Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2011 > Kerstin Griese (SPD)
Sie startete im Bundestag als Nachrückerin, leitete sieben Jahre den Familienausschuss, verlor 2009 ihr Mandat. 2010 folgte der Neustart: Wieder als Nachrückerin, nun aber im Europaausschuss. Kerstin Griese hat einen wechselvollen Weg in der Politik zurückgelegt. Dass Politik eine Leidenschaft ist, die nicht nur Freude, sondern auch Leiden schafft, erfuhr Kerstin Griese mit einem Schlag: Um halb vier in der Nacht nach der Bundestagswahl vom 27. September 2009 klingelte plötzlich das Telefon. Die nordrhein-westfälische Wahlleiterin rief an und teilte der SPD-Abgeordneten mit, dass sie nicht wieder in den Bundestag einziehen würde. Ihren Wahlkreis Mettmann II, zweimal direkt gewonnen, hatte die profilierte Familien- und Jugendpolitikerin überraschend an den Kandidaten der CDU verloren.
Doch was entscheidend war: Auch ihr vermeintlich sicherer Platz auf der Landesliste hatte das Mandat nicht retten können. Die SPD war in Nordrhein-Westfalen abgestraft worden. Sie hatte so viele Stimmen verloren, dass die Landesliste nur bis Platz 13 zog. Griese stand auf Platz 14. "Der größte Pechvogel der NRW-SPD", schrieb die Westdeutsche Zeitung damals mitleidig. "Es war ein großer Schock", bekennt die 44-Jährige. Mit einem Ausscheiden aus dem Bundestag hatte sie einfach nicht gerechnet.
Neun Jahre war Griese, die von Haus aus Historikerin ist, als Abgeordnete in Berlin. Für sie "der schönste Job der Welt" - vor allem wegen der Arbeit im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem sie sieben Jahre vorsaß. Nach dieser Zeit gefragt, kommt die gebürtige Rheinländerin richtig in Fahrt: "Spannende Jahre" seien dies gewesen, in denen sie dazu habe beitragen können, einen "Mentalitätswandel" in der Familienpolitik herbeizuführen.
"Kitaausbau, frühkindliche Bildung, Elterngeld - das waren wichtige Meilensteine". Griese macht kein Hehl daraus, dass sie diese Arbeit am liebsten fortgesetzt hätte. Doch der Wahlausgang machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Mehr noch: Es schien wie ein jähes Ende ihres politischen Weges.
Dieser war bis dato gradlinig verlaufen: Schon als Jugendliche engagierte sich die Pfarrerstochter gesellschaftlich - zunächst vor allem in der evangelischen Jugendarbeit in einem sozial schwachen Stadtviertel Düsseldorfs. Dort machte sie sich insbesondere stark für einen Jugendtreff.
Als besonders prägend beschreibt Griese die Kontakte, die sie in den achtziger Jahren zu einer evangelischen jungen Gemeinde in der DDR knüpfen konnte. Offiziell sei ein solcher Austausch nicht erlaubt gewesen, erzählt sie. Doch die Jugendlichen aus West und Ost hätten trotzdem Wege gefunden, sich zu treffen: "Wir sind nach West-Berlin gereist, einzeln am Bahnhof Friedrichstraße über die Grenze gegangen und haben uns dann in einem Haus an der Invalidenstraße getroffen. Ganz konspirativ." Grieses Augen leuchten in der Erinnerung daran. Heute wohnt sie nicht weit von diesem Ort entfernt, wenn sie in Berlin ist.
Auch eine andere Reise bewegte sie nachhaltig: 1984 besuchte sie das Konzentrationslager Auschwitz. "Ich stand da, las die Täterdokumente in deutscher Sprache und fragte mich, was mein Großvater zu dieser Zeit getan hat." Ein Schlüsselmoment für Griese.
Das Interesse für die deutsche Vergangenheit ließ sie nicht mehr los: 1986 schrieb sie sich an der Universität in Düsseldorf für die Fächer Geschichte und Politikwissenschaft ein. Fast 13 Jahre arbeitete Griese zudem in der dortigen Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus, erst als studentische Hilfskraft, dann - nach Abschluss des Studiums - als wissenschaftliche Mitarbeiterin.
