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Wie kaum ein anderes deutsches Bauwerk spiegelt das Reichstagsgebäude die wechselvolle Geschichte Deutschlands seit der Gründung des Kaiserreichs wider. Auch wenn das Haus nur für die kurze Zeit der Weimarer Republik eine Volksvertretung beherbergte, so ist doch das Bauwerk für viele das Symbol deutscher Parlamentsgeschichte schlechthin.
Seit der Gründung des Kaiserreichs im Jahre 1871 gab es ein Parlament für alle Deutschen, den Reichstag, dessen Abgeordnete aus allgemeinen (wahlberechtigt waren bis 1919 allerdings nur Männer), gleichen, geheimen und direkten Wahlen nach dem Mehrheitswahlrecht hervorgingen. Der Name Reichstag leitete sich ab von der gleichnamigen Versammlung der Reichsstände des alten Reiches, die bis 1806 in Regensburg getagt hatte.
Das Parlament des Kaiserreichs versammelte sich zuerst in einem schon vorhandenen Gebäude, dann ab Oktober 1871 in einem als Provisorium errichteten Haus in der Leipziger Straße. Niemand sah allerdings voraus, dass dieser Behelfsbau 23 Jahre lang Parlamentssitz bleiben sollte. Noch im Frühjahr 1871 rief das Parlament eine Reichstagsbaukommission ins Leben, die einen Bauplatz für einen repräsentativen Neubau suchen sollte. Der in Aussicht genommene Ort an der Ostseite des Königsplatzes (des heutigen Platzes der Republik) war jedoch noch mit dem Palais des Grafen Raczynski bebaut, das aufgrund einer komplizierten rechtlichen Situation zunächst nicht erworben werden konnte. Nicht zuletzt deshalb scheiterte ein erster Architektenwettbewerb im Jahre 1872. Zehn Jahre später, als dieser Bauplatz dann doch zur Verfügung stand, endete ein erneuter Wettbewerb mit der Vergabe des ersten Preises an den Architekten Paul Wallot (1841-1912) aus Oppenheim.
Bei der feierlichen Grundsteinlegung am 9. Juni 1884, einem regnerischen Montag, spielten die Vertreter des Parlaments eine untergeordnete Rolle. Der Reichstagspräsident von Levetzow - in der Uniform eines Landwehrmajors der Reserve - und die Vizepräsidenten waren zwar anwesend, durften aber die üblichen drei Hammerschläge erst nach dem Kaiser und den Mitgliedern der kaiserlichen Familie, nach Bismarck, nach den Generalfeldmarschällen und anderen wichtigeren Personen ausführen. In die Vorbereitung des festlichen Aktes waren die Vertreter des Parlaments ohnehin nicht einbezogen worden.
Als nach zehnjähriger Bauzeit am 5. Dezember 1894 der Schlussstein für das Haus gelegt wurde, schwang zwar ein neuer Kaiser, Wilhelm II., den Hammer, am höfischen und vor allem militärischen Charakter des Zeremoniells hatte sich aber nichts geändert. Am Tag danach trat das Parlament zum ersten Mal in seinem neuen Hause zusammen.
Den Mittelpunkt des neuen Baus bildete der reich geschmückte Plenarsaal für 397 Abgeordnete, dessen Wände aus akustischen Gründen ganz mit Holz getäfelt waren. Die Intarsienarbeiten über der "Nein-Tür" und der "Ja-Tür" des Sitzungssaals zeigten Rübezahl und den seine Widder zählenden einäugigen Riesen Polyphem aus der griechischen Sage. Nach dieser Darstellung erhielt das parlamentarische Verfahren, bei unklaren Abstimmungsergebnissen die Abgeordneten beim Durchschreiten der Türen zu zählen, seinen Namen "Hammelsprung".
Über dem Plenarsaal erhob sich die aus Metall und Glas gearbeitete große Kuppel, deren höchster Punkt 75 Meter hoch aufragte. Durch die Glasdecke und die Seitenfenster dieser Kuppel erhielt der Plenarsaal natürliches Licht.
