"Es werden mehr Schulden als nötig gemacht"

Carsten Schneider (SPD)

Der Bund macht 2011 mehr Schulden als nötig. Dies wirft der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, der Regierung in einem am Montag, 29. November 2010, erschienenen Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" vor. Trotz der am 26. November vom Bundestag beschlossenen Senkung der Neuverschuldung von 57,5 auf 48,4 Milliarden Euro sieht der SPD-Haushaltsexperte noch weitere Sparmöglichkeiten: "Mit unseren Vorschlägen wäre eine Nettokreditaufnahme von 42 Milliarden Euro ausreichend", betont er. Das Interview im Wortlaut:


Herr Schneider, der Bundestag hat am vergangenen Freitag den Haushalt 2011 verabschiedet. Es ist gelungen, die Neuverschuldung von 57,5 Milliarden Euro auf 48,4 Milliarden Euro zu senken. Ist das nicht ein schöner Erfolg?

Es ist zumindest ein Erfolg der Bevölkerung Deutschlands, da diese dafür gesorgt hat, dass in den letzten Jahren keine Panik ausgebrochen ist. Auch die Konjunkturprogramme der Großen Koalition zeigen jetzt ihre Wirkung. Es ist jedoch auch klar, dass die jetzige Regierung an diesen Erfolgen nur einen geringen Anteil hat. Der Rückgang der Neuverschuldung berücksichtigt diese konjunkturellen Verbesserungen nicht. Es werden also mehr Schulden als nötig gemacht

Wie hoch hätte die Neuverschuldung sein können?

Mit unseren Vorschlägen wäre eine Nettokreditaufnahme von 42 Milliarden Euro ausreichend. Dabei ist schon berücksichtigt, dass wir Teile des Sparpakets zurücknehmen würden, und zwar in den Bereichen, die einzig die sozial Benachteiligten treffen. Auch die Städtebauförderung und das CO2-Gebäudesanierungsprogramm könnten wir dabei von Kürzungen ausnehmen.

Wie wollen Sie das finanzieren?

Wir haben vier Gegenfinanzierungsmaßnahmen aufgestellt. Ansatzpunkt ist, dass die Finanzkrise, die auch eine Staatsfinanzierungkrise geworden ist, nicht von den Arbeitslosen verursacht wurde. Verursacher waren Vermögende, die hohe Risiken eingegangen sind. Deshalb müssen sie auch einen höheren Teil zur Konsolidierung beitragen. Wir schlagen deshalb erstens eine moderate Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent vor. Diese soll erst ab einem Jahreseinkommen von 100.000 Euro greifen, also nicht die Mittelschicht belasten. Zweitens sollen die Steuervergünstigungen für Hoteliers zurückgenommen werden. Drittens schlagen wir die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde in allen Branchen vor. Daraus ergeben sich Mehreinnahmen durch höhere Steuern und Minderausgaben unter anderem für Aufstocker im ersten Jahr der Einführung in der Summe von rund 3,5 Milliarden Euro allein für den Bund. Viertens wollen wir wie der Bundesrechnungshof die Steuerverwaltung optimieren, was nach unseren Berechnungen in einem ersten Schritt 3,7 Milliarden Euro bringen würde. Auch bei der Erbschaftsteuer ist noch Luft nach oben.

Sie gehen also davon aus, dass, wären Sie an der Regierung, die Neuverschuldung geringer ausfallen würde? Zudem halten Sie das Sparpaket für sozial unausgewogen.

Es ist ökonomisch kurzsichtig und unausgewogen in dem Sinne, dass die Sparmaßnahmen die sozial Schwächsten treffen und sich ansonsten über Steuererhöhung auf Tabak und Flugtickets finanziert. Konkret werden die Kürzungen nur bei den Arbeitslosen. Das bringt mich zum Ausgangspunkt zurück: Das Sparpaket ist nur wegen der Finanzkrise notwendig geworden, doch diejenigen, die die Krise zu verantworten haben, werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil, ihre Verluste sind sozialisiert worden. Deswegen sind wir der Meinung, dass die Vermögenden dieses Landes einen Beitrag leisten müssen. Bisher leisten sie jedenfalls keinen Beitrag. Das sieht die Union übrigens ähnlich, sie konnte sich nur nicht gegen die FDP durchsetzen.

Mit welchen Maßnahmen wollen Sie die weltweit agierenden Banken in die Pflicht nehmen?

Da die Beteiligung der Banken am Rettungsfonds während der Großen Koalition im Jahr 2008 am Widerstand der CDU scheiterte, können wir es nur noch mit der Einführung einer Finanztransaktionsteuer erreichen. Das hat Herr Schäuble auch in seinen Haushalt ab 2012 eingeplant. Ich bin gespannt, ob er sich europäisch durchsetzen kann und ob er überhaupt dafür kämpft.

