Sonntag 22. Mai 2005 |
Die CDU geht aus der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen erstmals nach 39 Jahren als stärkste politische Kraft hervor. Nach der um 18.00 Uhr veröffentlichten ersten Prognose des ZDF (Hochrechnung der ARD) erringt die CDU 45 % (ARD: 44,8 %) der Wählerstimmen. Die SPD rutscht auf 37,5 % (ARD: 37,6 %) ab. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erreichen bei leichten Verlusten 6 % (ARD: 6 %). Für die FDP werden 6,5 % (ARD: 6,1 %) angegeben. Mit dem bevorstehenden Regierungswechsel in Düsseldorf bauen CDU/CSU ihre Dominanz im Bundesrat zwar auf 43 von insgesamt 69 Stimmen aus, haben aber dennoch weiterhin keine so genannte Blockade-Mehrheit, wofür 46 Stimmen erforderlich wären. – Gegen 18.28 Uhr kündigt der SPD-Parteivorsitzende und Vorsitzende der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag Franz Müntefering vorgezogene Bundestagswahlen für den Herbst an. Müntefering sagt vor laufenden Fernsehkameras, Bundeskanzler Gerhard Schröder und er hätten „beschlossen“, im Herbst Neuwahlen auf Bundesebene zu veranlassen. Müntefering sagt wörtlich:
Wir suchen die Entscheidung. Es ist Zeit, dass in Deutschland die Verhältnisse geklärt werden. […] Die Menschen sollen das strukturelle Patt zwischen Bundestag und Bundesrat beantworten. Sie sollen sagen, von wem sie regiert werden wollen in diesem Land.
Müntefering teilt mit, dass am Dienstag der SPD-Parteivorstand mit den Landesvorsitzenden zusammenkommen werde, um über die Neuwahl offiziell zu beraten. – Ab 19.38 Uhr melden Nachrichtenagenturen, dass der Bundeskanzler es versäumt habe, Bundespräsident Horst Köhler vorab über die Pläne für ein vorzeitiges Ende der Legislaturperiode zu informieren. Ein Sprecher des Bundespräsidialamts sagte auf dpa-Anfrage:
Köhler wird sich mit der Frage befassen, wenn sie an ihn herangetragen wird.
Um 20.00 Uhr gibt Bundeskanzler Schröder gegenüber der Presse im Bundeskanzleramt folgende Erklärung ab:
Deutschland befindet sich in einem tief greifenden Veränderungsprozess. Es geht darum, unser Land unter den besonderen Bedingungen der Überwindung der deutschen Teilung auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts auszurichten. Mit der Agenda 2010 haben wir dazu entscheidende Weichen gestellt. Wir haben notwendige Schritte unternommen, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig zu machen und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken. Dies sind unabdingbare Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Erste Erfolge auf diesem Weg sind unübersehbar. Bis sich aber die Reformen auf die konkreten Lebensverhältnisse aller Menschen in unserem Land positiv auswirken, braucht es Zeit. Vor allem aber braucht es die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger für eine solche Politik. Mit dem bitteren Wahlergebnis für meine Partei in Nordrhein-Westfalen ist die politische Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit infrage gestellt. Für die aus meiner Sicht notwendige Fortführung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen gerade jetzt für erforderlich. Deshalb betrachte ich es als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als meine Pflicht und Verantwortung, darauf hinzuwirken, dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich, also realistischerweise für den Herbst dieses Jahres, Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen.
