leyen, was Sie gerade gemacht haben, war wirklich nicht okay. Wir haben einen Kompromissvorschlag nach dem anderen zum Regelsatz gemacht, um zu einer Verfassungskonformität zu kommen, aber Sie haben keine Vorschläge dazu gemacht. Sie haben in einem Kompromissverfahren blockiert. Damit haben Sie der deutschen Politik keinen größeren Gefallen getan.
Aber ich will jetzt einmal nach vorne schauen. Was heißt das eigentlich für die Zukunft der Hartz-Gesetzgebung? Da, Frau von der Leyen, gibt es einen eklatanten Widerspruch zwischen Ihnen und uns. Sie haben den Kompromiss in einer Feierrede als toll, als Rieseneinschnitt dargestellt. Diese Einschätzung teilen wir nicht. Zwar ist es richtig, dass das Bildungspaket verbessert worden ist. Wir haben zusammen erreicht, dass die Schnapsidee, dass die Jobcenter für die Umsetzung zuständig sind - bürokratisch mit Gutscheinen oder Chipkarten -, fallen gelassen wurde. Jetzt sollen die Gemeinden das umsetzen, in deren Zuständigkeit dies auch gehört. Aber dennoch folgt für mich aus dem Urteil und den Verhandlungen ein Auftrag an den Gesetzgeber, in Zukunft mehr für die Infrastruktur zu tun, weil die Integration sonst gar nicht funktionieren kann.
Gegenwärtig gibt es - interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass der Ministerin diese Zahlen in den Verhandlungen zunächst nicht vorlagen -
in nur etwa ein Drittel der Schulen, Kitas und sonstigen Einrichtungen eine Kantine. Das kostenlose Schulessen, für das sie sich feiern lässt, kann derzeit allerhöchstens bei einem Drittel der Einrichtungen ausgebracht werden. Das ist doch ein Schrei nach einer besseren Infrastruktur in unserem öffentlichen Schul- und Kindergartenwesen.
Eines sei am Rande einmal festgehalten: Diese Schwierigkeiten im Detail, auch die rechtlichen Schwierigkeiten, verdanken wir dem Kooperationsverbot, das fallen muss, wenn wir endlich eine vernünftige Infrastruktur für Bildung und Bildungsteilhabe in Deutschland haben wollen.
Der zweite Punkt mit Blick auf die Zukunft ist: Wir werden einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn brauchen; denn auch das folgt aus dem Urteil des Verfassungsgerichts. Das hat die Kanzlerin immer noch nicht verstanden. Sie begründet ihre fehlende Bewegung beim Regelsatz in den Wahlkämpfen noch immer mit dem Lohnabstandsgebot. Das Verfassungsgerichtsurteil bedeutet aber nicht nur, Frau Homburger, dass wir transparente Regelsätze brauchen, sondern auch, dass wir Regelsätze brauchen, die jederzeit und realitätsgerecht, wie das Verfassungsgericht sagt, das Existenzminimum sichern.
Das heißt, Sie können ein niedrig angesetztes Existenzminimum nicht mehr mit dem Lohnabstandsgebot begründen. Sie müssen Mindestlöhne einführen und die Schmutzlöhne endlich abschaffen. An der Stelle muss Bewegung her, damit wir die Grundsicherung realitätsgerecht erhalten können.
Des Weiteren folgt für uns aus dem Urteil - ich weiß nicht, wie das die anderen Parteien sehen; Schwarz-Gelb hat sich dazu jedenfalls nicht geäußert -, dass wir die Hartz-Gesetzgebung gründlich überarbeiten müssen. Ich meine, aus dem Urteil folgt auch - Karlsruhe hat ja festgestellt, dass es ein Grundrecht auf Grundsicherung gibt, das sich aus dem Grundsatz der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot aus Art. 20 des Grundgesetzes ergibt -, dass wir überprüfen müssen, ob es nicht zu viel Diskriminierung und zu viele Sanktionen in den Hartz-Gesetzen gibt und wir die Grundsicherung sanktionsfreier gewähren müssen. Das ist der erste wichtige Punkt.
Zweitens müssen wir überprüfen, Frau von der Leyen, ob der alte Satz ?Fordern und Fördern? aufgegangen ist.
Ich meine: Nein, es wird zu wenig gefördert.
Wenn es in Deutschland 1 Million Dauerarbeitslose gibt und wir einen sozialen Arbeitsmarkt für mindestens 400 000 Menschen brauchen, die nie auf einem normalen Level qualifiziert werden können, dann haben wir doch ein gigantisches Problem in Deutschland. Wir müssen uns deswegen fragen, ob in den Jobcentern die richtigen Instrumentarien, die richtige Betreuung und die richtigen Jobs angeboten werden.
Wir meinen, dass aus den Diskussionen der letzten Wochen und Monate die Aufgabenstellung folgt, mehr zu fördern. Frau von der Leyen, wenn die Langzeitarbeitslosigkeit dauernd sinken würde, dann müssten wir darüber nicht reden; aber das ist nicht in größerem Umfang der Fall.
Ich komme zum Schluss. Wir haben dem Gesetzentwurf nicht zugestimmt, weil wir die Regelsätze für verfassungswidrig halten. Wir sehen die Erfolge, die uns beim Bildungspaket gelungen sind. Ich sage Ihnen voraus: Sie von Schwarz und Gelb werden in den nächsten Monaten beim Thema Mindestlohn in ein Rückzugsgefecht geraten. Das wird sich gewaschen haben; denn Sie können diesen sozialpolitischen Unsinn nicht halten.
Wenn man in Deutschland ganztags arbeitet und damit nicht seine Familie ernähren kann, dann wird das Leistungsprinzip und, wie ich finde, auch das Sozialstaatsprinzip systematisch ausgehöhlt. Wenn Sie von der FDP auch noch darauf stolz sind, dann verweist das auf Ihre innere Geisteshaltung, aber nicht auf eine vernünftige, kompetente Sozialpolitik.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Karl Schiewerling ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach langem Ringen ist ein guter Kompromiss entstanden. Herr Kollege Gysi, dieser Kompromiss ist nicht das Ergebnis ?illegaler Kungelrunden?, sondern das Ergebnis ganz normaler demokratischer Prozesse und Auseinandersetzungen zwischen Parteien.
Ich finde es schon sehr bezeichnend, dass Sie sagen, wir seien undemokratischer als Sie. Damit haben Sie eine prima Selbsteinschätzung gegeben. Nur bestehe ich ausdrücklich darauf, dass wir uns in Ihrer Einschätzung nicht einordnen.
Meine Damen und Herren, die Gewinner dieses zugegebenermaßen komplizierten Prozesses sind zu unserer großen Freude die Kinder und die Kommunen. Die Kommunen werden als Ergebnis dieses Prozesses - anders als Sie, Herr Kollege Gysi, es dargestellt haben - deutlich entlastet und nicht weiter belastet. In Nordrhein-Westfalen kommt es derzeit zu einer gigantischen Umverteilung: Die Kommunen, die ordentlich gewirtschaftet haben, werden bestraft. Diese Kommunen erhalten jetzt Gott sei Dank einen Ausgleich. Die anderen Kommunen erhalten zwar auch Mittel; aber die Kommunen, die jetzt benachteiligt sind, erhalten jetzt wenigstens eine ordentliche Perspektive.
Ich glaube, dass das eine gute Entscheidung war. Aber noch viel wichtiger ist das Ergebnis, das wir zugunsten der Kinder durchgesetzt haben.
Herr Kollege Kuhn, meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, das darf ich an dieser Stelle sagen: Ich bedaure sehr, dass Sie die Verhandlungen abgebrochen haben und ausgestiegen sind. Ich hätte gedacht, dass Sie sich Ihrer Verantwortung stellen würden
und mithelfen würden, dass das, was 2004 - das habe ich hier immer betont - von Rot-Grün auf den Weg gebracht worden ist und letztendlich im Vermittlungsausschuss von Union und FDP
mitgetragen wurde,
jetzt wieder gemeinsam in Ordnung gebracht wird. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn Sie sich dieser Verantwortung gestellt hätten. Ich glaube, dass das ein gutes Zeichen für die Demokratie in Deutschland gewesen wäre.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Ja.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Herr Kollege Schiewerling, herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Sie haben eben gesagt, dass die Kommunen die Gewinner seien, weil sie von den Kosten der Grundsicherung im Alter entlastet würden. Es ist erst einmal richtig, dass der Bund die Kosten für die Altersarmut übernimmt, weil schließlich verschiedene Bundesregierungen unterschiedlicher Couleur mit rentenpolitischen Mitteln zur Altersarmut beigetragen haben. So weit, so schlecht.
Nun soll die Bundesagentur für Arbeit die Kosten übernehmen. Bedeutet das nicht, dass letztendlich die Arbeitslosen selber die Einsparungen tragen müssen, ebenso die Beschäftigten bzw. die Versicherten, deren Beiträge zur Arbeitslosenversicherung deswegen erhöht werden könnten? Aus meiner Sicht ist das eine Pervertierung des Gedankens, Erwerbslose zu fördern; eigentlich müssten die Leistungen für Erwerbslose und ihre Familien mit dem Gesetz erhöht und nicht gekürzt werden. Was sagen Sie dazu?
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Ich sage dazu: Ich bedanke mich bei Ihnen herzlich dafür, dass Sie bestätigt haben, dass die Kommunen entlastet werden; denn das war meine Kernaussage.
Die Frage der Gegenfinanzierung und die Frage, wie wir das Geld zusammenhalten - das ist ein völlig anderes Thema; dazu werde ich gleich noch etwas sagen, weil mir das wichtig ist -, stehen auf der anderen Seite.
Ich bin mir sicher, dass nicht die Arbeitslosen den Beitrag der Bundesagentur für Arbeit zu entrichten haben. Ich bin mir auch sicher, dass wir bei abnehmender Arbeitslosigkeit gerade im Bereich des Arbeitslosengeldes I über Möglichkeiten verfügen, flexibel auf die Situation zu reagieren, und dass wir ebenso verantwortungsbewusst, wie wir die Kommunen entlastet haben, die Gegenfinanzierung organisieren.
Ich möchte einen Hinweis zu der Hilfe für die Kinder geben. Frau Ministerin Schwesig, ich finde es etwas abenteuerlich, wenn Sie so tun, als wäre das Bildungspaket und die Hilfe für die Kinder von Ihnen organisiert worden.
2004 sind Sie noch nicht einmal auf die Idee gekommen. Wir haben ein Paket vorgelegt, das zu 100 Prozent umgesetzt wird
und das in seinen Grundstrukturen lediglich durch unsere erklärte Zustimmung auch auf die Kinder, deren Eltern Wohngeld beziehen, erweitert wird.
Ansonsten ist das Bildungspaket von Frau von der Leyen geprägt, gestaltet, konzipiert und auf den Weg gebracht worden. Es wird ein erfolgreiches Instrument werden,
an dem erstmals auch die Kinder in umfänglicher Weise partizipieren.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Schiewerling, darf Ihnen auch noch Frau Enkelmann eine Zwischenfrage stellen?
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Ja.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
Herr Präsident, das ist gemäß Geschäftsordnung keine Zwischenfrage, sondern eine Zwischenbemerkung.