Wegen der im Grundgesetz vorgeschriebenen Schuldenbremse muss gespart werden. Sehen Sie die Regierungskoalition grundsätzlich auf dem richtigen Weg?

In den Reden ja, im Handeln nein. Wir sind im ersten Jahr der Anwendung der Schuldenbremse, und der Umgang mit diesem neuen Mechanismus ist entscheidend für die Akzeptanz in der Bevölkerung, aber auch im Parlament. "Wie ist die aktuelle Lage?" ist die entscheidende Frage für die Berechnung des strukturellen Defizits, also: Wie viele Schulden darf der Staat machen, und wie schnell muss es wieder abgebaut werden? Herr Schäuble fragt aber nicht, wo wir heute stehen, sondern er stellt fest, wo wir gestern standen, in diesem Falle im Juni. Die Entwicklung ist aber viel besser als die alten Juni-Zahlen nahelegen. Schon jetzt ist absehbar, dass sich die Haushaltssituation im zweiten Halbjahr dieses Jahres nochmals erheblich verbessert hat. Dass die aktuellen Zahlen nicht zugrundegelegt werden, ist eine politische Entscheidung. Wären diese die Grundlage, müsste das Defizit schneller zurückgeführt werden. Da wird im Finanzministerium bewusst getrickst, um im Wahljahr 2013 zusätzlich Luft für Wahlgeschenke zu haben. Auch wird ein falsches Berechnungssystem angewendet, um konjunkturelle Schwankungen in Deutschland darzustellen. Nach meinen Berechnungen verschafft sich Herr Schäuble so 40 Milliarden Euro zusätzliche Kreditaufnahme, nur weil er mit veralteten Zahlen rechnet.

Welche Maßnahmen würden Sie umsetzen, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten?

Die FDP hat immer gesagt: Der Staat hat ein Ausgabenproblem. Ich meine, der Staat hat vor allem ein Einnahmenproblem, gerade wenn man sich die steigenden Anforderungen an den Staat ansieht. Die SPD würde diejenigen, die über 100.000 Euro im Jahr verdienen, höher besteuern, um dem Staat seine Aufgaben im Bereich Forschung, Bildung und soziale Sicherheit finanzieren zu können. Insbesondere im Bereich Steuervollzug muss einiges getan werden. Wir haben zwar überall in Deutschland gleiches Recht, doch es wird nicht gleich angewandt. Die Gefahr einer Steuerprüfung ist in den einzelnen Bundesländern doch recht unterschiedlich verteilt. Das ist nicht hinnehmbar. Wenn man eine Akzeptanz von Recht und dem Rechtsstaat an sich haben will, muss er auch überall gleich durchgesetzt werden.

Die Länder verschaffen sich also einen Standortvorteil?

Das wird Ihnen kein Finanzminister eines Landes sagen, aber das ist doch stark zu vermuten. Es ist aber auch ein Anreizproblem. Die Bundesländer können nur einen geringen Teil der Mehreinnahmen aus Steuerprüfungen selbst verbuchen, der Rest geht an den Bund und in den Länderfinanzausgleich. In der Konsequenz läuft es darauf hinaus, dass der Bund die Hoheit über diese Aufgabe übernehmen muss.

Weg von den Ländern, hin zu Europa: Wie kann ein deutscher Haushaltspolitiker auf Krisen in Europa, wie kürzlich Griechenland und jetzt Irland, reagieren?

Die einzige Chance ist, die Probleme frühestmöglich zu erkennen und schnellstmöglich und klug zu handeln. Die Finanzkrise hat uns überrascht, die Griechenlandkrise eigentlich nicht. Auch die Probleme in Irland waren bekannt. Die Griechenlandkrise hat die Regierung wegen der damaligen Wahl in Nordrhein-Westfalen selbst verschleppt. Das hat zu einer Verschärfung der Situation und für uns Parlamentarier zu dem furchtbaren Druck geführt, in einer Woche entscheiden zu müssen. Das war eine Selbstverstümmelung des Parlaments. Da muss man sich nicht wundern, wenn man von der Bevölkerung nicht mehr ernst genommen wird, weil man sich selbst nicht mehr ernst nimmt. Meine Position dazu ist sehr nah beim Bundestagspräsidenten Nobert Lammert, der wiederholt das Verfahren, zuletz  bei der Atomdebatte, kritisiert hat. Er hat recht. Die SPD-Fraktion hat damals gegen meine Empfehlung einer Fristverkürzung zugestimmt. Ich meine aber, eine Woche mehr Beratung hätte da nicht geschadet.

(mik, rov)