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Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident des Deutschen Bundestages,
sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrte Herren Präsidenten des Bundesrates und
des Bundesverfassungsgerichtes,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
sehr geehrte Frau Präsidentin Bergmann-Pohl,
meine lieben Freunde und Mitstreiter aus der ersten frei gewählten Volkskammer,
verehrte Gäste,
wir von der Volkskammer haben heute Geburtstag und ich freue mich, dass wir dies feiern, und ich freue mich darüber, wo wir dies feiern und dass so viele Gäste da sind, die uns gratulieren wollen.
Ich betrachte es als große Ehre und Herausforderung, aus gegebenem Anlass zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Niemanden wird es daher überraschen, dass ich an diesem Tag als Anwalt ein Plädoyer halte.
Zwanzig Jahre sind gewöhnlich ein hinreichender Zeitraum, nach dessen Verlauf Dinge klarer werden und das Wesentliche hervortritt.
Darum will ich ein Plädoyer für die Freiheit halten.
Die Freiheit war es, die ohne Zweifel im Zentrum der Ereignisse jener beiden Jahre stand, deren Jubiläen wir gefeiert haben und noch begehen werden.
Vor dem Hintergrund der Veränderungen, die sich in der Sowjetunion vollzogen und die eng mit dem Namen Michael Sergejewitsch Gorbatschow verbunden sind, wurde schon die Vorbereitung der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 zum Anlass, um von den Herrschenden in der DDR zu verlangen, formal verbürgte Rechte nun endlich auch zu gewähren.
Mehr noch die offenkundigen Fälschungen der Wahlergebnisse wurden zu einer Ursache von nun an nicht mehr verstummender Opposition, deren Hauptforderung diejenige nach freien Wahlen gewesen ist.
Es sollte nicht einmal mehr ein Jahr dauern, bis sie erfüllt war.
Bis dahin aber fanden viele dieser Aktivitäten einen Schutzraum unter dem Dach der Kirchen, besonders aber der evangelischen Kirche. Diese wiederum bemühte sich aus eigener Überzeugung aber eben auch mangels einer Alternative, der sich bedrohlich verschlechternden Stimmung im Land eine vernehmbare und konstruktive Stimme zu geben.
Die Kirche war der einzige Ort, an dem es Meinungsvielfalt und Dialog gab, und sie war der Ort, an dem im Rahmen der Synoden eine wirkliche parlamentarische Kultur gepflegt wurde.
So war es denn auch die V. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, die am 19. September 1989 in Eisenach mit einem Beschluss in großer Klarheit die entstandene Lage im Land charakterisierte und unmissverständliche Forderungen aus ihr ableitete.
Es hieß damals u. a., wir brauchen:
Natürlich sind das aus unserer heutigen Sicht reine Selbstverständlichkeiten, von denen wir aber damals scheinbar unendlich weit entfernt gewesen sind.
Spätestens die Reaktion des Parteiorgans „Neues Deutschland“, in der von „großdeutschen Ladenhütern auf der Kirchenversammlung“ die Rede war, machte endgültig deutlich: Das System der DDR war wohl nicht zu reformieren, es war nur noch zu überwinden!
Und dann hielten uns Botschaftsbesetzungen, Grenzöffnungen und immer größer werdende Demonstrationen im eigenen Lande in Atem.
Die wichtigste Forderung war auch hier diejenige nach der Freiheit - Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit.
Zusätzlich brachten die Demonstranten vermutlich unwillkürlich ein Gedicht Ferdinand Freiligraths wieder in Erinnerung, das er im tragischen Jahr 1848 geschrieben hatte und in dessen letzter Strophe es heißt:
Nur, was zerfällt, vertretet ihr!
Seid Kasten nur, trotz alledem!
Wir sind das Volk, die Menschheit wir,
sind ewig drum, trotz alledem!
Ein Volk wurde sich seiner selbst bewusst, und es hat sich selbst befreit.
Mit dem Fall der Mauer stand fest, dass nichts wieder so sein würde, wie es war.
Keinesfalls sicher war aber, dass die Dinge wirklich weiter einen guten Verlauf nehmen könnten.
Nichts ist in diesem Zusammenhang höher zu schätzen, als die Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit der Menschen auf der Straße.
Aber wir müssen auch immer wieder feststellen, dass eine weitere Ursache für den gewaltlosen Verlauf der Ereignisse dort zu suchen ist, wo die Waffen waren und bei denen, die über ihren Einsatz zu entscheiden hatten. Auch dafür dürfen wir dankbar sein.