Ich habe im Vermittlungsausschuss die Frage zur Gegenfinanzierung der Übernahme der Kosten für die Grundsicherung durch den Bund gestellt und darauf hingewiesen, dass die Bundesagentur für Arbeit bereits in diesem Jahr ein Defizit von 5 Milliarden Euro hat und jetzt durch die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung zusätzlich belastet wird. Ich habe gefragt, wie das ohne Leistungskürzung funktionieren soll. Daraufhin hat mir die Ministerin geantwortet, man könne über Darlehen nachdenken, die der Bund an die Bundesagentur vergibt. Aber die Gewährung von Darlehen bedeutet in der Konsequenz die Kürzung von Leistungen und möglicherweise Beitragssteigerungen. Das war die Aussage im Vermittlungsausschuss. Das ist der Stand heute.
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Auch eine Stellungnahme von mir: Darlehen an die Bundesagentur für Arbeit sind etwas völlig Normales. Sie hat es in der Vergangenheit immer gegeben.
Das ist ein bewährtes Finanzierungsmittel. Sie werden wieder zurückgezahlt, spätestens dann, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt. Da wir uns in einem wirtschaftlichen Aufschwung beispiellosen Ausmaßes befinden und die Arbeitslosenzahlen sinken, haben wir die berechtigte Hoffnung, dass wir das so finanzieren können.
Ich möchte auf das Bildungspaket zurückkommen. Ich habe die große Hoffnung, dass die über 700 Millionen Euro - ich möchte die zusätzlichen Leistungen, die für die Organisation erbracht werden, bewusst nicht in den Mittelpunkt stellen -, die den Kindern an Leistungen unmittelbar zugutekommen, auch tatsächlich von den Kindern und deren Familien in Anspruch genommen werden. Es würde mich sehr freuen, wenn jetzt Kindern Mut gemacht wird, sich auf den Weg zu machen - zu Sportvereinen, Verbänden oder anderen Organisationen - und ihre Möglichkeiten auszuschöpfen. Ich bin sicher, dass dies ein wichtiges Zeichen ist. Hier liegt viel Verantwortung bei den Kommunen. Sie bekommen nicht nur Geld für die Umsetzung des Paketes; sie tragen auch die Verantwortung dafür. Ich hoffe sehr, dass die Kommunen dies in umfänglicher Weise wahrnehmen.
Ich halte diesen Weg für geeigneter als den Weg über die Schulsozialarbeit. Ich bin der Letzte, der nicht sieht, dass es notwendig ist, dass wir Schulen in Brennpunkten über Schulsozialarbeit begleitende Hilfen geben. Aber es ist nicht die Aufgabe des Bundes, Schulsozialarbeit zu finanzieren. Das ist Aufgabe der Länder. Wir sind nicht dazu da, 45 000 Sozialarbeiter in 45 000 Schulen unterzubringen. Um dieses Problem müssen sich die Länder kümmern;
sonst fangen wir auch noch auf der Bundesebene an, Mittel zu verteilen. Deswegen ist es der richtige Weg, die Kommunen in den Mittelpunkt zu stellen, sie finanziell entsprechend auszustatten und ihnen die Möglichkeit zu geben, die personellen Voraussetzungen zu schaffen, damit den Kindern, die auf diese Hilfe angewiesen sind, effizient geholfen werden kann.
Die Regelsätze sind korrekt errechnet.
Ich sage Ihnen das an dieser Stelle frank und frei. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes Anfang des vergangenen Jahres haben wir in der Koalition vereinbart, dass, was auch immer geschieht, die Regelsätze verfassungskonform auszugestalten sind. Wir wollen kein zweites Mal vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern. Das ist die Maßgabe in der Koalition.
Ich bin ganz sicher, dass das Bundesarbeitsministerium, dass die Bundesarbeitsministerin nicht nur korrekte Zahlen vorgelegt hat, sondern auch verfassungskonforme Zahlen und dass diese Zahlen auch vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben.
Wenn wir davon nicht überzeugt wären, würden wir diesem Gesetz heute nicht zustimmen. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass das der richtige Weg ist.
Dass dagegen geklagt werden kann, gehört zu der Freiheit, die wir in unserem Staat haben. Aber eine Klageandrohung bedeutet noch nicht, dass man recht bekommt. Deswegen warten wir erst einmal das Urteil ab, das kommen wird, wenn eine Klage eingereicht wird.
Ich möchte kurz auf einen weiteren Punkt eingehen. Mit liegt sehr am Herzen, dass wir bei allem, was wir tun, bei allen berechtigten Leistungen, die wir den Hilfeempfängern gewähren, immer im Blick behalten, dass dies finanzierbar sein muss. Es muss immer im Blick behalten werden, dass dies durch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu erwirtschaften ist. Es ist im Blick zu behalten, dass gerade diejenigen, die erwerbstätig sind und deren Einkommen knapp über den Transferleistungen liegt, von ihrem Einkommen Steuern zahlen und dadurch letztendlich die Leistungen mit finanzieren.
Es gehört auch zur sozialen Gerechtigkeit in Deutschland, die Leistungsträger in unserer Gesellschaft - dazu gehören die Kindergärtnerinnen, die Krankenpflegerinnen und all die Menschen, die sich täglich abmühen - nicht mit dem zu überfordern, was sie zur Finanzierung des Sozialstaates und der berechtigten Ansprüche der Leistungsempfänger aufzubringen haben.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Schiewerling, kurz vor Ende Ihrer Redezeit würde die Kollegin Kipping auch gerne noch eine Bemerkung machen.
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Dass mir das Glück noch zuteil wird, Frau Kollegin.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Herr Schiewerling, zu den Ergebnissen des Vermittlungsausschusses gehören auch diverse Protokollerklärungen. Eine davon beschäftigt sich mit der Regelbedarfsstufe 3. Ich muss jetzt Sie dazu befragen, weil vor zwei Tagen der im Ausschuss anwesende Staatssekretär nicht in der Lage war, uns eine klare Auskunft darüber zu geben, wie diese Protokollerklärung zu interpretieren ist.
Ich finde es im Übrigen höchst problematisch, wenn Sie uns heute auffordern, unsere Hand für dieses Gesetz zu heben, obwohl zentrale Sachen nicht geklärt sind.
Nur zur Erläuterung: Regelbedarfsstufe 3 bedeutet, dass bedürftige erwachsene Menschen mit einer Behinderung, die mit anderen Erwachsenen zusammenleben, in Zukunft nicht mehr 100 Prozent des Regelsatzes, sondern nur noch 80 Prozent bekommen. Das heißt, dass mit der Regelung, die Sie neu eingeführt haben, erwachsenen Behinderten jeden Monat noch einmal 68 Euro genommen werden würden.
Die Protokollerklärung lautet:
Der Regelsatz für die Regelbedarfsstufe 3 wird mit dem Ziel, Menschen mit Behinderung ab dem 24. Lebensjahr den vollen Regelsatz zu ermöglichen, überprüft.
Nun ist meine Frage: Was heißt das? Wann soll das überprüft werden? Warum hat man das nicht sofort in das Gesetz übernommen und die neu eingeführte Regelbedarfsstufe 3 einfach gestrichen? Heißt das, dass das am Sankt-Nimmerleins-Tag überprüft werden soll? Müssen wir jetzt vier Jahre warten? Oder können wir darauf hoffen, dass das sofort erfolgt und rückwirkend zum 1. Januar 2011 umgesetzt wird?
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Schönen Dank, Frau Kollegin, für die Frage.
Erstens. Der anwesende Staatssekretär hat die meines Wissens richtige Antwort gegeben. Er hat im Ausschuss gesagt, dass man sich noch in den Verhandlungen befindet. Deswegen konnte er auch nicht mehr dazu sagen.
Zweitens. Das Ergebnis dieser Verhandlungen ist das, was Sie gerade vorgetragen haben, dass nämlich die Regelbedarfsstufe 3 überprüft wird. Das ist am Dienstag beschlossen worden. Die Prüfung ist heute, am Freitag, noch nicht abgeschlossen. Wann sie abgeschlossen wird, werden wir sehen. Ich hoffe, dass dies dann auch zielorientiert stattfindet.
Drittens. Zum sachlichen Gehalt Ihrer Frage: Es ist richtig, dass ursprünglich vorgesehen war, die Regelbedarfsstufe 3 für Behinderte, die über 25 Jahre alt sind und im Haushalt der Eltern wohnen, abzusenken. Die deutliche Begründung lautete, dass wir entsprechende Zusatzzahlungen und Zusatzleistungen für Behinderte auf anderen gesetzlichen Grundlagen haben, die weit über das hinausgehen, was selbst die oberste Spitze der Regelbedarfsstufe 3 ausmachen würde.
Das Ganze wird jetzt in die Prüfung mit einbezogen, gut abgewogen, und das Ergebnis wird schließlich im Deutschen Bundestag zur Abstimmung gestellt werden.
Meine Damen und Herren, ich möchte darauf hinweisen, dass wir mit dem heutigen Tag den zweiten Teil der Reformen zum Zweiten Buch Sozialgesetzbuch abschließen. Der erste Teil war die Organisationsreform. Das haben wir im Sommer letzten Jahres gemeinsam gemacht. Der zweite, wesentlich emotionalere Teil ist der Teil der Regelsätze. Er ist deswegen so emotional gewesen, weil wir es bei dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch mit dem kompliziertesten Sozialgesetz in Deutschland zu tun haben, von dem Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik, Bildungspolitik und Familienpolitik, Bund, Länder und Kommunen betroffen sind. Das macht die Komplexität dieses Gesetzes aus. So zu tun, als hätte jemand in diesen hochkomplexen Fragestellungen eine einfache Lösung, ist eine glatte Irreführung im Land. Es ist komplex. Es ist schwierig. Wir haben uns dieser Aufgabe gestellt.
Wir stellen uns auch der dritten Aufgabe, die jetzt vor uns liegt, nämlich die Instrumentenreform so zu gestalten, dass die Hilfe passgenau bei den Menschen ankommt; denn unser Ziel bleibt es - das ist die Aufgabe des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, von Arbeitslosengeld II oder Hartz IV, wie es im Volksmund heißt -, Menschen in Beschäftigung zu bringen und ihnen so eine Perspektive zu geben, dass sie aus ihrer eigenen Hände und Kopfes Arbeit den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien verdienen können. Diesem Ziel bleiben wir verpflichtet. Es ist der eigentliche Geist des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Kollegin Elke Ferner ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
Elke Ferner (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wenn der Geist des SGB II so ist, wie Herr Schiewerling es gerade gesagt hat, dann frage ich mich natürlich, warum diese Koalition die aktive Arbeitsmarktpolitik bei den letzten Haushaltsverhandlungen und Haushaltsberatungen so rasiert hat, dass die Argen und die Jobcenter überhaupt nicht wissen, ob sie in diesem Jahr noch neue Maßnahmen anfangen können.