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Montag 23. Mai 2005 |
Regierungssprecher Béla Anda erklärt am Vormittag, die Neuwahl zum Deutschen Bundestag soll über eine gescheiterte Vertrauensfrage und eine darauf folgende Auflösung des Parlaments eingeleitet werden. – Das SPD-Präsidium habe sich nach Mitteilung des SPD-Parteivorsitzenden Müntefering einstimmig hinter den Vorschlag Schröders gestellt, eine vorgezogene Wahl des Bundestages im Herbst herbeiführen zu wollen. – Bundeskanzler Schröder unterrichtet in einem ca. 20-minütigen Gespräch am Nachmittag Bundespräsident Köhler über die Absicht, im Herbst 2005 Bundestagswahlen herbeizuführen. An dem Gespräch nahmen neben Köhler und Schröder zwei hochrangige Vertreter des Präsidialamtes sowie Kanzleramtchef Frank-Walter Steinmeier (SPD) teil. – Bundeskanzler Schröder unterrichtet die CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Angela Merkel, den stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion und Vorsitzenden der Landesgruppe der CSU Michael Glos sowie den Vorsitzenden der FDP-Fraktion Wolfgang Gerhardt am Abend, dass die Parteien für einen Neuwahltermin ausreichend Vorbereitung benötigen und in allen Bundesländern die Sommerferien beendet sein müssten. Aufgrund verfassungsrechtlicher Fristen soll die Vertrauensfrage am 1. Juli gestellt werden. Die Entscheidung des Bundeskanzlers wird von den Gesprächsteilnehmern „mit Respekt zur Kenntnis genommen“. |
Dienstag 24. Mai 2005 |
Nach Mitteilung des SPD-Parteivorsitzenden Müntefering stimmten rund 60 Teilnehmer der SPD-Parteivorstandssitzung für die Herbeiführung von Bundestagswahlen im Herbst, zwei stimmten dagegen, bei einer Enthaltung. Die Gegenstimmen kommen – wie einige Tage später bekannt wird – von den SPD-Bundestagsabgeordneten Ulla Burchardt und Christoph Zöpel. |
Mittwoch 25. Mai 2005 |
Das Bundeskabinett thematisiert in seiner Sitzung die geplante Neuwahl nicht. Regierungssprecher Anda sieht den Grund darin, dass die Bundesminister in ihren Parteigremien und Fraktionen über dieses Thema bereits beraten hätten. – Die SPD-Bundestagsfraktion berät um 11.00 Uhr in einer Sondersitzung über die vorgezogene Neuwahl. – Wie aus Regierungskreisen verlautet, will Bundeskanzler Schröder die Vertrauensfrage vermutlich nicht im Zusammenhang mit der für 2006 geplanten Senkung der Unternehmenssteuer verknüpfen. |
Freitag 27. Mai 2005 |
Es wird weiter spekuliert, ob möglicherweise die zwischen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN umstrittene Unternehmensteuerreform doch mit der geplanten Vertrauensfrage verknüpft wird. Genährt werden die Gerüchte, weil Regierungssprecher Anda öffentlich Kritik am grünen Koalitionspartner übt. – Mitglieder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN befürchten, dass der Koalitionspartner SPD nach Indizien für einen Vertrauensschwund sucht. Die Suche bei den Grünen zu beginnen, sei jedoch „ein albernes Schwarze-Peter-Spiel“, betont der Parlamentarische Geschäftsführer von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Volker Beck. – In der SPD-Fraktion wächst Presseberichten zufolge der Zweifel, ob es richtig sei, über eine verlorene Vertrauensabstimmung den Weg zu Neuwahlen freizumachen. Vor allem die 60 Abgeordneten der nordrhein-westfälischen Landesgruppe sehen dem Vernehmen nach nicht ein, warum sie dem Kanzler das Vertrauen entziehen sollten. |
Samstag 28. Mai 2005 |
Der Abgeordnete Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kündigt erstmals in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ eine Verfassungsklage an, sollte Bundeskanzler Schröder in einer Sachfrage künstlich das Misstrauen herbeiführen. |
Sonntag 29. Mai 2005 |
Bundespräsident Köhler erklärt in einem Interview der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ in Essen (Montagsausgabe), die Ankündigung von Neuwahlen durch den SPD-Parteivorsitzenden Müntefering habe auch ihn überrascht. Er teilt wörtlich mit:
Dass der Bundespräsident in einer so wichtigen Frage überrascht wird, ist schon bemerkenswert
. |
Montag 30. Mai 2005 |
Regierungssprecher Anda informiert darüber, dass Bundeskanzler Schröder aus Respekt vor dem Bundestag seine Entscheidung über die Art und Weise, Neuwahlen herbeizuführen, erst am 1. Juli im Bundestag bekannt geben wird. |
Dienstag 31. Mai 2005 |
Im Koalitionsausschuss von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird vereinbart, dass Bundesaußenminister Joschka Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) frühzeitig in die Vorbereitung der Vertrauensfrage am 1. Juli einbezogen werde. – Gegenüber der SPD-Bundestagsfraktion erklärt Bundeskanzler Schröder, er wolle am 29. Juni 2004 den Antrag zur Vertrauensfrage in den Bundestag einbringen und über diesen am 1. Juli abstimmen lassen. Der Parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer Wilhelm Schmidt (SPD) erklärt im Anschluss an die Fraktionssitzung, dass bis zum 29. Juni klar wird, ob die Vertrauensfrage mit einer Sachfrage verbunden werden soll. |
Mittwoch 1. Juni 2005 |
Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hält es für eine „denkbare Variante, dass bei der für den 1. Juli geplanten Vertrauensfrage Bundeskanzler Schröder auch über das ganze Kabinett abstimmen lässt. Schily sagt der „Bild“-Zeitung (Donnerstagsausgabe): „Auf diese Weise würde Klarheit geschaffen, dass die ganze Regierung diesen mutigen Schritt des Kanzlers mitträgt“. Dies wäre zugleich „eine klare Ansage an alle auch im Parlament, die – aus welchen Gründen auch immer – kein Interesse an Neuwahlen haben sollten“. – Bundespräsident Köhler versichert, er werde eine mögliche Auflösung des Bundestages „sorgfältig und nach bestem Wissen und Gewissen“ prüfen. Köhler betont in der Wochenzeitung „Die Zeit“:
Meine Mitarbeiter haben mir schon gesagt, sie seien beeindruckt, mit welch genauer Kenntnis der Verfassung und mit welch großem Respekt vor der Aufgabe und der Person des Bundespräsidenten zum Beispiel Willy Brandt vorgegangen ist.