Auch wenn das Parlament des Kaiserreiches nicht in der Lage war, die Regierung wirksam zu kontrollieren, so bildeten sich doch im Laufe der Jahre Strukturen einer Parlamentskultur heraus, auf denen die Weimarer Republik aufbauen konnte. Das Reichstagsgebäude war Schauplatz des Ringens um die Parlamentarisierung des Reiches und erlebte die wachsende Bedeutung der Fraktionen. In den Jahren des Ersten Weltkrieges waren die "Friedensresolution" des Reichstags vom Juli 1917 und die Verfassungsänderung vom Oktober 1918, wonach der Reichskanzler das Vertrauen des Parlaments benötigte, markante Stationen dieser schrittweisen Parlamentarisierung. Während des Krieges erst gab Kaiser Wilhelm II. seinen Widerstand gegen die von Anfang an geplante Inschrift "Dem Deutschen Volke" auf, sodass sie Ende 1916 angebracht werden konnte.
Am Ausgang des verlorenen Weltkrieges stand das Reichstagsgebäude dann erneut im Mittelpunkt des politischen Geschehens: Vor einer unübersehbaren Menge streikender Arbeiter rief am 9. November 1918 der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann, auf einem Balkon an der Westfront des Hauses stehend, die Republik aus und besiegelte damit das Ende der Monarchie. Seine Worte sind nur aus seinen Erinnerungen überliefert: "Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!"
Das erste Parlament der Republik, die verfassungsgebende Nationalversammlung, trat nicht im Reichstagsgebäude, sondern in Weimar, der Stadt der deutschen Klassik, zusammen. Nach der Verabschiedung der Verfassung, im Herbst 1919, kehrte das Parlament, in dem seit Januar auch weibliche Abgeordnete saßen, wieder nach Berlin ins Reichstagsgebäude zurück.
In der Arbeit des Parlaments der Weimarer Republik spiegelten sich die Aufbruchstimmung, die neue Rolle der Parteien und Bewegungen, sehr bald aber auch die außenpolitischen Folgen der Niederlage und die schwierigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Jahre wider.
Durch das neue Verhältniswahlrecht war die Zahl der Volksvertreter nicht mehr auf 397 festgeschrieben, sondern hing direkt von der Wahlbeteiligung ab, sodass sich am Ende der Weimarer Republik über 600 Abgeordnete im Plenarsaal drängten. Doch auch schon im Kaiserreich hatte sich das gesamte Gebäude als zu klein erwiesen; vor allem bot es zu wenig Büros und Arbeitszimmer für den wachsenden Bedarf der Abgeordneten und Fraktionen. In einer zeitgenössischen Publikation über den Reichstag findet sich eine beredte Klage eines fiktiven Abgeordneten über die Zustände im Haus: "Was nützten ihm die herrlichen Malereien an den Wänden, die feingeschnitzten Holzpaneele, die einzig schöne Aussicht auf den Königsplatz (...), wenn er keinen leeren Stuhl fand und keinen freien Arbeitstisch zum ruhigen Lesen und Schreiben?"
1927 und 1929 wurden zwei Wettbewerbe für Erweiterungsbauten auf einem nördlich gelegenen Grundstück ausgeschrieben. Obwohl sich bedeutende Architekten daran beteiligten, kamen keine befriedigenden Ergebnisse zustande. Die sich verschärfende Finanznot gegen Ende der Weimarer Republik verhinderte schließlich jegliche Baumaßnahme.
Das Ende der Nutzung des Reichstagsgebäudes war gleichzeitig auch das Ende der parlamentarischen Demokratie. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933, vier Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, wurde der Plenarsaal durch Brandstiftung zerstört. Die Frage nach der Täterschaft mag zwar bis heute strittig sein - fest steht jedoch, dass die Nationalsozialisten die einzigen Nutznießer des Brandes waren. Sie beschuldigten Kommunisten und Sozialdemokraten der Urheberschaft und nahmen den Brand als Anlass, in derselben Nacht mit massivem Terror gegen die Opposition vorzugehen. Am Tag nach dem Brand unterschrieb Reichspräsident Hindenburg die so genannte Reichstagsbrandverordnung "zum Schutz von Volk und Staat". Paragraph 1 dieser Verordnung setzte die Grundrechte "bis auf weiteres" außer Kraft, Paragraph 5 führte die Todesstrafe für das politische Delikt "Hochverrat" ein.