Herr Schiewerling, ich möchte noch einmal auf das Thema Bildungspaket zurückkommen. Sie haben eben so getan, als sei das, was jetzt beschlossen worden ist, alles Ihre Erfindung. Sie haben, weil die Ministerin es so wollte, zusammen mit der FDP ein Bildungspaket beschlossen, das an Bürokratie nicht zu überbieten war. Ich weiß nicht, wie es Ihnen gegangen ist. Auf alle Fälle haben mich während der Zeit der Neujahrsempfänge alle Kommunalpolitiker, ob von SPD, von CDU oder von anderen Parteien, gebeten, um Gottes willen die Gutscheinlösung, die Chipkartenlösung nicht zu machen, um Gottes willen die Jobcenter und die Argen nicht zu einem Bundesjugendamt zu machen. Genau das aber haben Sie hier mit Mehrheit im Bundestag beschlossen. Wir haben es im Vermittlungsausschuss zusammen mit den Grünen erreicht, dass das nachhaltig geändert worden ist.
Ohne dieses Vermittlungsverfahren wären weniger Kinder anspruchsberechtigt. Dass jetzt auch die Kinder von Wohngeldempfängern in den Genuss des Bildungspakets kommen, ist nur deshalb so, weil es dieses Vermittlungsverfahren gegeben hat. Sie haben hier im Deutschen Bundestag etwas anderes beschlossen. Auch Ihre Länder im Bundesrat haben etwas anderes beschlossen. Sie hatten dafür nur keine Mehrheit.
Ein weiterer Punkt ist, dass wir einen Einstieg in die Schulsozialarbeit bekommen haben. Natürlich kann man Schulsozialarbeiter gut oder schlecht finden, Herr Schiewerling.
Aber ich finde es eigentlich besser, dass Kinder dort, wo sie sind, nämlich in den Schulen, in den Kitas, in den Horten, an die Hand genommen werden, damit sie in den Genuss des Bildungspakets kommen, als wenn die Eltern auf irgendein Amt gehen und einen Antrag stellen müssen.
Das ergibt sich schon aus den Problemen, die an den Brennpunktschulen und -einrichtungen vorhanden sind, wo ohnehin Schulsozialarbeit angesagt ist.
Ferner haben wir einen Einstieg in Mindestlöhne erreicht.
- Ja, das ist so. - Für die auf der ganz linken Seite, die es nicht wissen: Es ist üblich - das ist über die gesamten Jahre der Republik und auch über alle Vermittlungsverfahren so eingehalten worden -, dass, wenn Protokollerklärungen gemacht werden, das dann auch im Anschluss in der Gesetzgebung umgesetzt wird. Darauf können Sie sich genauso verlassen, wie wir uns darauf verlassen, wenn wir in der Opposition sind, und genauso wie wir uns daran halten, wenn wir in der Regierung sind. Sie werden erleben, dass wir noch vor dem 1. Mai Regelungen für die Leiharbeit haben werden, dass Mindestlöhne bei der Aus- und Weiterbildung, beim Wach- und Sicherheitsgewerbe und, wie gesagt, für die Leiharbeit kommen werden. Sie werden es erleben.
Ihnen wird das nicht gefallen, weil das ein weiterer Punkt ist, bei dem wir uns durchgesetzt haben, während Sie sich einer Lösung verweigert haben.
Wir haben natürlich auch über die Regelsätze diskutiert. Ich bleibe dabei: Es gibt nach wie vor gravierende Bedenken bei der Frage der Zirkelschlüsse, bei der Frage des internen Ausgleichs und bei der Frage der Größe der Referenzgruppe. Frau von der Leyen, wir haben Ihnen zu allen Punkten Vorschläge gemacht. Wenn Sie heute Morgen hier behaupten, es sei um x Euro gegangen, dann ist das schlicht und ergreifend falsch.
Sie versuchen hier, die Tatsachen zu verdrehen. Wir haben immer gesagt: Wir wollen eine bessere Methode, die das Ganze verfassungsfester macht. Wir wussten, dass wir es im Vermittlungsverfahren sowieso nicht ganz verfassungsfest hinbekommen würden.
Am Ende der Berechnung mit einer bestimmten Methode steht ein Betrag und nicht umgekehrt, wie Sie das gemacht haben. In der Rede von Frau Homburger ist ganz deutlich geworden, dass die 5 Euro das Maß der Dinge waren. Die Gesichtswahrung der Ministerin war das Maß der Dinge.
Frau Homburger, wissen Ihre Kollegen, dass durch die Umfirmierung der Warmwasserkosten, die Sie vorgenommen haben, die eigentliche Regelsatzerhöhung zum 1. Januar dieses Jahres nicht 5 Euro, sondern 5 Euro plus 8,47 Euro, sprich: 13,47 Euro beträgt? Wissen Ihre Kollegen und Kolleginnen das? Nein, das wissen sie nicht. Frau Homburger, offenbar wissen Sie das selbst nicht.
- Bitte?
- Natürlich ist das umfirmiert worden. Bisher waren die Warmwasserkosten in den Regelsätzen enthalten. Jetzt sind sie in den Kosten der Unterkunft enthalten.
Am Ende werden nicht alle Hilfeempfänger unter dem Strich 564 Euro haben. Diejenigen, die ihr Warmwasser mit Strom aufbereiten, werden 564 Euro plus 8,47 Euro haben, und bei denjenigen, die ihr Warmwasser mit der Heizung erzeugen, werden 6,43 Euro weniger abgezogen. Offenbar wissen Sie das nicht, Frau Homburger.
- Daran ist nichts falsch,
aber Sie verheimlichen das.
Jetzt will ich Ihnen noch einmal sagen, was daran falsch ist, Herr Fricke. Sie haben durch die Umbucherei, die Sie vorgenommen haben, um Ihre eigenen Kollegen und die Öffentlichkeit über das wahre Ausmaß der Regelsatzerhöhung hinwegzutäuschen, einen Fehler gemacht. Das Gesetz, das Sie beschlossen haben, war schon allein deshalb verfassungswidrig, weil Sie für diejenigen, die ihr Warmwasser mit Strom aufbereiten, weder im Regelsatz noch bei den Kosten der Unterkunft einen Posten hierfür vorgesehen haben.
Insofern können Sie froh sein, dass es ein Vermittlungsergebnis gegeben hat.
Wir haben zugestimmt. Unter dem Strich sind wir zu einem anderen Ergebnis gekommen als die Grünen. Erstens glauben wir, dass die Regelsatzfrage so oder so in Karlsruhe entschieden wird. Zweitens. Wenn man es bei der alten Regelung, die bekanntermaßen verfassungswidrig ist, belassen hätte, wäre weder für die Kinder etwas erreicht worden - bei dem Bildungspaket geht es um Teilhabe -, noch wären hinsichtlich der Mindestlöhne Fortschritte erzielt worden.
Was ich zutiefst bedauere, ist, dass sich die Koalition - ich meine insbesondere die Parteien und die Fraktion mit dem C im Namen - nicht in der Lage sah, bei der Regelbedarfsstufe 3 insbesondere die Schlechterstellung der Menschen mit Behinderungen, die von ihr verursacht worden ist, schon jetzt zu korrigieren. Ich kann Ihnen schon jetzt eine Ansage machen: Wenn das Ministerium nicht in einem positiven Sinne prüft - so haben wir und, ich hoffe, auch Sie das gemeint -, werden wir in dieses Haus einen entsprechenden Gesetzentwurf einbringen. Dann kann sich die schwarz-gelbe Koalition entscheiden, ob sie für Menschen mit Behinderungen etwas tun will oder nicht.
Schönen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Heinrich Kolb das Wort.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte fast am Ende dieser Debatte noch einige Anmerkungen machen, zunächst an Ihre Adresse, Frau Schwesig. Sie haben nach langen, zähen Verhandlungen, die mit einem Kompromiss beendet wurden, hier eine Rede gehalten nach dem Motto: Wir stimmen zu, aber wir bekennen uns nicht dazu. Das finde ich sehr bemerkenswert und nicht akzeptabel. Ihre siebenminütige Meckerrede, Frau Schwesig - das muss ich Ihnen noch mit auf den Weg aus dem Plenarsaal geben -, zeigt deutlich, wie wenig Sie am Ende tatsächlich erreicht haben. Das ist hier sehr klar geworden.
Die zweite Anmerkung geht an das Team Rot-Grün. Herr Kuhn, Frau Ferner, Herr Oppermann - ich spreche Sie stellvertretend an -, Sie sind wahrlich kein Dream-Team; das muss man sagen.
Sie sind eine Schönwettertruppe, und wenn es ernst wird, dann laufen Sie auseinander. Mit einer solchen Methode ist kein Staat zu machen. Das will ich an Ihre Adresse sehr deutlich sagen.
Die dritte Anmerkung geht an Herrn Kuhn; er ist gerade in ein Gespräch mit Herrn Heil vertieft. Herr Kuhn, Sie haben gesagt, die FDP hätte Obstruktion betrieben.
Das haben wir wirklich nicht, aber wir haben auch nicht zu allem, was Sie gefordert haben, Ja und Amen gesagt. Das war auch gut und richtig so.
Dadurch ist es uns gelungen, Ihre Liste von Maximalforderungen sehr deutlich auf ein erträgliches Maß zu verkürzen.
Das wird beispielsweise bei der Frage der Mindestlöhne deutlich. Es ist nicht richtig, Frau Ferner, hier zu sagen: Es gibt jetzt für 1,2 Millionen Beschäftigte neue Mindestlöhne. So ist es nicht. Es gibt bereits für 900 000 - jetzt sind es wohl eher 950 000 - Zeitarbeiter einen tariflichen Mindestlohn.
Er wird in dieser Höhe auch Grundlage für die absolute Lohnuntergrenze, die wir einziehen wollen, sein. Ihr Erfolg besteht darin - auch das will ich sagen -, dass Sie für polnische und litauische Zeitarbeiter höhere Löhne erkämpft haben. Die Sozialistische Internationale wird Ihnen das danken,
rühmen für die deutschen Zeitarbeiter dürfen Sie sich mit dieser Tat aus unserer Sicht jedenfalls nicht.
Frau Schwesig hat hier am Ende zu Equal Pay gesagt: Na ja, gut, dass wir einmal darüber gesprochen haben. - Das war es nicht. Ich will darauf hinweisen, dass sich, nachdem wir als FDP im Frühsommer dieses Thema in der politischen Debatte mit angestoßen haben, sehr viel bewegt hat.
Es ist deutlich geworden, dass es für die gesellschaftliche Akzeptanz der Zeitarbeit erforderlich ist, dass die Heranführung der Bezahlung der Zeitarbeiter an die der Stammbelegschaften auf einer Zeitschiene stattfindet. Wir sind der Meinung - anders als Sie -, dass das Sache der Tarifpartner sein soll. Sie sollen Branche für Branche in einem fein ausdifferenzierten Netz entscheiden, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist. Der Gesetzgeber kann allenfalls eine Auffangfrist definieren. So haben wir uns in den Verhandlungen eingebracht.
Ich stelle fest: Wir sind mit diesem Kompromiss zufrieden. Wir bekennen uns auch dazu. Der Regelsatz ist verfassungsfest. Wenn Sie, Frau Ferner, hier heute zugestimmt haben, dann dokumentieren Sie das konkludent mit Ihrem Stimmverhalten.
Das Bildungspaket wird vor Ort umgesetzt. Das ist das Richtige für die Kinder und wird deutlich verbesserte Chancen für die Kinder von Hartz-IV-Beziehern und von Kinderzuschlags- und Wohngeldberechtigten schaffen.
