Navigationspfad: Startseite > Presse > Pressemitteilungen > 2010 > 03.10.2010
Vorabmeldung zu einem Interview in der
nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 04. Oktober
2010)
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung
-
Die Grünen wollen die Gesundheitsreform der Bundesregierung zum Thema in den anstehenden Landtagswahlkämpfen zu machen. Man werde es „den Schwarzen und den Gelben schwer machen, mit diesem Ausstieg aus der Solidarität durchzukommen“, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Birgitt Bender, im Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. „Die Leute wissen, was da auf sie zukommt mit der immer größer werdenden Kopfpauschale.“
Ihre Fraktion werde demnächst ein durchgerechnetes Konzept einer Bürgerversicherung vorlegen, kündigte die Grünen-Gesundheitsexpertin an. Dabei sollten weitere Einkommen in die Finanzierung des Gesundheitswesen einbezogen und die privaten Kassen dazu gezwungen werden, sich am Finanzausgleich mit den gesetzlichen Kassen zu beteiligen. „Das würde bedeuten, einen einheitlichen Versicherungsmarkt zu haben, gleiche Spielregeln für alle. Dann können die privaten Kassen zeigen, wie sie in diesem Wettbewerb bestehen.“ Privat Versicherte müssten innerhalb einer Übergangsfrist Teil des Solidarsystems werden.
Bender schließt nicht aus, dass das Modell der Bürgerversicherung für gut verdienende Singles Kostensteigerungen mit sich bringen wird. „Dafür werden aber Menschen mit Kindern und viele Rentner entlastet.“ Sie sagte weiter, bei der Reform des Gesundheitswesens gehe es vor allem um die bessere Organisation von Leistungen und eine bessere Vernetzung aller Beteiligten.
Das Interview im Wortlaut:
Frau Bender, in der Debatte zur Finanzierung der
Gesetzlichen Krankenversicherung am vergangenen Donnerstag wurde
das Reformwerk als „Murks hoch drei“ und Angriff auf
die Solidarität bezeichnet. Teilen Sie das harsche
Urteil?
Ja, das kann man durchaus so nennen. Das
Gesetz ist sozial ungerecht, weil es die Kostensteigerungen
einseitig auf die Versicherten verschiebt. Es ist aber in der Tat
auch Murks, weil es den vom Minister selbst gestellten
Ansprüchen in keiner Weise gerecht wird.
Was heißt das?
Philip Rösler
hatte versprochen, dass das Gesundheitswesen gerechter, aber nicht
teurer werden würde. Nun wird es teurer und durch die
einseitige Belastung der Versicherten nicht gerechter. Es wird
außerdem bürokratischer, weil der versprochene soziale
Ausgleich von den Arbeitgebern durchgeführt wird. Von einem
automatisierten Ausgleich und einer Finanzierung aus Steuermitteln
kann keine Rede sein.
Warum nicht? Der Minister sagt doch, die Kosten für
den Sozialausgleich würden aus Steuergeldern finanziert.
Werden damit nicht alle Bürger gleichermaßen zur
Finanzierung der GKV herangezogen?
Im Prinzip ja.
Aber tatsächlich wird bis zum Jahr 2014 der Sozialausgleich
aus dem Gesundheitsfonds bezahlt – und der besteht zu 90
Prozent aus Beitragsmitteln. Und ob es ab 2015 zu einer
ausreichenden Finanzierung über den Bundeshaushalt kommt,
steht in den Sternen. Da gibt es bisher nur wolkige
Absichtserklärungen.
Wie konnte das riesige Defizit bei den gesetzlichen
Kassen eigentlich entstehen?
Das hat natürlich
mit Kostensteigerungen zu tun, namentlich mit den Arzneimitteln,
aber auch mit gewollten Honorarsteigerungen für die Ärzte
und sicher auch damit, dass unser Gesundheitswesen noch nicht
hinreichend vernetzt arbeitet. Dadurch wird das Geld zuweilen an
der falschen Stelle oder doppelt ausgegeben.
Fakt ist aber, dass die GKV vor einem Milliardendefizit
steht und gehandelt werden muss. Was müsste ihrer Ansicht nach
getan werden?
Man müsste zum einen auf der
Leistungsseite dafür sorgen, dass wirklich alle ihren Beitrag
leisten – auch die Pharmaindustrie. Hier ist das Vorgehen der
Regierung zu halbherzig. Und man muss für neue Einnahmen
sorgen, indem auch Beiträge auf Kapitalerträge und
Mieteinnahmen erhoben und nicht immer nur die Löhne und
Gehälter herangezogen werden.
Wie genau würden Sie die Lobbygruppen belasten,
damit zusätzliches Geld ins System
fließt?
Der Minister hatte mit großer
Geste davon gesprochen, das Preismonopol der Pharmaindustrie
brechen zu wollen. Nur tut er das leider halbherzig: Man
müsste mit einer Kosten-Nutzen-Bewertung dafür sorgen,
dass die Pharmaindustrie neue, gute Arzneimittel zu fairen Preisen
auf den Markt bringt und das Solidarsystem nicht mit Mondpreisen
belastet.
Wer müsste festlegen, ob die Preise fair
sind?
Das muss eine unabhängige Institution wie
der Gemeinsame Bundesausschuss tun. Der verfügt mit dem
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen über eine Einrichtung, die zuverlässige
Kosten-Nutzen-Bewertungen für Arzneimittel durchführen
kann. Doch in diese will die Regierung künftig hineinpfuschen.