Köhler kündigt an, er werde sowohl mit „Experten von außen“ als auch mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden sprechen. – Der stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg betont, dass das Verhältnis zwischen Schröder und Köhler von gegenseitigem Respekt und Achtung vor Person und Amt geprägt sei. So habe es der Kanzler als seine Pflicht angesehen, den Bundespräsidenten über die Pläne für Neuwahlen zu unterrichten, bevor die Öffentlichkeit darüber in Kenntnis gesetzt worden sei. Schröders Versuch, den Bundespräsidenten zu erreichen, sei jedoch zunächst erfolglos gewesen. Das habe Köhler über eine dritte Person erfahren und sich dann beim Kanzler gemeldet. |
Freitag 3. Juni 2005 |
Regierungssprecher Anda erklärt, dass Bundeskanzler Schröder die Einleitung von Neuwahlen durch einen Rücktritt ausschließt. |
Samstag 4. Juni 2005 |
Presseagenturen melden, Bundeskanzler Schröder habe nach Darstellung des Wochenmagazins „Der Spiegel“ (Ausgabe vom 6.6.2005) im vertraulichen Gespräch mit Bundespräsident Köhler fehlenden Rückhalt in der eigenen Fraktion als Grund für die angestrebten Neuwahlen genannt. Schröder habe am 23. Mai, einen Tag nach der Wahlniederlage der SPD in Nordrhein-Westfalen und der Ankündigung zu Neuwahlen, im Bundespräsidialamt von einem „erhöhten Erpressungspotenzial in der Fraktion und in der Koalition“ gesprochen. Schröder habe ferner in dem Gespräch angekündigt, er plane, dass bei der Vertrauensfrage im Parlament die Kabinettsmitglieder geschlossen gegen ihn stimmen. Diejenigen in der Fraktion, die ihm misstrauten, würden das nicht durch ihr Abstimmungsverhalten dokumentieren wollen und könnten möglicherweise seine Absicht durchkreuzen. Falls der Bundespräsident den Bundestag nicht auflösen sollte, denke er jedoch nicht an Rücktritt. |
Dienstag 7. Juni 2005 |
Im Streit um die geplante Vertrauensfrage kritisiert der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion Michael Müller die Informationspolitik des Bundespräsidenten. Dem „Handelsblatt“ (Mittwochsausgabe) sagt er:
„Wir müssen langsam die Auseinandersetzung mit dem Bundespräsidenten suchen“.
Köhler „streut so gezielt Informationen, dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit gefährdet ist“ . Das „Handelsblatt“ berichtet, in der SPD gäbe es Vermutungen, das Bundespräsidialamt lanciere Informationen über vertrauliche Gespräche zwischen Köhler und Schröder an die Öffentlichkeit. |
Mittwoch 8. Juni 2005 |
In scharfer Form weist die Bundesregierung Vorwürfe aus der SPD-Fraktion gegen Bundespräsident Köhler zurück. Regierungssprecher Anda spricht von „völlig unerträglichen Angriffen“. Die Zusammenarbeit zwischen Bundeskanzler Schröder und dem Staatsoberhaupt sei gut und vertrauensvoll. Der Bundeskanzler teile nicht den Verdacht, dass das Bundespräsidialamt für Indiskretionen über die Neuwahl-Strategie Schröders verantwortlich sei. – Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion Ludwig Stiegler wirft dem Bundespräsidenten mangelnde parteipolitische Zurückhaltung vor. Er kritisiert in einem Interview mit Reuters TV: „Herr Köhler ist leider parteipolitisch nicht so zurückhaltend wie alle seine Vorgänger“. – Johannes Kahrs, Sprecher der im Seeheimer Kreis organisierten SPD-Bundestagsabgeordneten, sagt dem „Handelsblatt“ (Donnerstagsausgabe):
Köhler ist ein Präsident, der seiner Aufgabe nicht gewachsen ist und sein Amt mit Parteipolitik verwechselt.