Beim Arbeitsmarkt sind die Verhandlungen mit minimalen Zugeständnissen ausgegangen. Deswegen freue ich mich heute, dass es gelungen ist, dieses Kapitel abzuschließen.
Wir werden sicherlich neue Themen finden, über die wir streiten können. Ich bedanke mich bei allen, die in diesen Verhandlungen hart, aber fair miteinander gerungen haben und dieses Ergebnis möglich gemacht haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Eine solche Debatte bietet immer wieder, auch wenn schon viel gesagt worden ist, erstaunliche Erkenntnisgewinne. Lieber Herr Gysi, wenn Sie sich an dieses Rednerpult stellen und sagen, das Verfahren sei undemokratischer als Ihre eigene Partei, dann geben Sie konkludent zu - das ist etwas, was ich nie behaupten würde -, dass die Linke eine undemokratische Organisation ist.
Lieber Herr Gysi, für diese Aufklärung danke ich Ihnen ausdrücklich. Wir können es schwarz auf weiß im Protokoll dieser Plenardebatte nachlesen. Herzlichen Dank, ich habe wieder etwas dazugelernt.
Zu den Inhalten des Vermittlungsergebnisses wurde bereits einiges ausgeführt. Nachdem momentan in vielen Medien über den Zeitablauf ein bisschen kritisch berichtet wird, bietet diese Debatte, glaube ich, die Gelegenheit, zur Richtigstellung: Wir hatten am 9. Februar das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erhalten.
- Völlig korrekt, Herr Heil, am 9. Februar 2010 war das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. - Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe lag uns im September vor. Aus dieser Einkommens- und Verbrauchsstichprobe - es ist wichtig, darauf noch einmal hinzuweisen -, die immerhin die Befragung von 60 000 Haushalten umfasst, wurden verlässliche, belastbare Zahlen zugrunde gelegt, um die Regelsätze neu zu berechnen. Dieses wurde im Herbst letzten Jahre in das gesetzgeberische Verfahren eingebracht. Im Dezember wurde das Ergebnis vom Bundesrat nicht mitgetragen. Dann wurde in den letzten acht Wochen verhandelt. Jetzt haben wir ein Ergebnis. Viel schneller wäre es auch bei einem geordneten Gang der Dinge - ohne Schätzungen, ohne grobes Pi-mal-Daumen-Rechnen - überhaupt nicht gegangen. Dafür danke ich unserer Ministerin. Dafür danke ich auch all denen, die an der Regelsatzermittlung mitgewirkt haben, an dieser Stelle sehr herzlich.
Ich darf in meinen Dank auch die Genossinnen und Genossen von der SPD einbeziehen.
Ich weiß: Ich habe erst vor ein paar Wochen hier gestanden und an Sie, Frau Kollegin Lösekrug-Möller, appelliert, noch einmal Rücksprache mit Ihren Ministerpräsidenten und Ihren Oberbürgermeistern zu halten. Das Ergebnis, das wir heute gefunden haben - die Entlastung der Kommunen um immerhin über 4 Milliarden Euro, bis 2014 aufwachsend -, ist eine grandiose Geschichte. Das kann man den Kommunen gar nicht deutlich genug vermitteln. Danke dafür, dass Sie hier im Interesse der Kommunen, im Interesse der Betroffenen, vor allem aber im Interesse der Kinder an diesem Vermittlungsergebnis mitgewirkt haben. Das Abstimmungsergebnis in der vorangegangenen namentlichen Abstimmung hat dokumentiert, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind. Für Ihr Mitwirken sage ich noch einmal Danke.
Ich danke allen Verhandlungsführern, aus unserer Sicht natürlich unserem Ministerpräsidenten, dem Kollegen Straubinger, dem Kollegen Schiewerling
und den Kolleginnen und Kollegen aus dem Ministerium. Ich danke natürlich auch der Ministerin für das Ergebnis, dass wir jetzt im Vermittlungsausschuss eine gute Lösung für die bedürftigen Kinder in unserer Gesellschaft gefunden haben.
Ich muss etwas richtigstellen. Herr Kuhn, Sie haben vorhin hier gestanden und gesagt: Es reicht nicht aus, Teilhabe zu fordern. Man muss die Teilhabe auch gewähren. - Sie kennen die Föderalismusreform I. Sie wissen, dass die Kultushoheit bei den Ländern liegt. Ich nehme an, dass die Frau Kollegin Schwesig, die hier vorhin lebhaft gesprochen hat, aber jetzt leider durch wichtige Amtsgeschäfte verhindert ist, der Debatte weiter zu lauschen - -
- Bundesrat, okay; gut. Ich wollte unterstellen, Sie geht vielleicht nach Mecklenburg-Vorpommern und richtet Sozialarbeiterstellen an den Schulen ein. Das wäre auch eine gute Geschichte. -
All diese Aufgaben liegen in der Kompetenz der Länder, Herr Kuhn.
Im Bundesverfassungsgerichtsurteil - Sie haben es sicherlich genauso gründlich gelesen wie ich - ist von Teilhabe an bestehenden Einrichtungen die Rede. Das heißt, wir müssen uns fragen: Gibt es genügend Einrichtungen? Da haben Sie mich an Ihrer Seite. Ich habe bei mir im Wahlkreis vor einigen Jahren erreicht, dass wir das Programm ?Vertiefte Berufsorientierung für Schülerinnen und Schüler? mit Kofinanzierung des Freistaats hinbekommen haben: 50 Prozent Bundesmittel, 25 Prozent Landesmittel, 25 Prozent Eigenanteil des Schulaufwandsträgers. Da kann man vieles erreichen. Lassen Sie uns hier gern im Dialog bleiben, weil es wichtig ist, dass man diese Angebote, diese Möglichkeiten für die bedürftigen Familien schafft.
Meine Damen und Herren, der Weg zu dem heutigen Vermittlungsergebnis war sicher nicht leicht. Frau Ministerin hat ausgeführt: Aus den Steinen, die man einem in den Weg wirft, kann man auch etwas Schönes bauen. Ich glaube, es ist heute zumindest etwas Vernünftiges, etwas Sinnvolles - ob es von allen als schön empfunden wird, werden wir sehen - erreicht worden. Es wird - da will ich ein Stück weit um Verständnis bitten - auch bei den Kommunen, die jetzt für das Bildungspaket zuständig sind, möglicherweise nicht ganz ohne Anlaufschwierigkeiten gehen. Hier bitte ich die betroffenen Familien, die betroffenen Kinder, die betroffenen Eltern um ein bisschen Verständnis. Da wir hier Neuland beschreiten, sollten sie uns über die Kommunen Verbesserungsvorschläge zuleiten, wie es weitergehen kann. Man sollte dieses Neue mit positiven Erwartungen begleiten und nicht, wenn es am Anfang etwas zwickt oder hakt, gleich alles schlechtreden.
Meine Damen und Herren, wir können stolz darauf sein, dass am Ende auch die Inhalte, die wir uns vorgenommen haben, umgesetzt werden konnten. In der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses haben wir es geschafft, mehr Chancengerechtigkeit für alle Kinder zu erreichen, insbesondere für 2,5 Millionen bedürftige Kinder aus Hartz-IV-Familien. Sie haben nun die Chance auf einen sozialen Aufstieg. So lässt sich der Kreislauf aus ererbter Armut und Chancenlosigkeit durchbrechen. Dafür, meine Damen und Herren, hat es sich gelohnt zu kämpfen.
Wir haben mehr Hilfe für Langzeitarbeitslose erreicht. Ihnen wollen wir gute Bedingungen bieten, um den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu meistern.
Wir haben mehr Unterstützung und Entlastung für unsere Kommunen erreicht. Sie müssen als unsere besonderen Partner in der Sozialpolitik gestärkt werden. Das tun wir mit dem heute gefundenen Kompromiss. Damit haben wir es geschafft, Hartz IV so umzugestalten, dass ein faires und gerechtes Konzept entstanden ist - ein großer Gewinn an sozialer Sicherheit, an sozialer Gerechtigkeit und an sozialstaatlicher Verantwortung. Insgesamt haben wir viel mehr umgesetzt, als uns das Bundesverfassungsgericht mit seiner Forderung nach transparenten Regelsätzen aufgetragen hat.
Ich bin sehr froh, dass unsere Kommunen zu den klaren Gewinnern dieser Reform gehören. Wir haben eine deutliche und nachhaltige Verbesserung ihrer Finanzen durch eine milliardenschwere Entlastung von Sozialausgaben erreicht. Die Kommunen sind, wie bereits ausgeführt, unser wichtigster Partner in der Sozialpolitik. Sie haben die Expertise vor Ort dafür, den Menschen zielgerichtet, sachgerecht und effektiv zu helfen.
Wir entlasten unsere Kommunen nicht nur finanziell, sondern greifen ihnen auch bei der Aufgabenbewältigung tatkräftig und verlässlich unter die Arme.
Der Bund wird bis 2014 die Grundsicherung für Ältere und Erwerbsgeminderte zu 100 Prozent übernehmen. Bereits ab dem nächsten Jahr erfolgt die Anpassung schrittweise: zunächst mit der Übernahme von 45 Prozent und dann mit der Übernahme von 75 Prozent im Jahre 2013. Die komplette Übernahme erfolgt schließlich im darauffolgenden Jahr. Das ist ein finanzieller Befreiungsschlag für die Kommunen.
Gerade die Durchführung von Sozialprojekten im Bereich der Städtebauförderung wird für die Kommunen in Zukunft leichter in eigener Zuständigkeit möglich sein. Man braucht nicht nur zu jammern, nach dem Motto: ?Der Bund hat uns bei der Städtebauförderung ein Stück weit nicht weiter so unterstützt wie bisher?, sondern man kann das jetzt durch die Entlastung im Bereich des SGB XII kompensieren.
Meine Damen und Herren, nach Informationen des Deutschen Städtetages bedeutet dieser Schritt für die Kommunen in Deutschland eine Entlastung von knapp 12,3 Milliarden Euro bis zum Jahr 2015. Der bayerische Anteil hieran beträgt immerhin 1,3 Milliarden Euro.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Herr Präsident, aufgrund der Wichtigkeit der Materie habe ich mir erlaubt, diesen Satz noch anzufügen.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld, wünsche Ihnen alles Gute und gratuliere diesem Hohen Hause und allen, die mitgewirkt haben, zu dem gefundenen Ergebnis.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bedanke mich natürlich für die Glückwünsche, die Sie an das ganze Haus gerichtet haben, im Namen desselben besonders herzlich.
Es gehört offenkundig zum ständigen Schicksal bei der Disposition solcher Parlamentsreden, dass die besonders wichtigen Sätze erst zu einem Zeitpunkt vorgesehen sind, zu dem die Redezeit bereits abgelaufen ist.
Ich schließe die Aussprache. Wie zu Beginn der Debatte erstens angekündigt und zweitens vereinbart, gibt es einige persönliche Erklärungen zur Abstimmung, die wir dem üblichen Verfahren entsprechend zu Protokoll geben. Den Wunsch zu einer mündlichen Erläuterung des Abstimmungsverhaltens hat die Kollegin Dagmar Enkelmann, der ich hierfür jetzt das Wort erteile.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe gegen den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Hartz-IV-Regelsätze gestimmt.
