Navigationspfad: Startseite > Presse > Pressemitteilungen > 2010 > 31.10.2010
Vorabmeldung zu einem Interview in der
nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 1. November
2010)
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung
-
Ein neues Recht zur Sicherungsverwahrung soll es bis spätestens Anfang Februar 2011 geben. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Jörg van Essen, bestätigte im Interview mit „Das Parlament“, der Bundestag werde diesem Wunsch des Bundesverfassungsgerichts nachkommen. Eine Anhörung zu dem Gesetzentwurf ist am 10. November geplant.
Im Entwurf ist unter anderem vorgesehen, dass die Sicherungsverwahrung künftig bereits im Urteil angekündigt oder zumindest die Möglichkeit dazu offen gehalten wird. „Die nachträgliche Sicherungsverwahrung hat sich nicht bewährt“, erklärt van Essen. Künftig wisse der Strafgefangene von Anfang an, „worauf er sich einzustellen hat, nämlich dass er unter scharfer Beobachtung steht. Er tut gut daran, die Möglichkeiten in einer Justizvollzugsanstalt zu nutzen, wie etwa Therapien von pädophilen Neigungen – um nur ein Beispiel zu nennen.“
Dabei sprach sich van Essen deutlich für eine Beschränkung der Sicherungsverwahrung auf Sexual- und Gewaltstraftäter aus: „Ich war sehr erstaunt, wie hoch die Zahl der Sicherungsverwahrten ist, die Vermögensdelikte begangen haben und nicht, wie wir glaubten, Sexualstraftaten. Es waren an die hundert. Auch wenn es schmerzlich ist, Opfer eines Vermögensdelikts zu werden – es ist etwas anderes.“ Sein Vorschlag sei daher, „bei Vermögensdelikten auf die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung zu verzichten.“
Er habe großes Verständnis für die Sorgen von Eltern, es könnten Leute freigelassen werden, die weiter gefährlich sind: „Wenn man einmal persönlich – wie ich auch – Eltern die Todesnachricht ihrer Tochter überbringen musste, dann vergisst man das nie.“
Das Interview im Wortlaut:
Nach dem Verbot der nachträglichen
Sicherungsverwahrung durch den Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte: Hat es Sie als ehemaligen Oberstaatsanwalt
nicht irritiert, dass Straftäter entlassen werden mussten, die
nach wie vor als gefährlich galten?
Ich habe
dafür Verständnis, dass insbesondere Eltern große
Sorge haben. Es werden Leute freigelassen, von denen sie das
Gefühl haben, dass sie weiter gefährlich sind. Die
könnten plötzlich in der Nachbarschaft auftauchen. Wenn
man einmal persönlich - wie ich auch - Eltern die
Todesnachricht ihrer Tochter überbringen musste, dann vergisst
man das nie. Teil der Betrachtung ist aber auch, dass wir nach
einem Höhepunkt Mitte der sechziger Jahre kontinuierlich einen
Rückgang von Kindstötungen, insbesondere bei
Sexualdelikten, haben. Das ist eine außerordentlich
erfreuliche Entwicklung. Auf der anderen Seite steht eine
erhebliche Zunahme der Sicherungsverwahrten. Je öfter jedoch
die Regelung angewandt wird, desto kritischer schauen die Gerichte
hin.
Was halten Sie von einer Beschränkung der
Sicherungsverwahrung auf Sexual- und
Gewaltstraftäter?
Eine Menge. Ich war
nämlich sehr erstaunt, wie hoch die Zahl der
Sicherungsverwahrten ist, die Vermögensdelikte begangen haben
und nicht, wie wir glaubten, Sexualstraftaten. Es waren an die
hundert. Auch wenn es schmerzlich ist, Opfer eines
Vermögensdelikts zu werden – es ist etwas anderes.
Deshalb war es auch mein Vorschlag, bei Vermögensdelikten auf
die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung zu verzichten.
In einer Pressemitteilung der CDU/CSU-Fraktion ist die
Rede von „erheblichen Widerständen“ gegen den
Gesetzentwurf. Wieso?
Die CDU/CSU-Fraktion
wünschte eine Regelung, nach der Personen vorbeugend
untergebracht werden können. Genau das aber lässt die
Europäische Menschenrechtskonvention nicht zu. Wie auch einem
Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) zu entnehmen ist. Dort war ein Mafioso in Haft genommen
worden, dem eine konkrete Gefahr für die Allgemeinheit nicht
nachgewiesen werden konnte. Hätten wir uns also auf diese
vorbeugende Maßnahme eingelassen, wären wir sehenden
Auges in die nächste Verurteilung durch den EGMR gerannt.
Mit dem neuen Entwurf soll die Sicherungsverwahrung
entweder bereits im Urteil angekündigt oder wenigstens die
Möglichkeit dazu offen gehalten werden...
Ich
halte diese Entscheidung für richtig. Die nachträgliche
Sicherungsverwahrung hat sich nicht bewährt. Sie ist nur in
ganz wenigen Fällen verhängt worden. Deshalb ist der
jetzige Ansatz, die Möglichkeiten für eine vorbehaltliche
Sicherungsverwahrung zu erweitern, der bessere und richtigere
Ansatz. Der Strafgefangene weiß von Anfang an, worauf er sich
einzustellen hat, nämlich dass er unter scharfer Beobachtung
steht. Er tut gut daran, die Möglichkeiten in einer
Justizvollzugsanstalt zu nutzen, wie etwa Therapien von
pädophilen Neigungen – um nur ein Beispiel zu
nennen.