Das Agieren des Bundespräsidenten im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage nannte Kahrs eine „Schmierenkomödie der billigsten Art – aber der Mann ist eben so“. – Bundestagsvizepräsidentin Susanne Kastner (SPD) ruft Köhler zur politischen Neutralität im Wahlkampf auf. Der „Financial Times Deutschland“ (Donnerstagsausgabe) sagt Kastner, Köhler habe in der Vergangenheit eine politische Gesinnung gezeigt, die der Union näher stehe als den politischen Werten der Regierungsparteien. Seit der Grundsatzrede des Bundespräsidenten beim Arbeitgeberforum „Wirtschaft und Gesellschaft“ in Berlin am 15. März 2005 zum Thema „Die Ordnung der Freiheit“, in der das Wort soziale Gerechtigkeit nicht einmal erwähnt worden sei, herrsche in der SPD ohnehin Unmut gegen den Bundespräsidenten. – Der Parlamentarische Geschäftsführer von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beck sagt dem „Handelsblatt“ (Donnerstagausgabe), er habe „seit Anfang an den Eindruck, dass Köhler sein Amt nicht mit der notwendigen Überparteilichkeit führt“. – Der SPD-Parteivorsitzende Müntefering appelliert eindringlich an seine Partei, die Angriffe auf Bundespräsident Köhler einzustellen. Die Attacken von einigen in seiner Partei seien „nicht in Ordnung“, sagt Müntefering am Mittwochabend im „heute journal“ des ZDF. |
Donnerstag 9. Juni 2005 |
Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Wolfgang Bosbach (CDU) sagt der „Berliner Zeitung“ (Donnerstagausgabe), bei der Kritik der SPD an Bundespräsident Köhler handele es sich um ein „klassisches Ablenkungsmanöver“ der SPD; die „Angriffe auf den Bundespräsidenten sind völlig absurd“. – In scharfer Form ruft Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) seine Partei dazu auf, Angriffe auf Bundespräsident Köhler zu unterlassen. Er halte das Vorgehen von Teilen der SPD für „sehr übel“. „Wir müssen aufpassen, dass die Institutionen unseres Staates nicht beschädigt werden“. Zudem seien die Attacken in keiner Weise gerechtfertigt. Er schätze Köhler als „integre Persönlichkeit“. – Bundeskanzler Schröder erklärt am Nachmittag u. a.:
[…] Ich habe volles Vertrauen in die Überparteilichkeit des Herrn Bundespräsidenten. Das gilt auch für die Wahrung der Vertraulichkeit unserer Gespräche. Deshalb erwarte ich von führenden Mitgliedern meiner Partei, die andere Ansichten öffentlich geäußert haben, dies unverzüglich einzustellen. Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass es in einer politischen Ausnahmesituation zu unangemessenen Reaktionen und zu ausufernden Spekulationen kommt. Das darf aber nicht dazu führen, dass die Verfassungsorgane beschädigt und die Würde der in ihnen handelnden Personen verletzt wird. […]
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Samstag 11. Juni 2005 |
Bundespräsident Köhler sagt dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, die Menschen müssten darauf vertrauen können, dass mit der Verfassung sachgemäß umgegangen werde: „Alle Verfassungsorgane müssen an ihr Tun auch den Maßstab der Nachvollziehbarkeit gegenüber dem Bürger anlegen.“ Ferner kritisiert Köhler: „Ich glaube, dass die jahrzehntelange Politik des Übertünchens gescheitert ist.“ Zur Modernisierung des Landes gehöre auch Führung. Damit Reformen wirkten, müssten diese „konsistent und konsequent umgesetzt werden“. |
Mittwoch 15. Juni 2005 |
Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seiner Eilentscheidung, die von der rot-grünen Mehrheit im 2. Untersuchungsausschuss des 15. Deutschen Bundestages (sog. Visa-Untersuchungsausschuss) beschlossene Einstellung der Beweisaufnahme sei verfassungswidrig. Der Ausschuss müsse seine Arbeit bis zu einer möglichen Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten fortsetzen. |
Donnerstag 16. Juni 2005 |
Der Staatsminister im Kanzleramt Rolf Schwanitz informiert den Ältestenrat des Bundestages, dass der Bundeskanzler am 1. Juli die Vertrauensfrage stellen wird. Der Kanzler werde darüber Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) am 27. Juni in einem Schreiben informieren. Schröder wolle die Vertrauensfrage, wie angekündigt, ohne Verknüpfung mit einer inhaltlichen Frage stellen. |
Dienstag 21. Juni 2005 |
Bundespräsident Köhler berät mit den Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen und den jeweiligen Parteivorsitzenden die angestrebte Vertrauensfrage und die damit beabsichtigte Herbeiführung von Neuwahlen des Bundestages. |
Mittwoch 22. Juni 2005 |
Der stellvertretende Regierungssprecher Steg teilt mit, dass Bundeskanzler Schröder nun doch früher als geplant seine Gründe für die Vertrauensfrage mit dem Ziel einer Bundestagsneuwahl bekannt geben werde. Der Kanzler werde die Minister bereits am Mittwoch, den 29. Juni – zwei Tage vor der Vertrauensabstimmung am 1. Juli – darüber informieren. |