Ich habe dagegen gestimmt, weil das, was vom Vermittlungsausschuss vorgelegt wurde, ein fauler Kompromiss ist.
Es ist ein fauler Kompromiss zulasten von 6,7 Millionen Menschen in diesem Land. Als Mitglied des Vermittlungsausschusses stelle ich hier fest: Um einen wirklich verfassungskonformen Regelsatz ging es in den offiziellen Verhandlungen zu keinem Zeitpunkt.
Ich habe der Einigung des Vermittlungsausschusses nicht zugestimmt, weil das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht umgesetzt worden ist. Bis heute gibt es keine Transparenz in Sachen Berechnung des Regelsatzes.
Wie kommen Sie auf 5 Euro mehr für 2011? Wie kommen Sie auf 3 Euro mehr ab 2012? Diese Berechnung liegt bis heute nicht vor, und das ist vom Bundesverfassungsgericht angemahnt worden.
Die vereinbarte Regelsatzhöhe reicht auch nicht, um die physische Existenz der Betroffenen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu sichern, wie es vom Bundesverfassungsgericht gefordert worden ist.
Ich habe dem Gesetzentwurf nicht zugestimmt, weil Sie eine weitere Forderung des Bundesverfassungsgericht nicht eingehalten haben, nämlich eine selbstständige Berechnung des Kinderregelsatzes nach dem tatsächlichen Bedarf für Kinder und Jugendliche durchzuführen. Ihr Gesetz wird keinen Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht haben. Ich habe dagegen gestimmt, weil ich nicht an einem erneuten Verfassungsbruch beteiligt sein will.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer weiteren mündlichen Erklärung erhält die Kollegin Senger-Schäfer das Wort.
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe dem Gesetz nicht zugestimmt,
und ich muss im Namen vieler Bürgerinnen und Bürger aus meinem Bundesland Rheinland-Pfalz, die ich hier vertrete, und als pflegepolitische Sprecherin meiner Fraktion eine persönliche Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten abgeben.
Ich stimme dagegen, weil das, was Sie, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb und SPD-Rot, ausgehandelt haben, nicht mehr ist als ein fauler Kompromiss und ein Hohn für die Betroffenen.
Ich stimme dagegen, weil die bisherige Bilanz von Hartz IV eine Katastrophe ist, die durch dieses Gesetz kein bisschen verbessert wird. Sie ignorieren nicht nur die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, sondern Sie verhöhnen vor allem die betroffenen Menschen.
Ich stimme dagegen, weil in Rheinland-Pfalz bei den unter 18-Jährigen die Armutsquote einen neuen Höchststand erreicht hat. Bei uns in Rheinland-Pfalz gelten 19,6 Prozent aller unter 18-Jährigen als armutsgefährdet.
Ich stimme dagegen, weil allein in Rheinland-Pfalz 44 Prozent der Alleinerziehenden, 52 Prozent der Erwerbslosen, 33,7 Prozent der Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit und 28,9 Prozent aller Menschen mit Migrationshintergrund als armutsgefährdet gelten.
Ich stimme dagegen, weil den Verhandlerinnen des Vermittlungsausschusses Menschen mit Behinderungen nicht mehr als eine Protokollnotiz wert sind.
Was Herr Schiewerling auf die Fragen gesagt hat, war unbefriedigend. Was die Kollegin Kipping gefragt hat, ist hier nicht ausreichend beantwortet worden. Es bleibt dabei: Eine menschenwürdige gesetzliche Regelung haben Sie auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.
Das ist unglaublich, und es ist diskriminierend.
Ich stimme dagegen, weil Sie, als die Banken in Schieflage gerieten, ohne Mühe in der Lage waren, innerhalb einer Woche einen sogenannten Rettungsschirm von 500 Milliarden Euro aufzuspannen. Auch zur Euro-Rettung hatten Sie flugs 148 Milliarden Euro parat.
- Oder Sie nicht.
Ich stimme dagegen, weil der Gesetzentwurf der blanke Zynismus ist. Ich stimme auch deshalb dagegen, weil es Ihnen innerhalb einer Wochenfrist möglich gewesen ist, 650 Milliarden Euro für Banken, Spekulanten und Vermögensbesitzer zu mobilisieren. Ich stimme dagegen, weil Ihnen auf der anderen Seite die Ärmsten in diesem Land nicht einmal eine Handvoll Euros wert sind, ganz nach dem Prinzip ?Wir da oben, ihr da unten?. Das ist ein Skandal.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun möchte der Kollege Jan Korte noch eine Erklärung abgeben.
- Liebe Leute, mal einen Augenblick! Zur Geschäftslage: Die Geduld ist bei verschiedenen Tagesordnungspunkten und verschiedenen Beteiligten je nach Gefechtslage unterschiedlich ausgeprägt. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass nach unserer Geschäftsordnung ein solcher Anspruch auf mündliche Erklärungen zur Abstimmung besteht, die wiederum nach unserer Geschäftsordnung in der Regel vor der Abstimmung erfolgen. Ich habe erläutert, warum ich von dieser Regel abweichen möchte. Dem hat das Plenum auch zugestimmt. Aber es gibt überhaupt keine Veranlassung, damit den Anspruch auf Erläuterung der eigenen Position zu verkürzen.
Im Übrigen finde ich es auch ausgesprochen angemessen, dass bei mehr als 20 Erklärungen zur Abstimmung für ganze drei eine mündliche Erläuterung gewünscht wird.
Bitte schön, Herr Kollege Korte. Sie haben das Wort.
Jan Korte (DIE LINKE):
Schönen Dank. - Dass die Grünen das nicht nachvollziehen können, kann ich wiederum nachvollziehen.
Ich will noch einmal deutlich sagen, warum ich aus tiefster Überzeugung heute dagegengestimmt habe, nämlich erstens, weil ich dieses Geschacher und dieses Theater, das in den letzten Wochen hier aufgeführt worden ist, für unwürdig und skandalös halte.
Zweitens. Ich habe dagegengestimmt, weil ich es für einen ?dollen? Vorgang halte, dass ausgerechnet diejenige Partei, die hier eine fundamentale andere Auffassung hat im Vergleich zu Ihnen allen und die die Interessen von vielen Betroffenen vertritt, als einzige Partei von diesem Prozess ausgeschlossen und nicht einmal gehört wird.
Drittens stimme ich dagegen, weil in meinem Wahlkreis in Sachsen-Anhalt, in Anhalt-Bitterfeld und im Salzlandkreis, unzählige Menschen zu jeder Bürgersprechstunde in die Büros der Linken kommen, um Rat und Hilfe zu suchen, wie sie mit ihrem Leben bei den Regelsätzen, um die es hier dieses Geschacher gegeben hat, zurechtkommen sollen. Dass sie in ein FDP-Büro niemals kommen, das ist sicher, Herr Döring.
Viertens stimme ich aus voller Überzeugung dagegen, weil in Sachsen-Anhalt, wo mein Wahlkreis liegt, der Niedriglohnsektor geradezu explodiert ist und fast doppelt so groß ist wie im Rest der Republik. Ich stimme dagegen, weil Sie nicht einmal ansatzweise den Schritt gehen, endlich einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, den gerade die Menschen in meinem Wahlkreis so dringend brauchen.
Ich frage mich - auch deswegen habe ich dagegengestimmt -, wie lange Sie diese Zustände weiter dulden wollen. In Sachsen-Anhalt ist von 2002 bis heute die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs um 4,48 Prozent gesunken. Ich habe noch aus einem anderen Grund - das will ich hier deutlich sagen - dagegengestimmt. Wenn sich die Kollegin Schwesig hier hinstellt und sagt, dass irgendwann ganz sicher eine große sozialpolitische Reform in diesem Bereich kommen muss, dann ist zumindest eines sicher: Ohne die Linke wird sie bestimmt nicht kommen.
Ich will noch eines sagen: Sich als SPD hier zum Gralshüter des Mindestlohns zu machen, ist geradezu absurd, wenn man dann gleichzeitig ein Vergabegesetz in Sachsen-Anhalt will, das in Richtung Mindestlöhne geht, und mit der CDU koalieren will, die ein solches Gesetz mit Sicherheit verhindern will. Auch deswegen habe ich dagegengestimmt. Ich hoffe, dass es bald noch mehr werden.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Protokollführer haben einen Zwischenruf des Parlamentarischen Staatssekretärs Hans-Joachim Otto von der Regierungsbank aus festgehalten, den ich nicht gehört habe, der aber nach unseren Regeln erstens unzulässig ist und zweitens, wenn er aus den Reihen der Abgeordneten erfolgt wäre, von mir als unparlamentarisch gerügt worden wäre.
Damit können wir den Punkt hoffentlich abschließen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 10 a und 10 b:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Beschäftigtendatenschutzes
- Drucksache 17/4230 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Beate Müller-Gemmeke, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes personenbezogener Daten der Beschäftigten in der Privatwirtschaft und bei öffentlichen Stellen
- Drucksache 17/4853 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache dazu 45 Minuten dauern. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich erteile das Wort dem Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute - ich füge leise hinzu: endlich - in erster Lesung den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Beschäftigtendatenschutz. Wir greifen damit ein Thema auf, das seit vielen Jahren diskutiert wird und das nach etlichen Datenschutzskandalen in großen deutschen Unternehmen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist. Gesetzliche Regelungen gibt es bis heute nur vereinzelt. Vieles ist der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte überlassen. Wir beschäftigen uns jetzt mit diesem Gesetzentwurf, um für mehr Rechtssicherheit zu sorgen und einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitgeber und den Interessen der Arbeitnehmer zu finden.
Warum ist das so schwierig? Weil eben die Interessen und die betrieblichen Fallgestaltungen im Einzelnen sehr unterschiedlich sind. Arbeitnehmer wollen zum Beispiel vor Bespitzelung und Überwachung geschützt werden. Arbeitgeber wollen etwa durch den Einsatz neuer Informationstechnologien geordnete Betriebsabläufe haben, wodurch automatisch Erkenntnisse über Beschäftigte anfallen. Arbeitgeber wollen Korruption bekämpfen - das erwartet die Öffentlichkeit von ihnen -; Arbeitnehmer wollen nicht unter Korruptionsverdacht gestellt werden. All das sind berechtigte Interessen, die in geordneter Weise in einen Ausgleich gebracht werden müssen. Wir haben mit diesem Gesetzentwurf den Versuch unternommen, das zu erreichen.
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält Regelungen zum Fragerecht des Arbeitgebers im Bewerbungsverfahren. Die klassische Frage an Frauen in diesem Zusammenhang ist: Sind Sie eigentlich schwanger, ja oder nein? In diesem Gesetzentwurf ist geregelt, ob diese Frage gestellt werden darf, was mit der Antwort darauf passiert und vieles andere mehr.
Behandelt wird darin auch die Zulässigkeit ärztlicher und sonstiger Untersuchungen. Wir erinnern uns, dass manche Unternehmen selbst dann sämtliche infrage kommenden Mitarbeiter aufgefordert haben, einen Bluttest zu machen, wenn bei ihnen keine Tätigkeiten ausgeübt werden, die mit Blutkonserven oder Ähnlichem zu tun haben.