Ich halte ein Plädoyer für die Freiheit, denn ich bin überzeugt, wie Christa Wolf es in der Präambel des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches formuliert hat, „daß die Möglichkeit zu selbstbestimmtem verantwortlichen Handeln höchste Freiheit ist“.
Dieser Weg aus der bloßen Befreiung zu wirklicher Freiheit in diesem Sinne, führte uns über den Runden Tisch direkt zu den Wahlen, deren Jubiläum wir heute begehen.
Wir lebten in Tagen, die geprägt waren durch diesen merkwürdigen Rausch der Begeisterung an der Veränderung und zum Glück auch durch eine tiefe Sehnsucht nach neuen, demokratischen, legitimierten Ordnungen.
Gerade darum verfiel die Autorität der Modrow-Regierung.
Aber auch der Runde Tisch konnte diese Sehnsucht nicht erfüllen. Ich sage das bewusst im Hinblick auf die immer wieder aufscheinende Verklärung dieses Gremiums.
Der Runde Tisch wurde mit überbordenden Hoffnungen bedacht. Joachim Gauck hat dies vor gut 10 Jahren, am 9. November 1999, in diesem Hause auf den Punkt gebracht, als er sagte: „Wir träumten das Paradies und wach geworden sind wir in Nordrhein-Westfalen.“
Andere erhofften sich gar himmlische Gerechtigkeit und waren enttäuscht, nur den irdischen Rechtsstaat zu erhalten.
Ich als nüchterner Jurist erhoffte mir nicht mehr, aber auch nicht weniger als eben diesen Rechtsstaat.
Der Runde Tisch hat seinen Auftrag, die Übergangszeit zu moderieren und freie Wahlen vorzubereiten, vollständig und vorbildlich erfüllt, mehr aber konnte er nicht leisten.
Niemals hätte er ein frei und demokratisch gewähltes Parlament auf Dauer ersetzen können.
In dieser Situation war es darum folgerichtig, die ursprünglich für den 6. Mai angesetzten Volkskammerwahlen auf den 18. März vorzuziehen.
Unser Teil Deutschlands brauchte nichts dringender als eine wirkliche Volksvertretung.
Wir brauchten eine Form in der selbstbestimmtes und verantwortliches Handeln zustande gebracht werden konnte.
Machen wir es uns an dieser Stelle ruhig noch einmal klar: Wer in der DDR lebte und 1932 als Zwanzigjähriger an den Novemberwahlen zum Reichstag teilgenommen hatte, musste mindestens 77 Jahre alt geworden sein, um nun wieder frei zu wählen. Die Menschen meiner Generation hatten noch niemals demokratisch gewählt.
Das ist zweifellos einer der Gründe, warum diese Wahl die Menschen elektrisiert hat. Ich kenne niemanden, der in diesen Tagen nicht als Wahlkämpfer, als Kandidat, als Demonstrant oder in irgendeiner anderen Weise in das Geschehen eingegriffen, oder es doch zumindest in höchster Spannung verfolgt hätte.
Nur so konnte aus der Wahl ein Parlament hervorgehen, das einen wirklichen Querschnitt des Volkes repräsentierte. Es gab in ihm
Krankenschwestern und Ärzte,
Lehrer und Professoren,
Arbeiter und Ingenieure,
Landwirte und Tierärzte,
Handwerker und Gewerbetreibende.
Der einzige Berufsstand, der leicht überrepräsentiert gewesen ist, war derjenige der evangelischen Pastoren. Aber selbst das hatte letztlich gute Gründe, auf die ich im Zusammenhang mit der Rolle der Kirchen in der DDR hingewiesen hatte.
Nur so konnte mit 93,4% eine Wahlbeteiligung in die Geschichtsbücher geschrieben werden, mit der wir wohl noch lange einen einsamen Rekord halten dürften.
Nur so konnte sich am 5. April 1990 ein Parlament konstituieren, in dessen Mehrheitsverhältnissen auch schon ein unmissverständliches Plebiszit zur Deutschen Einheit ausgesprochen wurde.
Das bedeutete zwangsläufig, dass dieses Parlament vom ersten Tag seines Bestehens daran arbeitete, sich selbst abzuschaffen.
Ein historisch wohl einmaliger Auftrag und Vorgang.
Es war wesentlich, dass diese Volkskammer sofort allen unseren Nachbarn gegenüber deutlich gemacht hat, die Veränderungen in der DDR und selbst die Wiedererlangung der Einheit Deutschlands sind keinerlei Grund zur Sorge.