Besteht nicht die Gefahr, sich als Strafgefangener zehn
Jahre lang gekonnt zu verstellen, um der nachträglichen
Sicherungsverwahrung zu entgehen?
Ja,
Gerichtspsychologen sind schon „hinter die Fichte“
geführt worden. Es ist ein Risiko, was jeder Gutachter
eingeht. Ein entlassener Täter beging vor kurzem erst eine
Vergewaltigung und Entführung – offensichtlich das
typische Beispiel einer Fehlprognose, wie sie auch in Zukunft
leider immer wieder passieren wird. Je länger allerdings die
Strafe desto geringer die Chance, sich dauerhaft zu verstellen.
Könnte das Gesetz zur Therapierung psychisch gestörter Gewalttäter nicht die Tücke haben, dass ein gefährlicher Straftäter nach der Haftentlassung zu einem psychisch Kranken erklärt wird – mit der Folge, dass durch die Hintertür die nachträgliche Sicherungsverwahrung wieder eingeführt wird?
Bei Schuldunfähigen erfolgt ja keine Straf-Verurteilung, lediglich eine Unterbringung. Das bleibt völlig unangetastet und wird auch weiter so funktionieren. Also wer für voll zurechnungsfähig gehalten wird, wird verurteilt. Trotzdem könnten ja Persönlichkeitsstörungen gegeben sein, die nicht das Ausmaß haben, dass jemand schuldunfähig ist. Das wird bei der Frage, jemanden unterzubringen, eine Rolle spielen. Deshalb wird es auch eine entsprechende Begutachtung geben. Der EGMR hat deutlich gemacht, dass die jetzige Praxis der Sicherungsverwahrung nicht akzeptabel ist.
Wie sah diese Praxis aus?
In den
Strafvollzugsanstalten wurden Sonderabteilungen geschaffen, wo
Sicherungsverwahrte größere Freiheiten hatten –
wie eine größere Zelle. Trotzdem hat der EGMR
entschieden, dass das noch zu nah an der Strafe ist, als dass man
sinnvoll von Sicherungsverwahrung sprechen könnte. Deshalb
sind die Länder aufgerufen, die Sicherungsverwahrung neu zu
organisieren, abgegrenzt vom normalen Strafvollzug. Dass das bei
den Ländern nicht auf Begeisterung gestoßen ist, ist
klar. Es wird teuer.
Was geschieht mit Strafgefangenen, die sich weiterhin
jeder Therapie verweigern?
Wir werden nicht
verhindern können, dass manch einer die Therapie verweigert.
Deshalb ist jetzt unter anderem auch für entlassene
Strafgefangene eine elektronische Überwachung und
verstärkte Führungsaufsicht möglich. Da kann und
muss es Auflagen geben. Für pädophile Täter kann das
etwa bedeuten, bestimmte Orte meiden und sich elektronisch
überwachen lassen zu müssen.
Ist Gefährlichkeit eigentlich wirklich vorab zu
diagnostizieren?
Dazu hat man ja Gutachter. In aller
Regel ergibt sich das schon aus dem Vorleben der jeweiligen Person.
Ich selbst war mal mit zwei Tätern befasst, die schon als
Kinder mehrere hundert Straftaten begangen hatten. Bei ihnen als
Jugendliche wurde dann sofort auf schädliche Neigung erkannt.
Nach schwersten Taten dann als Erwachsene ergab sich die Frage der
Sicherungsverwahrung wie von selbst. Gutachter wurden gehört;
es wurde entsprechend entschieden.
Warum geht man davon aus, dass eine Therapie nach der Haft erfolgreicher sein kann, als eine Therapie während der Haft?
Weil sich immer wieder zeigt, dass es manchmal mehrere Anläufe braucht. Bei Drogenkriminalität kann man sicher sein, dass der erste Therapie-Versuch immer ein Fehlschlag wird. Manchmal kann auch das Alter erleichternd hinzukommen – bei Sexualdelikten etwa. Eines aber gilt: Immer wieder auf jemanden zuzugehen und ihm eine Therapie anzubieten, zeichnet den richtigen Weg vor.
Was ist das für ein Verhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichten?
Es gibt immer wieder Ärger zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichten, weil es bei unterschiedlichen Auffassungen keine klärende Instanz gibt. Weil wir die Europäische Menschenrechtskonvention gezeichnet und ratifiziert haben, unterliegen wir ihren Regeln. Dazu gehört auch, dass Urteile des EGMR für uns geltendes Recht sind. Das Bundesverfassungsgericht prüft einen Verstoß gegen die Grundrechte. Das kann durchaus zu unterschiedlichen Entscheidungen führen. Deswegen werden wir auch in Zukunft weiter diesen Dualismus haben.
Bundesverfassungsgerichtspräsident Voßkuhle
wäre dankbar, wenn das neue Recht zur Sicherungsverwahrung bis
spätestens Anfang Februar 2011 beschlossen wäre, wenn
Karlsruhe über entsprechende Fälle urteilt. Was sagen
Sie?
Ich bin sicher, dass wir dem Wunsch des
Präsidenten nachkommen. Der Bundestag kennt die
Problematik.
Das Interview führten Knut Teske, Bernard Bode und Enrico
Dix.
Jörg van Essen (63) ist Erster Parlamentarischer
Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion.
In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ Nr. 44, lesen Sie:
Mit der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“.
Heute: Extremismus