Donnerstag 23. Juni 2005 |
Die Parteien „DIE REPUBLIKANER“, „Mensch Umwelt Tierschutz“, „Ökologisch-Demokratische Partei“ (ödp) und „Deutsche Zentrumspartei“ erwägen nach einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ (Donnerstagsausgabe) eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. |
Montag 27. Juni 2005 |
Der stellvertretende Regierungssprecher Steg teilt mit, dass Bundeskanzler Schröder seinen Antrag auf Vertrauensfrage bei Bundestagspräsident Thierse eingereicht hat. Das Schreiben lautet: „Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stelle ich den Antrag mir das Vertrauen auszusprechen. Ich beabsichtige, vor der Abstimmung am Freitag, dem 1. Juli 2005, hierzu eine Erklärung abzugeben.“ (Drucksache 15/5825).
Der Parteivorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Reinhard Bütikofer erklärt nach Beratungen des Parteirats: „Wir wollen, dass der Weg zu Neuwahlen beschritten werden kann und werden im Rahmen der Verfassung unseren Teil dazu beitragen“. – Der SPD-Fraktionsvorsitzende Müntefering „lädt“ die SPD-Abgeordneten dazu „ein“, sich bei der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers der Stimme enthalten. Der 45 Mitglieder zählende Fraktionsvorstand der SPD billigt die Empfehlung bei 4 Gegenstimmen.
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Dienstag 28. Juni 2005 |
Tageszeitungen berichten, dass das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Neuwahlen auf der Basis einer absichtlich herbeigeführten Abstimmungsniederlage bei der Vertrauensfrage ablehnen könnte, denn es stünde ein Teil der Karlsruher Richter diesem Vorhaben äußerst kritisch gegenüber. Das Bundesverfassungsgericht weist am Mittag die Behauptung zurück, nach dem ein Teil der Karlsruher Richter eine bereits vorgefasste Meinung zur Berechtigung der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder habe. Die Sprecherin Dietlind Weinland sagt: „Das Verfassungsgericht nimmt zu eventuell kommenden Verfahren keine Stellung.“ Bislang sind in Karlsruhe keinerlei Klagen oder Beschwerden gegen das von Schröder angekündigte Verfahren eingegangen. – Mit dem Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages Klaus Kirschner und dem menschenrechtspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion Rudolf Bindig sowie dem Vorsitzenden der niedersächsischen SPD-Landesgruppe im Bundestag Holger Ortel kündigen die ersten Mitglieder der SPD-Fraktion an, sich gegen den Vorschlag der Fraktionsspitze zu stellen und stattdessen Bundeskanzler Schröder das Vertrauen auszusprechen. Im linken Parteiflügel deutet sich dagegen eine Abkehr von der bisherigen Position an, in jedem Fall für Schröder zu stimmen. – Müntefering bittet die SPD-Abgeordneten in einer Fraktionssitzung darum, sich bei der Vertrauensabstimmung am Freitag der Stimme zu enthalten. Am Rande der Fraktionssitzung teilt Müntefering mit, dass es darüber zuvor keine Abstimmung in der Fraktion geben werde. Ferner sagt Müntefering: „Man kann Gerhard Schröder auch dadurch das Vertrauen aussprechen, in dem man sich bei der Vertrauensfrage enthält.“ |
Mittwoch 29. Juni 2005 |
Bundeskanzler Schröder tritt am Morgen zu einem eineinhalbstündigen Gespräch mit den Ministern seines Kabinetts zusammen. Regierungssprecher Anda dementiert Berichte, nach denen Bundeskanzler Schröder die Vertrauensfrage mit „mangelnder Handlungsfähigkeit“ seiner Regierung begründen will. Er weist darauf hin, dass für den Kanzler entscheidend sei, „ob er für seine Politik vom stetigen Vertrauen der Mehrheit des Parlaments ausgehen kann“. Der Kanzler habe die Minister über „Motiv und Struktur“ seiner im Bundestag geplanten Erklärung zur Vertrauensfrage unterrichtet. Ferner teilt er mit, dass Bundeskanzler Schröder seine Beweggründe für die Vertrauensfrage erst am Freitag vor dem Parlament öffentlich machen werde. Bei seiner Vertrauensfrage werde sich der Bundeskanzler selbst der Stimme enthalten. Nach der Abstimmung werde Schröder Bundespräsident Köhler persönlich unterrichten. Die Ausführungen vor den Kabinettsmitgliedern seien „vertraulich“ erfolgt. – Doris Schröder-Köpf, die Frau des Bundeskanzlers, erwirkt beim Hamburger Landgericht eine einstweilige Verfügung gegen das Magazin „Stern“. Darin wird den Herausgebern der Zeitschrift untersagt, mehrere von Schröder-Köpf beanstandete Behauptungen aus einem Artikel vom 23. Juni 2005 erneut zu verbreiten. In dem Artikel „Der Doris-Faktor“ hatte die Autorin Ulrike Posche u. a. verbreitet, dass es möglicherweise Schröder-Köpf gewesen sein könnte, die ihren Mann auf die Idee mit der Vertrauensfrage gebracht haben könnte. „Stern“-Sprecher Frank Plümer kündigt Widerspruch gegen die Gerichtsentscheidung an. – In der Presse verlautet, dass die rot-grüne Regierungskoalition bis Donnerstagabend (30. Juni) im Bundestag bei Abstimmungen über kontroverse Gesetze noch 40-mal ihre Regierungsmehrheit unter Beweis stellen werde. Dabei gehe es nach Aussage des Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Fraktion Wilhelm Schmidt um Vorhaben wie die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, die Offenlegung von Vorstandsbezügen in Unternehmen und das Abgeordnetengesetz. Insgesamt stünden bis zur Entscheidung über die Vertrauensfrage am Freitag noch 72 Abstimmungen an. |