Sie hat sich sofort und aus freiem Willen zur Gesamtheit der deutschen Geschichte bekannt,
sie hat sich vor den Opfern verneigt,
sie hat den polnischen Nachbarn sichere Grenzen garantiert
und hat für die Mitwirkung der DDR an der Niederschlagung des Prager Frühlings um Vergebung gebeten.
Sie hat all das getan noch bevor sie eine neue Regierung wählte, denn die nun beginnende Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges sollte eine Zeit der Versöhnung, des Friedens und der Gemeinschaft werden.
Dieses Bekenntnis steht einzigartig am Anfang der Arbeit unserer demokratischen Volkskammer. Alles andere schloss sich diesem Bekenntnis an, folgte gleichsam aus ihm.
Zunächst wurde eine Regierung gewählt, die den größten möglichen Konsens aufrichtig suchte.
Außerdem brauchten wir die große Koalition natürlich auch, um die zur Verfassungsänderung notwendige Mehrheit zu sichern.
Und dann begann bereits eine Mammutaufgabe, durch deren Bewältigung die Volkskammer in dem halben Jahr ihres Bestehens zu einem der fleißigsten Parlamente der deutschen Geschichte wurde.
Neben den 96 Gesetzen wurden drei große Staatsverträge verabschiedet, die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, der Einigungsvertrag und der 2+4-Vertrag.
Alles also, was man heute so gern historisch nennt, das hatten wir in jenen Wochen beinahe täglich zur Aufgabe.
Auf diesem Wege wurde der Föderalismus wiederhergestellt. Uralte Landschaften tauchten in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt wieder auf und werden, als wären sie in einen Jungbrunnen gefallen, weiterhin die Neuen Länder genannt. Die Sachsen nannten sich stolz gleich wieder Freistaat Sachsen. Zur besseren Unterscheidung, so als ob man sie nicht auch an ihrer Sprache erkennen könnte.
Die kommunale Selbstverwaltung, als eines der wichtigsten Ergebnisse der preußischen Reformen durch Stein und Hardenberg, wurde wieder eingeführt und mit der Kommunalwahl vom 6. Mai 1990 auch lebendige Wirklichkeit.
Die Gewaltenteilung und der Rechtsstaat wurden wieder instand gesetzt.
Durch diese Aufzählung schon wird deutlich, dass die Zeit der Neugestaltung in der DDR viel reicher ist als es die geschichtsfremde Verkürzung auf die Einführung der D-Mark und die Friktionen, die naturgemäß in allen Bereichen des Lebens entstanden, glauben macht.
Viel mehr als alles, was wir ohne Zweifel auch erhalten haben, hat uns Menschen in der DDR geprägt, was wir in jenen Tagen und Wochen selbst schufen.
Wir müssen es uns und allen anderen immer wieder sagen: Die DDR ist nicht zuletzt darum zusammengebrochen, weil eine immer größer werdende Zahl von Menschen es vorgezogen hat, ihr gesamtes bisheriges Leben, ihren gesamten Besitz, ihre Freunde, ihre Arbeit, die vermeintliche soziale Sicherheit aufzugeben, um woanders in Freiheit ganz neu anzufangen. Auch darum halte ich dieses Plädoyer für die Freiheit und bin überzeugt, dass wir jedem einzelnen dieser Menschen bis heute dankbar sein müssen. Ich sage das durchaus in dem Bewusstsein, dass bei mir damals das Bedauern, ja die Trauer über das Ausmaß der Ausreisewellen überwog. Ich habe das immer als einen Verlust empfunden und selbstzu jenen gehört, die ganz absichtsvoll in der DDR geblieben sind, um sie zu verändern.
Und deswegen war ich über das Honecker-Wort so empört, dass er denen, die da gingen, keine Träne hinterher weine.
Es war aber dieser gemeinsame Freiheitswille der Menschen, eines ganzen Volkes, sowohl derjenigen, die gingen, und auch derjenigen, die blieben, der die Entwicklungen 1989 auslöste und in der Folge für ihren immer stürmischeren Verlauf sorgte.
Der Weg zur Einheit in Freiheit war aber in jedem Augenblick beides, er war eine großartige Tat aber genauso ein wunderbares Geschenk.
Die Einheit war unsere eigene Leistung und doch etwas, das wir nicht ganz uns selbst zu verdanken haben.