Der Reichstag kam nie wieder im Reichstagsgebäude zusammen, sondern traf sich von nun an in der Kroll-Oper auf der anderen Seite des Platzes. Dort nahm der neue Reichstag gegen die Stimmen der SPD am 23. März 1933 das so genannte Ermächtigungsgesetz an, offiziell "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" genannt. Damit entmachtete das Parlament sich selbst und gab Hitler diktatorische Vollmachten. Innerhalb weniger Monate wurde auf der Basis dieses Gesetzes das gesamte politische System der Republik "gleichgeschaltet", im Juli 1933 waren alle Parteien außer der NSDAP verboten.Von nun an saßen in der Kroll-Oper nur noch nationalsozialistische "Abgeordnete", deren Hauptaufgabe es war, für große Hitlerreden eine pompöse Kulisse zu bilden, wie etwa am 1. September 1939, als Hitler den Beginn des Krieges verkündete.
Die Kuppel des Reichstagsgebäudes wurde zwar nach dem Brand wieder instand gesetzt, sodass das Haus äußerlich unversehrt wirkte, aber der Plenarsaal wurde, da nicht mehr benötigt, nicht wiederhergestellt. Das Gebäude selbst diente der Verwaltung und wurde unter anderem auch für Propaganda-Ausstellungen benutzt.
1937 wurde Albert Speer als "Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt Berlin" mit dem Umbau Berlins nach den Wünschen und Plänen Adolf Hitlers beauftragt. Im Rahmen riesiger Baumaßnahmen, mit denen aus Berlin die "Welthauptstadt Germania" werden sollte, war im Spreebogen eine gigantische Kuppelhalle geplant, neben der das Reichstagsgebäude verschwindend klein gewirkt hätte. Auch für die Umgestaltung des Hauses wurden bereits erste Pläne ausgearbeitet. Die Vorbereitung des Krieges setzte dann allerdings andere Prioritäten. Im Krieg selbst waren in den Kellern des Reichstagsgebäudes Teile der gynäkologischen Abteilung der Charité untergebracht, sodass einige Berliner das Licht der Welt im Untergeschoss des Reichstagsgebäudes erblickten.
In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges lag das Reichstagsgebäude im Zentrum der Kampfhandlungen. Das Haus besaß für die Sowjets eine besondere Bedeutung, da sie es - zu Unrecht - als Symbol der Naziherrschaft betrachteten. Am 2. Mai 1945 eroberten sowjetische Truppen nach heftigen Kämpfen das Haus, das dabei schwer beschädigt wurde. Das millionenfach verbreitete Foto der sowjetischen Soldaten, die auf dem Dach die rote Fahne hissten, symbolisierte für die Sowjets die Vollendung ihres Sieges über Nazi-Deutschland.
In den Jahren nach dem Krieg stand das Haus als Ruine in einer von Trümmern und der zunehmenden Spaltung Berlins geprägten Stadtlandschaft. Die Grünflächen um das Haus wurden bepflanzt und dienten der Versorgung der hungernden Bevölkerung. Die Ruine bildete die Kulisse für eine Reihe von großen politischen Demonstrationen, deren wohl bedeutendste sich am 9. September 1948 gegen die Blockade Berlins richtete. Ernst Reuters Rede "Völker der Welt! Schaut auf diese Stadt!" wurde in ihrer Emotionalität zum Sinnbild des Behauptungswillens der von den Versorgungswegen abgeschnittenen Bevölkerung.
Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde die Ruine enttrümmert, die Reste der Kuppel wurden aus Sicherheitsgründen entfernt. Die Diskussion um das weitere Schicksal des Baus - Abriss oder Wiederaufbau - war eng verknüpft mit der Frage nach der zukünftigen Funktion des Hauses in einem geteilten Land.