1986 traf Kerstin Griese jedoch noch eine zweite, weitreichende Entscheidung: An ihrem 19. Geburtstag trat sie der SPD bei. "Ich fand die Partei so interessant, weil sie eine lange Geschichte hatte - aber auch, weil dort viele Milieus vertreten waren. Da gab es noch echte Malocher, Straßenbahnschaffner."
Griese begann sich in der Juso-Hochschulgruppe zu engagieren: "Gegen Studiengebühren, für eine Sozialberatung und Wohnraum für die Studierenden." 1989/90 wurde sie zur Vorsitzenden des Allgemeinen Studierendenausschusses, 1990 zur Präsidentin des Studierendenparlaments gewählt.
Zwischen 1994 und 1997 war sie zudem stellvertretende Vorsitzenden der niederrheinischen Jusos. Soziale Gerechtigkeit, Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und das Engagement gegen Rechtsextremismus sind für die unverheiratete und kinderlose Griese "Lebensthemen", die ihre politische Arbeit von Anfang kennzeichneten - bis heute.
Richtig in den Fokus der Öffentlichkeit rückte die damals 28-Jährige, als sie auf dem SPD-Parteitag in Mannheim überraschend in den Vorstand gewählt wurde. "Die Partei suchte damals händeringend nach jungen Leuten, die kandidieren", erinnert sich Griese. Fündig wurde sie bei ihr, der als undogmatisch geltenden und reformorientierten Jungsozialistin.
Als der Vorstand dann die Parole "30 unter 40" ausgab mit dem Ziel, junge Abgeordnete in den Bundestag zu bringen, fasste sich Griese ein Herz: Sie forderte in einer Kampfabstimmung den bisherigen Abgeordneten im Wahlkreis Düsseldorf heraus. Allerdings: "Das war ein gestandener Gewerkschafter, ich habe verloren", erinnert sich Griese.
Weil es eine Niederlage mit einem achtbaren Ergebnis war, bekam sie bei der Bundestagswahl 1998 einen Listenplatz, der ihr zwar trotz des rot-grünen Wahlsiegs nicht sofort den Einzug in den Bundestag ermöglichte. Als aber zwei Jahre später Dr. Willfried Penner zum neuen Wehrbeauftragten des Bundestages gewählt wurde, konnte Griese als Nachrückerin in den Bundestag einziehen.
Eine Chance, die sich ihr vor gut einem Jahr erneut bot: Nun war es Angelica Schwall-Düren, die am 15. Juli 2010 als Ministerin in die nordrhein-westfälische Landesregierung wechselte und deshalb auf ihr Bundestagsmandat verzichtete. Dieses Mal aber zögerte Griese. Neun Monate vorher war sie als sozialpolitischer Vorstand des Diakonischen Werks gewählt worden.
Für Griese, die seit 2003 auch zur Synode der Evangelischen Kirche gehört, ein "spannende Aufgabe" - und ein "Glücksfall". Nur eine Woche nach der verpassten Wiederwahl war der innerhalb der Kirche gut vernetzten Politikerin dieses Amt angeboten worden. "Es machte mir große Freude, und ich habe wirklich überlegt, ob ich nachrücke", erzählt Griese.
Doch der Reiz, wieder in den Bundestag zu gehen, war stärker. Nach vier Monaten - in denen sie noch versucht hatte, Job und Mandat miteinander zu vereinbaren - traf sie schließlich die Entscheidung, als Diakonievorstand zurückzutreten und sich voll auf die Politik zu konzentrieren.
Der Neustart im Parlament erfolgte unter anderen Vorzeichen: Griese ist nun nicht mehr Mitglied im Familien-, sondern im Europausschuss, kümmert sich hier neben sozialpolitischen Themen vor allem um die Flüchtlings- und Asylpolitik. Zum ersten Mal ist die Abgeordnete aber auch mit ihrer Fraktion in der Opposition.
Keine leichte Erfahrung für sie, die es gewohnt war, Verantwortung zu tragen - in Politik und Beruf: "Als sozialpolitischer Vorstand der Diakonie gab es viel zu entscheiden", sagt sie. "Das war wie ein Ministerium, viele Mitarbeiter, finanzielle Mittel, Projekte, Positionen, Strategien, Stellungnahmen - jeden Tag Entscheidungen."
Sich umzustellen, sei schwierig gewesen, gibt sie ehrlich zu. Warum sie trotzdem in den Bundestag zurückgekehrt ist? "Weil ich leidenschaftlich gern Parlamentarierin bin." (sas)