Darüber hinaus werden in diesem Gesetzentwurf Fragen der Videoüberwachung und der Nutzung von Telekommunikationsdiensten am Arbeitsplatz geklärt. Letzteres ist ein sehr schwieriges Thema. Zu klären ist etwa: Wenn man gegen Abrechnung privat telefonieren darf, darf dann der Arbeitgeber feststellen, mit wem man telefoniert hat, um Klarheit darüber zu gewinnen, ob ein Telefonat privat war? Auch das ist eine schwierige Abwägung.
Außerdem geht es um die Nutzung von Ortungssystemen, etwa um GPS bei Spediteuren. Während ein Spediteur etwa wissen möchte, wo sein Lkw ist, möchte der betreffende Fahrer nicht dahin gehend überwacht werden, wohin er sich bewegt.
An diesen Beispielen sieht man, dass die Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer immer in berechtigter Weise unterschiedlich sind.
Die Bundesregierung hat für diesen Gesetzentwurf Kritik erfahren: sowohl von Arbeitgebern als auch von Gewerkschaften. Normalerweise freut man sich nicht, wenn man von zwei Seiten kritisiert wird. Wenn hier aber die eine Seite sagt: ?Das geht zu weit?, und die andere Seite sagt: ?Das geht nicht weit genug?, dann haben wir, glauben wir, einen ausgewogenen Entwurf vorgelegt.
Lassen Sie mich kurz auf ein paar Beispiele eingehen.
Umfangreich diskutiert wird das Thema der heimlichen Videoüberwachung. Nach diesem Gesetzentwurf soll die heimliche Videoüberwachung im Beschäftigungsverhältnis ausnahmslos verboten werden. Es handelt sich um eine Vorschrift, mit der zugunsten des Datenschutzes der Arbeitnehmer über die geltende Rechtsprechung hinausgegangen wird. Nach geltender Rechtsprechung ist die heimliche Videoüberwachung als letztes Mittel zur Aufklärung von Straftaten zulässig. Das wollen wir ändern. Wir glauben, dass es nicht sinnvoll ist, dass es in unserem Land eine heimliche Videoüberwachung von Arbeitnehmern geben soll.
Gleichwohl besteht die Möglichkeit - Sie sagen es -, kritische Bereiche durch eine offene Videoüberwachung zu schützen - das wird in diesem Gesetzentwurf klar benannt -, zum Beispiel Kassenbereiche in Supermärkten und Einkaufshallen. Dort werden dann beispielsweise Ladendiebe mit einer Videokamera gefilmt. Aber man kann einen Ladendieb nicht filmen, ohne automatisch das Verhalten der Kassiererin mit zu erfassen.
Wenn die Videoaufzeichnung offen geschieht, wenn die Mitarbeiter darüber also informiert sind - all das ist in diesem Gesetzentwurf vorgesehen -, dann ist eine solche Überwachung meines Erachtens dringend geboten und notwendig, und sie ist hier auch vorgesehen. Ausdrücklich ausgenommen sind Sanitär-, Umkleide- oder Schlafräume. Diese Teile von Arbeitsstätten werden privat genutzt und sollen überhaupt nicht videoüberwacht werden.
Ein weiteres schwieriges Thema war der automatische Datenabgleich. Wir wollen nicht, dass es Korruption in großen Unternehmen gibt. Gleichzeitig wollen wir die Mitarbeiter nicht unter einen Generalverdacht stellen. Deswegen ist es in bestimmten Fällen - ich denke etwa an die Mitarbeiter einer Vergabeabteilung - und unter bestimmten Voraussetzungen, die ich aus Zeitgründen jetzt nicht näher erläutern will, möglich, dass man Kontodaten der Beschäftigten mit Kontodaten bestimmter Auftragnehmer, also solcher Firmen, an die von der jeweiligen Abteilung Aufträge vergeben werden, abgeglichen werden, auch wenn es keinen konkreten Verdacht gibt. Ein automatischer Datenabgleich ist unter bestimmten Voraussetzungen zur präventiven Korruptionsbekämpfung notwendig. Wir halten das für richtig.
Ich will noch kurz einige Vorschläge von uns erwähnen, über die noch diskutiert wird.
Ein Punkt sind die Betriebsvereinbarungen. Ich will den damit verbundenen Interessengegensatz kurz erläutern. Warum soll eigentlich der Gesetzgeber klüger sein als die Betroffenen vor Ort? Wenn Arbeitgeber und Betriebsräte eine Vereinbarung geschlossen haben, dass mit personenbezogenen Daten in einer bestimmten Weise umgegangen wird, warum soll das in dem Gesetz eigentlich untersagt werden?
Die einen sagen: Jawohl, das ist eine Stärkung der Tarifautonomie und der Partnerschaft im Betrieb. Da hat eine Betriebsvereinbarung Vorrang vor dem Gesetz. - Das sagen viele. Die anderen fragen: Wie sind eigentlich die Machtverhältnisse in den Betrieben? Bei großen Unternehmen mit 100 000 Beschäftigten mag das gehen. Aber wie ist es bei einem kleinen mittelständischen Betrieb mit 50 Beschäftigten? Wie stark ist da der Betriebsrat gegenüber dem Betriebsinhaber? Kann nicht durch eine Betriebsvereinbarung das Schutzniveau dieses Gesetzes unterlaufen werden?
Wir haben vorgeschlagen, dass Betriebsvereinbarungen Vorrang vor dem Gesetz haben, aber das Schutzniveau des Gesetzes nicht unterschreiten dürfen. Das ist umstritten. Ich bin gespannt, was im Gesetzgebungsverfahren dabei herauskommt.
Der zweite Punkt, der in diesem Zusammenhang ebenso interessant ist, ist die Frage: Wie ist es eigentlich mit der Einwilligung des Betroffenen? Ist die Einwilligung des Betroffenen für ein System, das auf Freiheit beruht, nicht wichtiger als die Weisheit des Gesetzgebers? Das ist ein starkes Argument.
Wenn jemand eingestellt werden will und der Arbeitgeber sagt: ?Du bekommst die Stelle aber nur, wenn du eine Blutprobe abgibst? - Blutproben sind nach dem Gesetz an sich verboten -, dann ist der Arbeitnehmer, der die Stelle haben will, nicht besonders frei darin, zu sagen: Nein, du bekommst keine Blutprobe. - Daraufhin sagt nämlich der Arbeitgeber: Dann bekommst du die Stelle leider nicht. - Er würde es zwar nicht direkt so sagen, aber sich so verhalten. Somit muss nach unserer Auffassung auch die Einwilligung Grenzen haben. Auch da sagen wir: Das Schutzniveau darf in bestimmten Fällen, etwa bei ärztlichen Eingriffen, wie es der Gesetzgeber sagt, auch durch eine Einwilligung nicht ausgehebelt werden.
Auch dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen. Auch das wird sicherlich Gegenstand der Anhörung sein. Ich sage das nur deswegen, weil das ein wichtiger Punkt ist, der deutlich macht, dass wir dieses Gesetz nicht hinbekommen, ohne dass wir immer einen Abwägungsprozess zwischen den berechtigten Interessen des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers, des Betriebsrats gegenüber dem Gesetzgeber und des Einzelnen gegenüber dem Gesetzgeber machen.
Ich denke, wir haben hier einen ausgewogenen Kompromiss vorgelegt. Ich freue mich auf die Debatte in den Ausschüssen und im weiteren Gesetzgebungsverfahren und hoffe auf einen zügigen Abschluss dieser Beratungen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Gerold Reichenbach für die SPD-Fraktion.
Gerold Reichenbach (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, es sind Datenskandale bei der Telekom und bei der Bahn angesprochen worden. 150 000 E-Mails von Mitarbeitern wurden überwacht. Lidl filmte seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bis in die Toiletten hinterher. All das macht deutlich, es gibt einen erheblichen Regelungsbedarf. Denn in einem freiheitlichen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland muss der Grundsatz gelten: Grundrechte machen nicht vor dem Werkstor halt. Da unterscheiden wir uns von Ihrem Regierungsentwurf.
Es kann die Frage des Eingriffs in Persönlichkeitsrechte, in die Hoheit über die eigenen Daten, die durch Bundesverfassungsgerichtsurteile mehrfach gestärkt worden ist, nicht zu einem Abwägungsgegenstand zwischen dem Schutz der Arbeitnehmerrechte auf der einen Seite und betrieblichen Interessen auf der anderen Seite gemacht werden. Vielmehr muss deutlich werden, dass auch vom Grundgesetz her unterschiedliche Rechtsgüter gegeneinander stehen. Das ist der Grund, warum wir gesagt haben: Auch weil es - dies haben Sie gerade deutlich gemacht - im Machtgefüge ein Ungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gibt, weil man Arbeitnehmer nicht wie einen Kunden behandeln kann, der irgendwo im Internetverkehr einem Anbieter gegenübertritt, müssen die Regelungen zum Arbeitnehmerdatenschutz im Arbeitsrecht vorgenommen werden und nicht im Datenschutzrecht. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Wir haben eine Fülle arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften, zu denen es eine umfangreiche Rechtsprechung gibt. Wir haben auf der anderen Seite eine allgemeine Rechtsprechung zum Datenschutzrecht. Sie erwecken mit Ihrer Einbringungsrede den Eindruck, dass Sie an zwei Stellen faktisch bereits den Rückzug angeboten haben, nämlich bei der Frage, ob vom Schutzniveau des Gesetzes zum einen per Betriebsvereinbarung und zum anderen per mehr oder weniger freiwilliger Einwilligung des Arbeitnehmers abgewichen werden kann.
Deswegen halten wir den Weg, den die Sozialdemokraten vorgeschlagen haben - unser Gesetzentwurf liegt längst vor, und zwar vor dem Ihren - und den jetzt auch die Grünen mit ihrem Gesetzentwurf einschlagen, für den richtigen. Der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat nicht im Datenschutzrecht stattzufinden, sondern im Arbeitsrecht.
Man stellt sich die Frage: Warum gehen Sie diesen Weg nicht? Eine Antwort ist schon deutlich geworden: Sie wollen die Arbeitnehmerrechte zum Abwägungsgegenstand machen. Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf offensichtlich einen Teil dessen, was in der Arbeitsrechtsprechung inzwischen erreicht wurde, über das Datenschutzrecht zumindest relativieren oder den Arbeitgebern mit sehr weit gefassten Begrifflichkeiten eine Auslegungsmöglichkeit eröffnen.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Über das Datenschutzrecht führen Sie einen Umstand ein, den es bislang im Arbeitsrecht nicht gibt: Beim bloßen Verdacht des Arbeitgebers, beim Arbeitnehmer könne keine Eignung mehr vorliegen, dürfen jetzt auch während des laufenden Arbeitsverhältnisses medizinische und psychologische Eignungstests vorgenommen werden. Bislang war das nur aufgrund arbeitsschutzrechtlicher Bestimmungen möglich und nicht aufgrund einer Abwägung oder eines Verdachtsmoments seitens des Arbeitgebers. Das ist eine klare Abweichung gegenüber dem geltenden Arbeitsrecht, die Sie jetzt im Datenschutzrecht vornehmen, und zwar zulasten des Arbeitnehmers.
Die im Übrigen bereits durch EuGH-Rechtsprechung verbotene Frage nach einer Schwangerschaft taucht bei Ihnen in dem entsprechenden Passus nicht mehr auf. Es geht dort nur noch um Behinderungsgründe. Auch hier wird deutlich, wo die Reise hingehen soll.