Donnerstag 30. Juni 2005 |
Nach Meinung der innenpolitischen Sprecherin von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Silke Stokar wüchse in der Regierungskoalition die Zahl der Abgeordneten, die wegen der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht unterstützen. – Die beiden fraktionslosen Abgeordneten von der PDS, Petra Pau und Gesine Lötzsch, kündigen an, mit „Nein“ stimmen zu wollen. – Bundeskanzler Schröder informiert den Koalitionsausschuss über sein Vorgehen. Der Vorsitzende der SPD-Fraktion Müntefering betont anschließend, er rechne nicht damit, dass Bundespräsident Köhler gegen die Vertrauensfrage Einspruch einlegen werde; einen „Plan B“ habe man nicht in der Tasche. Der Parteivorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bütikofer sagt, dass seine Partei ihren Teil dazu beitragen werde, dass es zu einer vorgezogenen Bundestagswahl komme. – Am Tag vor der Vertrauensfrage werden von der rot-grünen Regierungskoalition einmütig noch zahlreiche Beschlussfassungen auf den parlamentarischen Weg gebracht, darunter auch 17 Gesetze. |
Freitag 1. Juli 2005 |
Bundeskanzler Schröder informiert morgens die SPD-Fraktion über die genaue Begründung für seinen Antrag auf Vertrauen. Teilnehmer berichten, der Kanzler habe eine „sehr emotionale Rede“ gehalten. Eine direkte Empfehlung zum Abstimmungsverhalten habe er aber nicht abgegeben. Die SPD-Fraktionssitzung mit Schröder dauerte rund eine Stunde. – Anschließend unterrichtet Schröder auch die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über die weitere Vorgehensweise. Am Ende einer siebenminütigen Rede vor der Fraktion verbittet sich Schröder nach Angaben von Teilnehmern Solidaritätskundgebungen und Beifallstürme von jenen Grünen-Politikern, die ihn nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kritisiert hätten. – Bundeskanzler Schröder begründet seinen Antrag vor dem Deutschen Bundestag u. a. damit:
[…] Mein Antrag hat ein einziges, ganz unmissverständliches Ziel: Ich möchte dem Herrn Bundespräsidenten die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages und die Anordnung von Neuwahlen vorschlagen können. Der für meine Partei und für mich selber bittere Ausgang der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen war das letzte Glied in einer Kette zum Teil empfindlicher und schmerzlicher Wahlniederlagen. In der Folge dessen wurde deutlich, dass es die sichtbar gewordenen Kräfteverhältnisse ohne eine neue Legitimation durch den Souverän, das deutsche Volk, nicht erlauben, meine Politik erfolgreich fortzusetzen. […] alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien haben sich mit Nachdruck für die Auflösung des Bundestages ausgesprochen. Die Wählerinnen und Wähler unterstützen mit überwältigender Mehrheit meinen Wunsch nach Neuwahlen. […] Unsere Staatspraxis, die auch durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß bestätigt wurde, ist eindeutig. Der mit der Vertrauensfrage verbundenen Konsequenz von Neuwahlen stehen keine zwingenden verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen. […] Die SPD hat seit dem Beschluss der Agenda 2010 bei allen Landtagswahlen und der Europawahl Stimmen verloren, in vielen Fällen sogar die Regierungsbeteiligung in den Ländern. […] Dass wir diesen hohen Preis […] zu zahlen hatten, hat innerhalb meiner Partei und meiner Fraktion zu heftigen Debatten um den künftigen Kurs der SPD geführt. […] Es ging und es geht um die Frage, ob die Reformen der Agenda 2010 überhaupt notwendig sind oder ob sie nicht gar zurückgenommen werden sollten. […] Ersichtlich geht es der Bundesratsmehrheit in diesen wie in anderen Fällen […] nicht mehr um inhaltliche Kompromisse oder staatspolitische Verantwortung, sondern um machtversessene Parteipolitik […]. Nur eine durch die Wählerinnen und Wähler klar und neuerlich legitimierte Regierungspolitik wird bei der Mehrheit des Bundesrats zu einem Überdenken der Haltung und – wenn auch nicht kurzfristig – zu einer Änderung der Mehrheit führen.
