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Die Lage im Sommer 1990 war dramatisch: Die Wirtschaft der DDR befand sich im freien Fall, die �bersiedlungswelle in die Bundesrepublik war ungebrochen und die Rufe nach einer raschen Wiedervereinigung wurden in Ost wie West immer lauter. Keine leichte Aufgabe f�r die 409 Abgeordneten der ersten frei gew�hlten Volkskammer, mit den sich �berschlagenden Ereignissen Schritt zu halten und die Transformation der DDR in einen demokratischen Rechtsstaat in geordneten Bahnen verlaufen zu lassen.
Es war ein enormes Arbeitspensum, was sie dabei zu bew�ltigen hatten, Tagungen am Wochenende inklusive. Kein Wunder, dass Sitzungspr�sident Dr. Reinhard H�ppner (SPD), der den Volksvertretern am Morgen des 22. Juli 1990 im Palast der Republik eine umfangreiche Tagesordnung vorlegte, seine Kollegen mit den Worten begr��te: "Ich denke, viele von uns, um nicht zu sagen, alle von uns werden urlaubsreif sein. Darum kann ich Ihnen jetzt eigentlich nur versprechen, wenn ich diese Tagung er�ffnet haben werde und leite: Es wird nichts �bers Knie gebrochen werden. Wir k�nnen alles ordentlich und in Ruhe bis zum Ende bedenken und verhandeln, und insofern sind auch voreilige Aufgeregtheiten nicht erforderlich."
In der Tat ging es an diesem Sonntag um eine weitreichende Entscheidung. Volker Schemmel (SPD), Berichterstatter des Ausschusses f�r Verfassung und Verwaltungsreform, sprach gar von einer "historischen Stunde" - sollte das ostdeutsche Parlament der Empfehlung seines Ausschusses folgen und dem Entwurf des L�ndereinf�hrungsgesetzes mit der n�tigen Zweidrittelmehrheit zustimmen.
Er sah vor, die seit 1952 in der DDR bestehenden 14 Bezirke aufzul�sen und stattdessen mit Wirkung vom 14. Oktober 1990 f�nf Bundesl�nder zu errichten: Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Th�ringen. Ost-Berlin erhielt als Hauptstadt der DDR Landesbefugnisse, die von der Stadtverordnetenversammlung und vom Magistrat wahrgenommen werden.
Dabei ging es um mehr als die Etablierung eines f�deralen Systems in der DDR. Mit der Angleichung an das staatliche Organisationsprinzip der Bundesrepublik, seit 1949 im Grundgesetz verfassungsrechtlich verankert, sollte ein weiterer Schritt hin zur Wiedervereinigung getan werden.
Doch nicht alle Abgeordneten konnten sich mit dem vorliegenden Gesetzentwurf anfreunden. Vor allem an der Frage der L�ndergrenzen entz�ndete sich eine lebhafte Debatte. Denn in 15 grenznahen Kreisen hatte es zwar B�rgerbefragungen gegeben, in denen die Einwohner f�r oder gegen die geplante Zuordnung ihres jeweiligen Kreises zu einem der k�nftigen Bundesl�nder votieren konnten.
Doch waren lediglich zw�lf Kreistage dem Mehrheitswillen ihrer Bev�lkerung in dieser Sache gefolgt und hatten einen entsprechenden Antrag auf Zuordnung gestellt. Zwar betonte Schemmel in seiner Begr�ndung der Beschlussempfehlung des Verfassungsausschusses, dass alle Kreistagsentscheidungen rechtm��ig seien, da es sich lediglich um B�rgerbefragungen und nicht um Volksentscheide gehandelt habe.