Sie will die Kriterien für diese Bewertungen künftig
selber festlegen. Wozu das gut sein soll, haben Koalitionspolitiker
schon öffentlich ausgeplaudert, Die
Qualitätsmaßstäbe, die an neue Arzneimittel
angelegt werden, sollen so weich sein, dass sie die
Geschäftstätigkeit der Pharmaindustrie nicht allzu sehr
stören.
Die Erhöhung des Beitragssatzes auf 15,5 Prozent
wird damit begründet, dass man damit lediglich zum alten Satz
zurückkehre. War damit nicht zu rechnen?
Ja, man
muss sagen, dass die Beitragssenkung kurz vor der Bundestagswahl
von der damaligen Regierung sicherlich auch wahltaktische
Gründe hatte.
Sie sprachen von der Notwendigkeit einer besseren
Vernetzung im Gesundheitswesen. Wo sollte man dafür
ansetzen?
Man müsste mehr Zusammenarbeit
zwischen Ärzten, Pflegekräften, anderen
Gesundheitsberufen wie Physiotherapeuten und den
Krankenhäusern organisieren, sodass es abgestimmte
Behandlungsketten gibt und Patienten nicht von einem zum anderen
geschickt werden und Untersuchungen immer wieder neu gemacht
werden.
Das sind im Grunde simple Ideen. Woran scheitern die
bislang?
An alten Gewohnheiten und vielen
Pfründen, die an diesen Gewohnheiten
hängen.
Also glauben Sie, dass im Gesundheitswesen der Vorwurf
der Klientelpolitik angemessen ist?
Es ist so, dass
die private Krankenversicherung noch Geschenke bekommt. Den gut
verdienenden Angestellten wird es wieder leichter gemacht, die
Solidargemeinschaft zu verlassen. Sie profitiert von der
Arzneimittelbewertung, ohne gleichzeitig selber Kranke aufzunehmen
und sich am Finanzausgleich der GKV zu beteiligen. Ärzte und
Apotheker werden nur wenig in die Pflicht genommen,
Krankenhäuser hingegen viel stärker. Die Pharmalobby hat
sich zum Teil bis in die Textvorschläge durchgesetzt.
Die Grünen wollen ein Modell der
Bürgerversicherung. Wie würde das konkret
aussehen?
Wir würden dafür sorgen, dass die
Solidarität nicht geschwächt, sondern erweitert wird.
Zunächst mal weitere Einkommen in die Finanzierung einbeziehen
und mit einem Übergang auch dafür sorgen, dass die jetzt
privat Versicherten Teil eines Solidarsystems werden, in dem die
PKVen auch der Kontrahierungspflicht unterliegen und sich am
Finanzausgleich mit den gesetzlichen Kassen beteiligen
müssen.
Läuft das nicht auf eine Gleichmacherei von
gesetzlichen und privaten Kassen hinaus?
Das
würde bedeuten, einen einheitlichen Versicherungsmarkt zu
haben, gleiche Spielregeln für alle. Dann können die
privaten Kassen zeigen, wie sie in diesem Wettbewerb bestehen.
Bislang konnten Sie noch kein klar durchgerechnetes
Konzept vorlegen.
Wir selber warten gerade auf ein
Gutachten, mit dem wir die finanziellen Wirkungen und Be- und
Entlastungen aktuell haben berechnen lassen. Das werden wir
demnächst öffentlich vorstellen.
Können Sie ausschließen, dass mit Ihrem
Modell mittlere Einkommen stärker belastet werden als
bisher?
Es wird zu Mehrbelastungen von gut
verdienenden, alleinstehenden Menschen kommen, die bisher nur ihr
eigenes Risiko in der PKV abgesichert haben. Dafür werden aber
Menschen mit Kindern und viele Rentner entlastet.
Ganz ehrlich: Wird sich der derzeitige Standard der
medizinischen Versorgung überhaupt für alle halten
lassen?
Es geht nicht um das Absenken von Leistungen,
sondern um die bessere Organisation der Leistungen.
Lässt sich das machen, ohne dass es teurer
wird?
Es kann an einzelnen Stellen teurer werden,
dafür wird man an anderen Stellen auch etwas einsparen
können.
Ist auch in der grünen Bürgerversicherung eine
Kombination aus Basismodell und Zusatzversicherungen
denkbar?
Wir sehen als Leistungskatalog in der
Bürgerversicherung den jetzigen Bestand der Leistungen an.
Zusatzversicherungen kann es darüber hinaus auch geben.
Das Interview führte Susanne Kailitz
Birgitt Bender (53) ist gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“, Nr. 40, lesen Sie:
Dr. Rösler bittet zur Kasse – Opposition kritisiert Gesundheitsreformpläne harsch- (Seite 1)
Birgitt Bender, gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Interview: Bürgerversicherung: Private Kassen sollen gezwungen werden, sich am Finanzausgleich mit den gesetzlichen Kassen zu beteiligen. (Seite 2)
20 Jahre Einheit – Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung kommen die Bundestagsfraktionen zu gegensätzlichen Bewertungen des Einheitsprozesses (Seite 3)
Grundsicherung Hartz IV - Kein Alkohol, kein Tabak, dafür Internet – Der Bundestag streitet erbittert über die geplanten Regelsätze (Seite 4)
Altes Recht im eLook: Petitionsausschüsse von Bund und Ländern diskutieren Zukunftstrends (Seite 6)
Aussage gegen Aussage: Ex Staatssekretär und früherer Generalinspekteur widersprechen vor dem Kundus-Untersuchungsausschuss erneut Minister Guttenberg. (Seite 12)
Weitere Themen sind unter anderem: 20 Jahre Neugier – Technologiefolgenabschätzung. Wider die Todesstrafe. Stuttgart 21 – Bund muss blechen.
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