Die Begriffe, die Sie verwenden, sind sämtlich unbestimmt. Das zeigt sich unter anderem bei der Frage der Verhinderung von Korruption, wie Sie das gerade angesprochen haben, oder bei der Einhaltung von Compliance. Bei der Compliance stelle ich mir die Frage: Warum führen Sie diesen unbestimmten Begriff in der Begründung ein? Compliance bedeutet eigentlich nichts anderes, als sich an Recht und Gesetz zu halten. Das ist in unserem Entwurf deutlich geworden, und zwar, wenn es darum geht, Straftaten oder Verstöße gegen gesetzliche Regelungen oder Verordnungen zu verhindern.
Sie aber verwenden einen Compliance-Begriff, der dem Belieben des Unternehmens und der Definitionshoheit des Arbeitgebers unterliegt. Wenn man schon diesen modernen Begriff verwenden will, dann nur, wenn die Compliance und die Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung der Mitbestimmung unterliegen und nicht allein der Abwägung und des Wertsetzens des Arbeitgebers.
Es kommt ein weiterer Punkt hinzu. Viele Unternehmen sind international aufgestellt. In die Compliance-Regelungen der Unternehmen fließen teilweise Rechtsnormen aus anderen Ländern ein. Wollen Sie diese Normen dann auch zum Gegenstand der Abwägungsbefugnisse des Arbeitgebers machen?
Wenn man sich Ihren Gesetzentwurf anschaut, dann stellt man beispielsweise in den Regelungen des § 32 d Abs. 3 oder des § 32 e fest, dass es einen Großteil der Skandale, die wir bislang bei der Telekom oder der Bahn erlebt haben, so nicht mehr geben wird. Denn nach den Regelungen Ihres Gesetzentwurfes würden diese Vorgänge legalisiert oder zumindest einer Abwägung zugänglich. Genau das wollen wir nicht.
Deswegen - wir werden uns ja in einer Anhörung über die Gesetzentwürfe unterhalten können und müssen - sagen wir eindeutig: Arbeitnehmerdatenschutz heißt Schutz der Arbeitnehmer und der Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer und nicht Abwägen der Arbeitnehmerrechte gegen betriebliche Interessen. Vielmehr hat das Schutzniveau Vorrang. Deswegen wird ein Gesetz auf Basis des Gesetzentwurfes, der hier von der Bundesregierung vorgelegt wurde, mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen sein.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegen Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
Gisela Piltz (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich gerne zitieren:
Der Schutz der Daten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird erstmals in einem eigenen Gesetz verankert.
- Auf die Frage habe ich gewartet. Das ist nämlich ein Zitat, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, aus Ihrem eigenen Koalitionsvertrag von 2002.
Das haben Sie geschrieben, aber Sie haben es in all den Jahren nicht fertiggebracht,
diese gute Absicht, die ich Ihnen gerne unterstellen möchte, in einen Gesetzentwurf zu gießen.
Da muss ich wirklich einmal feststellen, dass wir das nun tun. Dass dieser Gesetzentwurf sicherlich noch diskussionswürdig ist, ist klar. Wir sitzen ja auch hier, damit wir darüber diskutieren. Aber allein dieser Formulierung wegen müsste man Ihnen schon dankbar sein.
Vier Jahre vorher spielte der Arbeitnehmerdatenschutz bei Ihnen nämlich gar keine Rolle.
Wenn ich mir noch eine Bemerkung erlauben darf: Dass Sie von der SPD, die Sie ja die stolze Partei der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer präsentieren,
hier heute nur zu Dritt sitzen - nehmen Sie mir es nicht übel -, gibt einem schon zu denken.
Bei der jetzigen Bundesregierung ist das ein bisschen anders. Wir haben den Reformstau beim Arbeitnehmerdatenschutz erkannt. Wir gehen ihn jetzt an. Es ist richtig, wie der Bundesinnenminister gesagt hat, dass es kaum eine zweite Regelungsmaterie gibt, bei der man so stark zwischen verschiedenen Interessen abwägen muss. Das ist auch aufwendig. Diesem Prozess unterziehen wir uns gerade und werden wir uns weiterhin unterziehen. Dass man das Ganze nicht einfach mit einem Federstrich lösen kann, haben wir ja alle im Laufe unserer Diskussionen gemerkt.
Wir gehen das nun, wie gesagt, an. Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, die Grundrechte und die Persönlichkeitsrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch am Arbeitsplatz zu schützen. Genau das ist der Grund, warum wir dieses Gesetz vorlegen. Bespitzelungen, Ausspähungen - diese Beispiele sind ja schon genannt worden -, heimliche Überwachungsmaßnahmen bis in den intimsten Bereich haben auch und vor allen Dingen im Beschäftigungsverhältnis nichts zu suchen. Deshalb verbietet dieser Gesetzentwurf die heimliche Videoüberwachung am Arbeitsplatz. Ich glaube, das ist ein guter und richtiger Schritt.
Allein dort, wo belegbare berechtigte Interessen des Arbeitgebers erkennbar sind und/oder gesetzliche Verpflichtungen und Standards eingehalten werden müssen - der Innenminister hat dazu einiges gesagt -, können Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen gerechtfertigt sein, aber auch nur dann.
Natürlich sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Arbeitsplatz bereits heute nicht rechtlos. Das Problem ist nur: Kaum einer kennt seine Rechte. Die aktuelle Rechtslage ist doch vor allem durch eine Rechtsprechung geprägt, die einzelfallorientiert und damit weithin unübersichtlich ist. Ich glaube, wir verfolgen ein gutes Anliegen, wenn wir uns darum bemühen, das endlich zu verbessern. Was aufseiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Rechtsdurchsetzung führt, führt auf der Arbeitgeberseite zu Unsicherheiten, welche Datenverarbeitungen zulässig sind und welche nicht. Diese Rechtsunsicherheit zu beseitigen, muss ein Ziel dieses Gesetzes sein.
Es ist kein Geheimnis, dass sich meine Fraktion - ich glaube, ich kann hier für beide Koalitionsfraktionen sprechen, auch wenn ich hier für die liberale Fraktion stehe - schon jetzt viele Nachbesserungen an dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wünscht.
Aber Sinn einer ersten und zweiten Lesung ist ja, Verbesserungen und Veränderungen am Gesetzentwurf vorzunehmen.
Es genügt nach meiner Überzeugung in keiner Weise, streitige Fragen, wenn überhaupt, erst in der Gesetzesbegründung aufzulösen. Auch das ist aus meiner Sicht bisher einer der Schwachpunkte des Gesetzentwurfes. Offene Fragen müssen im Gesetz selbst beantwortet werden. Wir wollen Rechtssicherheit. Diese schafft man nicht, wenn Klarstellungen allein in der Begründung vorgenommen werden. Auch dazu werden wir im Parlament sicherlich eigene Akzente setzen.
Das gilt vor allen Dingen für die Zulässigkeit von Mitarbeiterscreenings. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Ein Gesetz, das ein Massenscreening, wie es zum Beispiel bei der Deutschen Bahn stattgefunden hat, am Ende legalisieren würde, wird es mit uns nicht geben. Das wäre auch das falsche Signal, das von diesem Gesetz ausginge.
- Herr von Notz, deshalb wird es Veränderungen geben. Wenn Sie zuhören würden, dann hätten Sie das auch realisieren können.
Um der großen praktischen Relevanz Rechnung zu tragen, wird sich das Parlament des Weiteren auch den Regelungen zur Datenerhebung im Bewerbungsverhältnis, zur privaten E-Mail-Nutzung, zu Konzernsachverhalten und zu der Frage, inwieweit Einwilligungen des Arbeitnehmers und Betriebsvereinbarungen als Zulässigkeitskriterium für die Datenerhebung und -verarbeitung anerkannt werden können, zuwenden müssen. Das sind offene Punkte, die wir regeln wollen und die wir - davon bin ich überzeugt - auch regeln werden.
- Wenn Sie eine Frage haben, wenden Sie sich an den Präsidenten!
In sämtlichen Bereichen eines Arbeitsverhältnisses muss die Freiwilligkeit von Einwilligungen des Arbeitnehmers, sei es in der Datenverarbeitung durch den Arbeitgeber, sei es bei Fragen zur Arbeitszeit, intensiv hinterfragt werden. So weit, so bekannt. Da ein Gesetz aus guten Gründen aber nur abstrakte Vorgaben machen kann, müssen wir einen Weg finden, wie wir allen betroffenen Unternehmen - von der Drei-Mann-Werkstatt bis zum DAX-Konzern mit bis zu 250 000 Mitarbeitern - die Möglichkeit eröffnen können, punktgenau auf die eigenen innerbetrieblichen Anforderungen zu reagieren.
Im Gesetzentwurf wird endlich zu Recht anerkannt, dass kollektivrechtliche Vereinbarungen als eigenständige Rechtsvorschriften möglich sind. Dass Betriebsvereinbarungen dabei natürlich nicht den Kern des Gesetzes und der damit verbundenen Schutzregeln verletzen dürfen, steht aus unserer Sicht außer Frage und ist, wenn ich das richtig sehe, im Übrigen schon heute geltendes Recht. Ob allerdings eine allzu starre Regelung sinnvoll ist, wonach auch bei nur minimaler Unterschreitung des gesetzlichen Schutzniveaus das Fine-Tuning in den Unternehmen über Betriebsvereinbarungen nicht mehr möglich sein soll, wird - das haben wir heute schon gemerkt - in den weiteren Beratungen eine Rolle spielen.
Dass wir heute überhaupt einen Gesetzentwurf einer Bundesregierung, und zwar dieser Bundesregierung, zur Verbesserung des Arbeitnehmerdatenschutzes auf dem Tisch des Hohen Hauses haben, ist, gemessen an der Leistung der Vorgängerregierungen, schon, so finde ich persönlich, eine kleine Sensation.
Darauf können und werden wir uns nicht ausruhen. Der Gesetzentwurf markiert den ersten Schritt. Ich freue mich auf eine konstruktive Debatte im Sinne von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland. Wir bieten das an, und wir würden uns freuen, wenn Sie unser Angebot nutzen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Jan Korte von der Fraktion Die Linke.
Jan Korte (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die beiden Redner der Koalition - das ist in der Tat interessant - kündigen schon bei der Einbringung des eigenen Gesetzentwurfs bedeutende Änderungen an. Vielleicht machen Sie das in Zukunft vorher. Dann könnten Sie mit mehr Güte der Opposition rechnen. Das als kleiner Verfahrenshinweis.
Aber gut, der Gesetzentwurf ist nun eingebracht. Ich will ein Beispiel dafür geben, worum es hier eigentlich geht. Im Bericht des Landesdatenschutzbeauftragten von Sachsen-Anhalt wird der Fall eines Discounters beschrieben. Dieser Discounter hat Privatdetektive engagiert, angeblich um Ladendiebstahl aufzudecken. So weit, so nachvollziehbar. Real waren die Detektive aber für etwas ganz anderes da, nämlich für die Ausforschung und die Beobachtung sowie die Kontrolle des Verhaltens der Mitarbeiter. Dort ist beispielsweise protokolliert worden - ich zitiere -: Frau K. ist im sechsten Monat schwanger. - Oder: Frau G. tätigt während der Pause Privateinkäufe. - Solche Beispiele gibt es reihenweise.