Wir haben die Geschwindigkeit der Entwicklung, die Eigendynamik nicht vorausgesehen, aber wir haben mit ihr Schritt gehalten und wir haben in ihr bestanden.
Es scheint dennoch manchmal so, als wäre das alles nur eine Episode gewesen.
Manchmal wurde die Volkskammer sogar ein wenig herablassend als Laienspieltruppe verspottet.
Das wird ihr aber nur insofern gerecht, als im Laienspiel eine wirkliche und kreative Kunst und Fähigkeit zur Improvisation zu beobachten ist.
Ich will Ihnen dafür ein Beispiel erzählen:Am Morgen der Wahl des Ministerpräsidenten bin ich zur Präsidentin gegangen und habe sie gefragt, worauf, im Falle das ich gewählt würde, sie denn die Absicht hätte mich zu vereidigen, doch wohl nicht auf die alte sozialistische Verfassung?
Wir haben dann kurzerhand die Tagesordnung geändert und einen an die Verfassung desRunden Tisches angelehnten Eid beschlossen, den ich dann nach glücklicher Wahl bedenkenlos sprechen und auch religiös beteuern konnte.
Derartige Situationen gab es viele.
Manches wirkte dadurch bestimmt nicht professionell, aber es war authentisch und ehrlich.
Authentizität und Ehrlichkeit finden ihren Ausdruck immer darin, dass jeder einzelne Abgeordnete allein seinem Gewissen verantwortlich integer darauf achten muss, Vertreter des ganzen Volkes zu sein und das Wohl der Gemeinschaft jedem anderen Interesse vorzuordnen.
So konnte es häufig geschehen, dass auch weit über Fraktions- und Parteigrenzen hinaus Beschlüsse gefasst wurden.
Auch damals wussten wir bereits, dass die Größe der Aufgabe bedrückend war, und dennoch sind fast alle sie mit größtem Optimismus, sogar mit Freude angegangen. Wenn ich an diesem Tag einen Wunsch äußern darf, dann erhoffe ich mir genau das auch heute!
Ich bin unverändert davon überzeugt, dass sich diese Haltung den Menschen auch vermittelt hat.
Die bis in die Gegenwart hinein unerreichten und vielleicht auch kaum wieder zu erreichenden Einschaltquoten für die Fernsehübertragungen der Sitzungen sprechen jedenfalls dafür.
Das Volk hat seinem Parlament vertraut und größte Erwartungen in sein Handeln gesetzt. So wurde diese Volkskammer auch noch ein später Triumph über die Demagogie der DDR, in der alles nach dem Volk benannt war, aber nichts mehr mit der Wirklichkeit des Volkes zu tun hatte.
Diese Volkskammer war des Volkes Kammer. Nur sie konnte durch ihren Beitrittsbeschluss das ganze Deutschland herstellen.
Das Wirken dieser Volkskammer hat aber das ganze Deutschland nicht nur geschaffen, es hat die bisherige Bundesrepublik auch tiefgreifend verändert. Die Veränderung dauert unvermindert an.
Das ist auch ganz konsequent, wenn man auf das Selbstverständnis der alten Bundesrepublik blickt, wie es sich beispielsweise in der Präambel des Grundgesetzes ausgedrückt hat. Das gesamte deutsche Volk blieb demnach aufgefordert, die Einheit und Freiheit Deutschland zu vollenden.
Bis dahin aber wurde durch das Grundgesetz „auch für jene gehandelt, denen mitzuwirken versagt war“. Mit der Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 wurde genau diese Mitwirkung der Deutschen in der DDR wieder möglich. Noch bevor es also konkret um die Frage des Beitritts nach Artikel 23 des Grundgesetzes ging, in dessen Rahmen die Wiedervereinigung am 23. August 1990 beschlossen und am 3. Oktober vollzogen wurde, behob das Volk in der DDR den im Grundgesetz scheinbar als Mangel benannten Zustand.
Zum Glück haben wir außerdem nicht allein gehandelt. Es gab auch im anderen Teil Deutschlands und es gab in der Welt Menschen, die die Bedeutung und Tragweite der Ereignisse erkannten und den Freiheitswillen in unserem Land und in Europa beförderten. Zwei von ihnen will ich nennen: Das ist zum einen Helmut Kohl, der mit einer beispiellosen auch persönlichen Anstrengung die Wiedererlangung der Einheit zu seiner Sache gemacht hat, und es ist George Bush, der von ersten Augenblick an keinen Zweifel aufkommen ließ, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker ganz selbstverständlich auch für uns Deutsche gilt.