Dennoch musste er sich in der anschlie�enden Debatte Kritik gefallen lassen. So erhielt Dr. Dieter Gleisberg von den Liberalen viel Beifall, als er Schemmel fragte: "Herr Abgeordneter! Halten Sie es f�r demokratisch, wenn Volksbefragungen durchgef�hrt werden und dann in drei F�llen von den Kreistagen ignoriert werden?" Die Antwort Schemmels, der Ausschuss habe eindeutig festgelegt, "dass es rechtens ist, und was rechtens ist, d�rfte wohl auch demokratisch sein", rief hingegen Widerspruch im Plenum hervor.�
Auch der Hinweis H�ppners, eine philosophische Debatte solle nicht angeschlossen werden, beendete die Diskussion zu diesem strittigen Punkt keineswegs. Im Gegenteil: Der Abgeordnete Peter Hildebrand (B�ndnis 90/Die Gr�nen) stellte den Antrag, "dass in all den F�llen, wo der Kreistag anders entschieden hat, als es die Befragung der B�rger ergeben hatte, durch einen Volksentscheid aller in dem Territorium entschieden wird".
Da es zwei weitere �nderungsantr�ge zu anderen Bestimmungen des Gesetzentwurfs gab, so zum k�nftigen Status Berlins, wurde er schlie�lich in den Verfassungsausschuss zur�ckverwiesen.
Viel Zeit zur Beratung blieb diesem allerdings nicht, denn, so stellte H�ppner klar: "Da wir zu dieser Sitzung zusammengekommen sind, um dieses Gesetz zu verabschieden, wird die Volkskammer so lange - um welche Unterbrechungen auch immer - zusammenbleiben, bis dieses Gesetz verabschiedet ist."
Und so geschah es dann auch: Noch am selben Tag stimmten mehr als zwei Drittel der Abgeordneten f�r das L�ndereinf�hrungsgesetz. Alle �nderungsantr�ge, auch der des Abgeordneten Hildebrand, wurden abgelehnt. Kritik daran gibt es bis heute.
"Die Zw�nge des Einigungsprozesses, fehlende politische Praxis und die Euphorie des Wahlsieges lie�en vor allem die Ost-CDU im Eifer des Gefechts, unter anderem in Fragen der L�nderzugeh�rigkeit, f�r die nach dem Grundgesetz aus gutem Grund plebiszit�re Verfahren vorgeschrieben waren, Formen direkter Demokratie g�nzlich ignorieren", meint etwa der Historiker Michael Richter. "Das schadete in den betroffenen Regionen der Herausbildung eines demokratischen Bewusstseins."
Insgesamt allerdings entsprach die Entscheidung, f�nf neue L�nder zu gr�nden, durchaus dem Mehrheitswillen der Bev�lkerung. Fr�here Pl�ne der Regierung, lediglich drei oder vier Bundesl�nder zu konstituieren, hatten einen Sturm der Entr�stung hervorgerufen und waren deshalb rasch wieder ad acta gelegt worden - sehr zum Unmut von Manfred Prei�, dem zust�ndigen Minister f�r Regionale und Kommunale Angelegenheiten in Ost-Berlin.
Andererseits, so der Liberale in einem "Spiegel"-Interview vom 4. Juni 1990, sei es "ja auch erfreulich, dass die 40 Jahre Machtherrschaft der SED es nicht geschafft haben, das Heimatgef�hl und das Zugeh�rigkeitsgef�hl zu bestimmten Regionen aus den K�pfen der Menschen auszutreiben."
Mit der Entscheidung f�r das L�ndereinf�hrungsgesetz war der Weg frei f�r die Abstimmung �ber das L�nderwahlgesetz, das noch am gleichen Tag ebenfalls mit gro�er Mehrheit angenommen wurde. Es schrieb unter anderem die Modalit�ten der Landtagswahlen sowie die Anzahl der Abgeordneten in den f�nf neuen Landesparlamenten fest.
Als Wahltermin wurde der 14. Oktober 1990 bestimmt. Durch den Einigungsvertrag vom 20. September 1990 wurde dann die Konstituierung der f�nf neuen Bundesl�nder auf den 3. Oktober, den Tag der Wiedervereinigung, vorgezogen, die Landtagswahlen fanden wie vorgesehen am 14. Oktober 1990 statt. (nal)