Das zeigt eines, nämlich dass ein solches Vergehen in diesem Land nicht die Ausnahme, sondern mittlerweile die Regel ist. Deswegen brauchen wir Schutz für die Beschäftigten und nicht so einen Wischiwaschi-Gesetzentwurf, wie er vorliegt.
Fehlender Datenschutz, fehlende Arbeitnehmerrechte betreffen natürlich in ganz besonderer Art und Weise - darauf will ich eingehen - diejenigen, die in prekärer Beschäftigung sind. Die unteren Lohngruppen betrifft es besonders. Den Leuten dort muss man unbedingt helfen. Das gilt besonders angesichts der Tatsache, dass prekäre Beschäftigung, Minijobs, Midijobs - das ist übrigens von allen anderen Parteien außer der Linken politisch gewollt - weiter ausgebaut werden.
- Diesen Zwischenruf hätte ich mir an Ihrer Stelle verkniffen; denn die Explosion der Anzahl der prekären Beschäftigungsverhältnisse ist in der Regierungszeit der SPD geschehen. - Wir brauchen deswegen ein eigenständiges Arbeitnehmerdatenschutzgesetz und nicht sozusagen ein Anklatschen an das Bundesdatenschutzgesetz.
Weil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen - es heißt ?abhängig Beschäftigte? -, ist es natürlich ganz entscheidend, dass insbesondere sie mehr Rechte - im Übrigen auch stärkere Gewerkschaften - brauchen. Bei Ihren Abwägungen, die Sie dargestellt haben, besteht das Problem, dass Sie zugunsten der Arbeitgeber abgewogen haben. Wir aber wollen zugunsten der Arbeitnehmer abwägen. Das ist der entscheidende Unterschied.
Die Hans-Böckler-Stiftung hat vor kurzem das Ergebnis einer Abfrage unter Betriebsräten veröffentlicht. Die entsprechenden Zahlen zeigen, dass im Schnitt jeder siebte Betrieb grundsätzlich und massiv gegen den Datenschutz und die Persönlichkeitsrechte seiner Beschäftigten verstößt. Das muss man sich einmal vorstellen: jeder siebte Betrieb. Aufgrund dieser unhaltbaren Zustände ist der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf völlig ungenügend. In ihm wurde eine Abwägung zugunsten der Arbeitgeber getroffen. Das kann doch angesichts der Zustände, die wir Woche für Woche hier erleben, nicht sein.
Ich komme jetzt zu einer, wie ich finde, besonders bizarren Finte, die Sie hier eingebaut haben. Sie haben es eben selbst angesprochen und als eine Verbesserung dargestellt. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man von einem guten Gag sprechen. Sie sagen nämlich, dass Sie die illegale Videoüberwachung verbieten wollen.
- Die heimliche Videoüberwachung. Man kann auch illegale Videoüberwachung sagen. - Sie wollen also die heimliche Videoüberwachung verbieten. Jetzt kommt aber der Hammer: Als Alternative führen Sie eine flächendeckende offene Videoüberwachung ein. Das ist doch absurd; das kann doch nicht der Weg sein.
Ein weiterer Einwand betrifft § 32. Der Minister ist vorhin diesbezüglich zu einer richtigen Erkenntnis gekommen. Ich verstehe nur nicht, warum er sie nicht in den Gesetzentwurf hat einfließen lassen. Ich zitiere:
Mit Einwilligung des Beschäftigten darf der Arbeitgeber auch bei sonstigen Dritten personenbezogene Daten des Beschäftigten erheben; ...
Das ist doch absurd. In der Realität sieht es einfach so aus, dass der Chef sagt: Wenn du nicht einwilligst, ist dein Bewerbungsverfahren beendet. - Ich kann also nicht verstehen, dass Sie diesen Satz in den Gesetzentwurf hineingeschrieben haben.
Abschließend möchte ich sagen: Dieser Gesetzentwurf ist im Sinne der großen Konzerne. Auch wenn man sich ihn in mühevoller Kleinarbeit durchliest, kann man keine Richtungsänderung erkennen. Ein brauchbares Arbeitnehmerdatenschutzgesetz - das ist der Kern - muss man in diesen Zeiten als Arbeitnehmer am besten als Fibel in der Tasche haben, um dem Chef sagen zu können: Das, was du von mir verlangst und was du mit meinen Persönlichkeitsrechten machst, ist nicht erlaubt.
So etwas brauchten wir. Leider ist das in diesem Gesetzentwurf noch nicht einmal ansatzweise geregelt. Deswegen werden wir ihn so, wie er ist, ablehnen. Aber wie wir nun einmal sind, werden wir natürlich versuchen, konstruktiv mitzuarbeiten. Nur leider hören Sie nicht auf die klugen Ratschläge der linken Opposition.
Danke.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz von Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der gläserne Beschäftigte ist technisch heute problemlos möglich. Die technischen Möglichkeiten werden genutzt. Das haben die letzten Skandale, die heute Morgen schon vielfach angesprochen wurden, deutlich gezeigt.
Diese spektakulären Fälle sind aber nur die Spitze eines Eisberges aus wachsender Überwachung und Kontrolle am Arbeitsplatz. Es ist Konsens, dass heute ein massives strukturelles Ungleichgewicht zugunsten der Arbeitgeber beim Datenschutz von Beschäftigten besteht. Deswegen ist das Austarieren eines Gleichgewichts - da gebe ich Ihnen völlig recht, Herr Minister - zwischen den Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern seit langem überfällig.
Mit Ihrem Gesetzentwurf aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, scheitern Sie an dieser Aufgabe - das muss man leider so hart sagen - in allen Bereichen.
Sie selbst, Herr Minister, haben eben davon gesprochen, dass Sie mit dem Gesetzentwurf den ?Versuch? unternommen hätten, die Lage zu verbessern. So kann man es in der Tat ausdrücken.
Die Kollegin Piltz hat erklärt, der Gesetzentwurf sei eine brauchbare Grundlage, auf der man aufbauen könne. Das zeigt doch vor allem eins, nämlich dass die Begeisterung in Ihren eigenen Reihen ausgesprochen überschaubar ist.
Es kommt massivste Kritik von allen Seiten, vom DGB bis hin zum Arbeitgeberverband, und das völlig zu Recht; denn Ihr Entwurf scheitert bereits an den von Ihnen selbst sehr niedrig gesteckten Zielen. Er regelt nur unzureichend, er bringt weder Rechtsklarheit noch Rechtssicherheit. Der Entwurf ist handwerklich völlig missglückt. Selbst Fachleute sehen ihn als praktisch durchgängig unverständlich an.
Abzuwägen ist völlig okay, aber wenn sich in jedem zweiten Paragrafen eine andere Formel des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes findet, dann ist es unmöglich, das einer juristischen Dogmatik zu unterwerfen. Daran scheitert so ein Gesetzentwurf auch.
Mir ist es auch völlig unverständlich, warum Sie jetzt versuchen, diese Regelungen gegen den Rat aller Fachleute in das völlig veraltete, chaotische und unübersichtliche Bundesdatenschutzgesetz zu implementieren. So eine Verschlimmbesserung hat diesem Gesetz gerade noch gefehlt.
Die Arbeitgeber - und deswegen nützt Ihr Gesetzentwurf leider keinem - erhalten keine Konzernklausel. Das zentrale Problem, wie innerhalb von Konzernen eine vernünftige Personalverwaltung datenschutzrechtlich abgesichert werden kann, bleibt in Ihrem Entwurf - offenbar bewusst - weiter ungelöst. Auch die Beschäftigten werden bei den zentralen Fragen weiter im Regen stehen gelassen. Denn der Entwurf bedeutet vor allem eines: die Legalisierung vormals höchst fragwürdiger Vorgehensweisen. Frau Piltz hat es eben angesprochen: Sie legalisieren das anlasslose Massenscreening von ganzen Belegschaften zu ?Compliance?-Zwecken ins Blaue hinein, um selbst bloßen Pflichtverletzungen nachspüren zu können.
Das entspräche exakt einer Legalisierung der Praxis der Deutschen Bahn, die rasterfahndungsähnliche Maßnahmen gegen 170 000 Bedienstete durchgeführt hat
und dafür zu Recht vom Landesdatenschutzbeauftragten hart sanktioniert wurde.
Der Kollege Korte hat es eben schon angesprochen: Mit dem vorgeblichen Verbot der heimlichen Videoüberwachung haben Sie sich ein bürgerrechtliches Feigenblättchen zugelegt. Aber allgemeines heimliches Schnüffeln mittels Detekteien und Sicherheitsdiensten wird nicht nur zur Strafverfolgung, sondern auch zur Verfolgung von Pflichtverletzungen erlaubt.
Nach Ihrem Gesetzentwurf kann eine solche Überwachung sogar präventiv und damit anlasslos erfolgen. Da lässt wieder Lidl grüßen.
Dieser Wertungswiderspruch ist absurd und nicht erklärlich. Diese wenigen Beispiele zeigen: Ihr Entwurf lässt praktisch alle drängenden Fragen offen; der wesentliche Baustein der innerbetrieblichen Kontrolle findet überhaupt keine Berücksichtigung.
Der grüne Gesetzentwurf dagegen - und jetzt kommen wir zum erfreulichen Teil dieses Morgens -
zielt auf Vollständigkeit, ist sachgerecht,
an den Grundrechten der Beschäftigen ausgerichtet und verliert auch nicht die Interessen der Arbeitgeber aus dem Blick. Jetzt können auch Sie einmal klatschen, Herr Uhl. Wir Grüne sind nämlich der Meinung, die Grundrechte und nichts anderes sollten auch beim Beschäftigtendatenschutz der Maßstab sein.
Damit sind wir gleich beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das selbstverständlich auch im Betrieb gelten muss. In unserem Entwurf werden Massenscreenings untersagt, Videoüberwachungen nur in engsten Grenzen zugelassen und die Aufsicht und Kontrolle gestärkt. In unserem Entwurf ist das heimliche Schnüffeln durch Detekteien grundsätzlich unzulässig. Nur bei rein dienstlich genutzten Kommunikationsmitteln kann bei konkretem Verdacht eine Überprüfung der Verkehrsdaten vorgenommen werden. Wir wollen ein Verbandsklagerecht der Gewerkschaften und Betriebsräte schaffen und damit die innerbetriebliche Kontrolle stärken.
All das sind Punkte, die man in Ihrem Entwurf leider schmerzlich vermisst. Sie müssen dringend nachbessern und sollten hierfür am besten bei unserem Entwurf - dazu erteile ich Ihnen offiziell die Erlaubnis - ordentlich und intensiv abschreiben. Viel Arbeit liegt vor Ihnen.
- Gerne auch ohne Quellenangabe, mir ist die Gewissheit, dass sich das Gesetz verbessert, genug.
Packen Sie die wirklichen Probleme endlich an! Beim nächsten Datenskandal - er kommt so sicher wie das Amen in der Kirche - können Sie sich hinter den dürren Regelungen, die Sie hier heute vorgelegt haben, nicht wegducken.
Ganz herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Frieser von der CDU/CSU-Fraktion.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 94. Sitzung - wird am
Montag, den 28. Februar 2011,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]