Unser Volk, unser Land konnte nun aufhören, um sich selbst und um die offene deutsche Frage zu kreisen, und es konnte sich mit Ernst und Hingabe dem anderen großen Ziel widmen, nämlich „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Wir können und müssen nun um so mehr Motor der Einheit Europas und Garant des Friedens in der Welt sein, weil wir die eigene Einheit friedlich und in Gemeinschaft mit unseren Nachbarn gefunden haben, und sie eben auch ihnen verdanken.
Vor allem aber müssen wir diese Arbeit in wirklicher Weise als einen Sinn stiftenden Dienst unseres Landes begreifen. Damit verwirklichen wir etwas nach außen, was im Inneren den entscheidenden Gehalt der Demokratie ausmacht.
Demokratie ist nämlich viel weniger eine bloße Staatsform, als ein wirklicher Dienst aller an der Gemeinschaft und für das Gemeinwohl.
Demokratie verlangt also mehr als jede andere Herrschaftsweise Aktivität und die Mitwirkung aller.
Ähnliches gilt für die soziale Marktwirtschaft, die mehr ist als eine bloße Wirtschaftsordnung.
Sie verlangt und fördert das Verantwortungsgefühl aller Bürger. Sie stellt den Gemeinnutz vor den Eigennutz und ruft das Eigentum in den Dienst der Gemeinschaft, ohne die es eben auch nicht zu garantieren ist, wie wir gerade in den vergangenen Monaten eindrucksvoll sehen konnten.
In einer gewissen Weise könnte man sogar sagen, es kommt darauf an in unserem Land und in Europa Teilung durch Teilnahme zu überwinden.
Teilnahme bedeutet dabei nicht zuerst, dass jeder etwas bekommt, sondern dass alle etwas beitragen können und mitwirken sollen.
Ich beobachte mit wachsender Sorge eine zunehmende Geringschätzung dieser Rechte, die doch nicht weniger sind als das Fundament unserer Freiheit.
Demokratie gewinnt ihre Authentizität und ihre Kraft allein in der Haltung der Bürgerinnen und Bürger.
Im Umbruch der Jahre 1989/1990 sind die Menschen in der DDR sichtbar und stolz zu Bürgern geworden.
Sie konnten daher Eigenschaften entfalten, die sie bis dahin nicht zeigen durften.
Nicht erst im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft 2006 wurde das erste Mal ein Meer von Schwarz-Rot-Goldenen Fahnen sichtbar, sondern bereits auf den Montagsdemonstrationen und den großen Wahlkundgebungen 1989/90. Auch hier schon zeigte sich ein friedliches, ein zuversichtliches und ein trotz aller Unsicherheiten fröhliches Volk.
Dieser Bürgersinn ist es, der uns Gemeinschaft mit anderen Völkern finden lässt. Wir leben in der Gemeinschaft der Völker, die die Rechte ihrer Bürger garantieren, Frieden und Wohlstand suchen und in Freiheit leben wollen.
Der Kontinent, auf dem wir leben, wird nach meiner Überzeugung dann eine gute Zukunft haben, wenn er in diesen Werten, der Gerechtigkeit, der Demokratie, dem Frieden und der Freiheit die Mitte sucht und die Einheit, die nach dem II. Weltkrieg verloren gegangen waren. Unsere Welt war in Ost und West zerfallen, aber sie hatte keine Mitte mehr.
Wir werden dann eine gute Zukunft haben, wenn wir in jedem Augenblick begreifen: Die Geschichte ist nicht einfach ein rätselhaftes Schicksal, das die Völker heimsucht.
Geschichte ist vor allem auch ganz schlicht das, was Menschen tun. Dabei bin ich aber sicher, dass man auf Menschen am wenigsten durch die Forderungen wirkt, die man aneinander stellt, als vielmehr durch das Beispiel, das wir einander geben. Die Haltung eines die Freiheit liebenden, demokratischen Bürgers kann niemand einfordern, die muss vorgelebt werden. Diese Aufgabe stellt sich den Regierenden wie den Regierten, und sie stellt sich jeder Generation neu.
Darum kann ich Ihnen am Ende meiner Rede nicht mehr sagen als: Ich werde solange ich lebe zu jeder freien Wahl gehen!
Und ich werde mich dabei stets an das erste Mal erinnern. An den 18. März 1990, die Wahl zur ersten freien Volkskammer, der ich die Ehre hatte anzugehören und der ich gerne gedient habe.
Danke