Der Bundestag zählt bei Abstimmung über die Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder insgesamt 600 Abgeordnete – anstatt wie gesetzlich vorgesehen 601 –, da sich die Benennung eines Nachrückers für den ausgeschiedenen Abgeordneten Walter Hoffmann (SPD) verzögert hat. Die notwendige Stimmenzahl für die so genannte Kanzlermehrheit beträgt dennoch weiterhin 301. Die rot-grüne Koalition verfügte bei der Abstimmung über 303 Stimmen – statt wie sonst über 304. An der Abstimmung nehmen fünf Abgeordnete nicht teil – vier davon erklärtermaßen beabsichtigt: Von der SPD waren dies Herta Däubler-Gmelin, Uwe Küster und Sigrid Skarpelis-Sperk, von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Werner Schulz. – Über den Antrag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 des Grundgesetzes (Bundestagsdrucksache 15/5825) wird in namentlicher Abstimmung folgendermaßen abgestimmt:
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|
Abgegebene Stimmen |
Ja |
Nein |
Enthaltung |
Gesamt |
595 |
151 |
296 |
148 |
SPD |
245 |
105 |
– |
140 |
BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN |
54 |
46 |
– |
8 |
CDU/CSU |
246 |
– |
246 |
– |
FDP |
47 |
– |
47 |
– |
Fraktionslos |
3 |
– |
3 |
– |
Damit erreicht der Antrag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 Abs. 1 GG nicht die erforderliche Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Der Bundeskanzler verfehlt die notwendige Kanzlermehrheit. – Bundeskanzler Schröder bittet um 13.20 Uhr Bundespräsident Köhler um die Auflösung des Bundestages. – Das Bundesverfassungsgericht veröffentlicht die Begründung, warum es am 15. Juni die Fortsetzung der Zeugenbefragung im sog. Visa-Untersuchungsausschuss angeordnet hat. Darin heißt es: „Zwingende oder gewichtige Gründe“, übergangslos die Beweisaufnahme abzubrechen, seien nicht ersichtlich. Die Richter betonen, dass „der unerwartete Verlust von Beweismitteln“, die aus Sicht der Fraktionen von CDU/CSU und FDP von Bedeutung seien, dem Zweck des parlamentarischen Untersuchungsrechts „zuwiderlaufen“ würde. Die beiden Oppositionsfraktionen hätten „als qualifizierte Minderheit“ ein schutzwürdiges Interesse, dass die Arbeit des Ausschusses so lange fortgeführt werde, bis der Untersuchungsauftrag abgeschlossen sei, zumindest aber solange, bis sich „Anzeichen dafür konkretisieren“, dass der Untersuchungsauftrag nicht bis zu einem regulären oder vorzeitigen Ende der Wahlperiode erledigt werden könne. |
Montag 18. Juli 2005 |
Regierungssprecher Anda erklärt, dass die Bundesregierung davon ausgeht, dass Bundespräsident Köhler am Donnerstag oder Freitag seine Entscheidung über Neuwahlen bekannt geben wird. Das ergebe sich aus der Drei-Wochen-Frist. Köhler habe bereits angekündigt, die Frist von 21 Tagen nach der Vertrauensabstimmung möglicherweise voll auszunutzen. |
Donnerstag 21. Juli 2005 |
Gegen 15.20 Uhr wird bekannt, dass Bundespräsident Köhler am Abend in einer Fernsehansprache um 20.15 Uhr seine Entscheidung für oder gegen vorgezogene Neuwahlen bekannt gibt. – Um 20.15 Uhr führt Köhler in der Fernsehansprache, die von vielen Sendern live übertragen wird, u. a. aus:
[…] ich habe heute den 15. Deutschen Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September angesetzt. Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen, kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten. In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann. Dabei ist die Bundesregierung auf die Unterstützung durch eine verlässliche, handlungsfähige Mehrheit im Bundestag angewiesen. Der Bundeskanzler hat am 1. Juli vor dem Bundestag deutlich gemacht, dass er mit Blick auf die knappen Mehrheitsverhältnisse keine stetige und verlässliche Basis für seine Politik mehr sieht. Ihm werde mit abweichendem Abstimmungsverhalten und Austritten gedroht. Loyalitätsbekundungen aus den Reihen der Koalition hält der Bundeskanzler vor dem Hintergrund der zu lösenden Probleme nicht für dauerhaft tragfähig. […] Das Grundgesetz ermöglicht es aber dem Bundeskanzler, eine parlamentarische Vertrauensfrage mit dem Ziel zu stellen, vorgezogene Wahlen herbeizuführen. […] Eine Niederlage des Bundeskanzlers bei dieser Abstimmung allein reicht jedoch nicht aus, um den Bundestag aufzulösen. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine von stetiger Zustimmung der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll verfolgen kann. So gibt es das Bundesverfassungsgericht vor. Und so sieht der Bundeskanzler seine Lage. Ich habe die Beurteilung des Bundeskanzlers eingehend geprüft. […] Doch ich sehe keine andere Lagebeurteilung, die der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist. Ich bin davon überzeugt, dass damit die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestages gegeben sind. […]
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Zur Entscheidung des Bundespräsidenten erklärt Bundeskanzler Schröder u. a.: „[…] der Herr Bundespräsident hat die Weichen für Neuwahlen zum Deutschen Bundestag am 18. September gestellt. Ich begrüße seine souveräne Entscheidung sehr. Mit der Vertrauensfrage am 1. Juli ging es mir darum, Neuwahlen möglich zu machen. Dafür hatte ich seit der Ankündigung eine überwältigende Unterstützung in unserer Gesellschaft. Nicht nur alle Parteien, sondern – viel wichtiger – die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wünschen Neuwahlen. Im Herbst werden also die Bürgerinnen und Bürger das Wort haben. Sie können dann entscheiden, welchen Weg unser Land gehen soll. […]“ |
Freitag 22. Juli 2005 |
Beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gehen die ersten Klagen gegen die Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten ein. |
Montag 8. August 2005 |
Das Bundesverfassungsgericht hält den Beitritt dreier kleinerer politischer Parteien (Allianz für Gesundheit, Frieden und Soziale Gerechtigkeit; Familien-Partei Deutschlands; Ökologisch-Demokratische Partei) zum Organstreitverfahren der Bundestagsabgeordneten Hoffmann und Schulz für unzulässig. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts stellt fest, dass es an der erforderlichen Übereinstimmung der rechtlichen Interessen der klagenden Abgeordneten einerseits und der beitrittswilligen politischen Parteien andererseits fehlt. Das Interesse der Parteien an einer längeren Vorbereitungszeit für die nächste Bundestagswahl ist anders gelagert als das verfassungsrechtliche Interesse der klagenden Abgeordneten daran, dass ihnen der Abgeordnetenstatus nicht in verfassungswidriger Weise vorzeitig entzogen wird (Aktenzeichen: 2 BvE 4/05 und 2 BvE 7/05). |
Donnerstag 25. August 2005 |
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts erklärt, er habe die Organklage der Bundestagsabgeordneten Hoffmann und Schulz als unbegründet zurückgewiesen. Die angegriffenen Entscheidungen des Bundespräsidenten seien mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein dem Zweck des Art. 68 Grundgesetz widersprechender Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur Auflösung des Deutschen Bundestages und zu einer vorgezogenen Neuwahl zu gelangen, lasse sich nicht feststellen. Der Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im Deutschen Bundestag künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, sei keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen. Die Entscheidung ist im Ergebnis mit 7:1 Stimmen ergangen, im Hinblick auf den Maßstab der Entscheidung mit 5:3 Stimmen. Die Richterin Gertrude Lübbe-Wolff, die die Entscheidung im Ergebnis mitträgt, sowie der Richter Hans-Joachim Jentsch, der sie nicht mitträgt, haben der Entscheidung jeweils eine abweichende Meinung angefügt (Aktenzeichen: 2 BvE 4/05 und 2 BvE 7/05). |