1955 beschloss der Bundestag, das Gebäude wiederherstellen zu lassen, auch wenn die Art der Nutzung des Gebäudes noch nicht feststand. Nach einem zulassungsbeschränkten Architektenwettbewerb arbeitete Paul Baumgarten (1900-1984) die Pläne für den Wiederaufbau des Hauses aus. Die Fassade wurde, dem Geschmack dieser Jahre entsprechend, von allem "überflüssigen" Schmuck und Stuck befreit. Auf die Kuppel verzichtete man und kürzte die vier Ecktürme um ein Geschoss. Im Inneren ließ Baumgarten die noch vorhandene Originalsubstanz zum großen Teil mit Platten verkleiden, schuf mehr Platz durch neue Zwischengeschosse und vergrößerte den Plenarsaal, dessen Rundumverglasung Transparenz vermitteln sollte.
Während der Bauarbeiten schnitt die Errichtung der Mauer am 13. August 1961 das Reichstagsgebäude endgültig von seiner alten Umgebung ab und ließ seine Randlage deutlich werden. Wie überall, so stand auch zwischen dem Haus und dem Brandenburger Tor die Mauer nicht direkt auf der Grenzlinie, sondern knapp dahinter. Die exakte Grenze, die den alten Verwaltungsgrenzen entsprach, verlief mitten durch die Säulen, die am Ostflügel dem Gebäude vorgebaut waren.
Als das Haus zu Beginn der siebziger Jahre fertig gestellt war, hatte die Entspannungspolitik zwar viele Erleichterungen für die geteilte Stadt gebracht, zugleich aber die Präsenz des Bundes genauer geregelt: Plenarsitzungen des Bundestages in Berlin waren seit dem Viermächteabkommen nicht mehr möglich. Es fanden aber regelmäßig Sitzungen einzelner Fraktionen und Ausschüsse im Hause statt. Zum hundertsten Jahrestag der Reichsgründung zog in den Westflügel die später erweiterte Ausstellung "Fragen an die deutsche Geschichte" ein, die bis zu ihrer Schließung im Herbst 1994 von mehr als zwölf Millionen Besuchern aus dem In- und Ausland aufgesucht wurde.
Als Ende 1989 die Mauer geöffnet und Anfang 1990 auch hinter dem Reichstagsgebäude abgerissen wurde, rückte das frühere Parlamentsgebäude nicht nur geografisch wieder ins Zentrum, sondern gewann auch erneut eine gewichtige politische Funktion. In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 fand auf dem Platz der Republik der Festakt zur deutschen Einheit statt; am 3. Oktober tagte ein erstes gesamtdeutsches Parlament aus Bundestag und Volkskammer im Plenarsaal.
Am 20. Juni 1991 beschloss der Bundestag, seinen Sitz nach Berlin zu verlegen. Bald wurde klar, dass das Reichstagsgebäude Mittelpunkt eines neu entstehenden Parlaments- und Regierungsviertels werden sollte.
Nach einem Realisierungswettbewerb entschied sich der Ältestenrat des Bundestags für den überarbeiteten Entwurf des britischen Architekten Lord Norman Foster. Bevor der Rück- und Umbau des Gebäudes begann, gab der Bundestag grünes Licht für die seit vielen Jahren von Christo und Jeanne-Claude geplante Verhüllung des Reichstags. Die friedliche, entspannte Atmosphäre dieser Aktion im Sommer 1995 zog Millionen von Besuchern in ihren Bann und brachte dem Haus internationale Beachtung. Zugleich wurde deutlich, dass ein neues Kapitel der Geschichte des Reichstags beginnen konnte.
Seit April 1999 hat nun der Deutsche Bundestag das Gebäude bezogen, dessen innere und äußere Gestalt sich grundlegend geändert hat. Nach wie vor bildet der Plenarsaal das Zentrum des Hauses: fast doppelt so groß wie der wallotsche Sitzungssaal, von Licht durchflutet und von der großartigen Kuppel bekrönt. So umstritten sie einmal war, so sehr ist sie inzwischen zum Wahrzeichen des Hauses und zum Anziehungspunkt für Besucher geworden.
Fosters Umbau hat nicht nur ein modernes Parlamentsgebäude geschaffen, sondern zugleich durch die Integration der noch vorhandenen Bausubstanz dem Reichstagsgebäude einen Teil seiner historischen Identität zurückgegeben.
erschienen im Blickpunkt Bundestag, Ausgabe August Extra/2000
Text: Wolfgang Kaiser