"Wir müssen Zeit für politische Lösungen finden"

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD)

Mehr Engagement im Kampf gegen Armut, Entrechtung und für Demokratie fordert die SPD-Bundestagsabgeordnete Heidemarie Wieczorek-Zeul im Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament". Die Abgeordnete aus Wiesbaden gehört dem Bundestag seit 1987 an. Von 1998 bis 2009 war sie Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Das Interview erschien am 29. August 2011 in der Themenausgabe der Wochenzeitung mit dem Titel "Der Terror und die Folgen" aus Anlass des zehnten Jahrestages der Anschläge vom 11. September 2001.


Frau Wieczorek-Zeul, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von den Anschlägen auf New York und Washington erfahren haben?

Mein damaliger Büroleiter kam zu mir - ich saß gerade an einer Rede - und sagte, es sei ein Flugzeug in das World Trade Center geflogen. Ich brauchte nicht einmal die Bilder zu sehen, um zu wissen, dass das ein schwerer Angriff auf die USA war. Wir haben dann in meinem Ministerbüro die Ereignisse im Fernsehen verfolgt. Schon da war klar, dass die Welt niemals wieder so sein würde, wie sie vorher war.

Als Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung waren sie Mitglied im Bundessicherheitsrat - einem Kabinettsausschuss zur Koordinierung der deutschen Sicherheitspolitik -, der unmittelbar nach den Anschlägen zusammentrat. Wie haben Sie die Sitzung erlebt?

Wir haben am 11. September selbst und auch am nächsten Tag zusammengesessen. In der ersten Sitzung ging es - soweit ich mich erinnere - noch nicht um konkrete Beschlüsse. Aber natürlich war klar, dass die Aktivierung von Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, also die Bündnisverpflichtung, ein Punkt sein würde. Wir waren alle zutiefst bedrückt - aber auch entschlossen.

Entschlossen zu was?

Wir mussten Entschlossenheit zeigen, terroristische Netzwerke zu zerschlagen. Das bedeutete auch Unterstützung durch das Militär. Auf der anderen Seite war klar, dass es dabei nicht bleiben darf. In meiner Rede vor dem Bundestag am 16. November 2001, als die Entscheidung über die Operation Enduring Freedom anstand, habe ich es so formuliert: "Der Terrorismus braucht aber auch weitergehende Antworten, er braucht die Antwort einer weltweiten Koalition für Gerechtigkeit und Solidarität. Die Terroristen rechnen mit der Mobilisierbarkeit der Unterdrückten, der Armen und der sich ohnmächtig Fühlenden." Ich habe auch noch die Schlussfolgerung des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau in Erinnerung, der am 14. September 2001 vor dem Brandenburger Tor sagte, der beste Schutz gegen Terror, Gewalt und Krieg sei eine gerechte internationale Ordnung.

Wie weit sind wir auf dem Weg dorthin gekommen?

Es sind immer nur Schritte, die man machen kann, zum Beispiel bei der Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele. Schließlich existierte die Sorge, man könnte nach den Anschlägen statt einer gerechteren Weltordnung eine neue Weltunordnung erleben. Und in der Tat: Die Strategie von George W. Bush eines "Krieges gegen den Terror" hat lange Zeit die Welt geprägt. Aber es war und ist wichtig, dass der wirkliche Kampf gegen Armut, gegen Entrechtung und für Demokratie geführt werden muss.

Was bedeutete die Antiterror-Operation in Afghanistan für Ihr Ressort?

Bei meinem ersten Besuch in Afghanistan 2001 beeindruckte mich vor allem, wie begeistert Kinder, zumal Mädchen, wieder in die Schule gegangen sind und wie erleichtert alle waren. Ich musste oft versprechen, dass wir das Land nicht im Stich lassen würden. Die EU-Entwicklungsminister haben zudem einen Stufenplan zur Steigerung der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit beschlossen - mit dem Ziel, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens dafür aufzuwenden.

Rückblickend mit zehn Jahren Abstand: Hätten Sie nach 2001 in Ihrem Ressort etwas anders gemacht?

Im Ressort selbst nicht. Ich glaube, da haben wir die richtigen Schwerpunkte gesetzt. Die größten Schwierigkeiten waren die unzureichende Ausbildung von Polizei und die internationale Koordinierung des Wiederaufbaus. Man kann nicht sagen, dass es eine koordinierende Hand gab - auch nicht die UN. Umgekehrt war Afghanistan noch nicht so weit, Eigenverantwortung zu übernehmen.

Liegt in der mangelhaften internationalen Koordinierung des Wiederaufbaus auch heute noch das größte Defizit in Afghanistan?

Ganz eindeutig. Ein weiterer Teil der Probleme liegt darin begründet, dass in der Regierungszeit von Präsident Bush die Strategie nicht auf die Eindämmung der Taliban, sondern auf einen militärischen Sieg ausgelegt war. Das hat dazu geführt, dass in der afghanischen Bevölkerung der Eindruck entstand, eine Besatzungsarmee im Land zu haben. Erst mit Obama - und das war vielleicht zu spät - hat sich unsere Überzeugung auch auf der amerikanischen Seite durchgesetzt, dass es eben nicht um einen militärischen Sieg geht, sondern dass wir Zeit für politische Lösungen finden müssen. Andererseits ist es schon jetzt ein Riesenerfolg des Wiederaufbaus in Afghanistan, dass Millionen von Kindern überhaupt die Chance haben, in die Schule zu gehen, und dass die systematische Entrechtung von Frauen beendet worden ist.

Haben die rot-grüne und die schwarz-rote Bundesregierung in Afghanistan zu viel Gewicht auf den Bundeswehr-Einsatz am Hindukusch und zu wenig Gewicht auf den zivilen Wiederaufbau gelegt?

Nein. Aber im öffentlichen Bewusstsein spielt das Militär eine stärkere Rolle. Und natürlich sind die Kosten höher.

Im Januar 2010 hat Schwarz-Gelb angekündigt, die Mittel für den zivilen Wiederaufbau Afghanistans bis 2013 pro Jahr auf bis zu 430 Millionen Euro zu erhöhen. Ist das der richtige Weg?

Wenn man sich den jüngsten Fortschrittsbericht des Afghanistan-Beauftragten der Bundesregierung anschaut, sieht man, dass in weiten Teilen Afghanistans die Mittel aufgrund der Sicherheitslage gar nicht umgesetzt werden können.

Wie kann man verhindern, dass Islamisten Entwicklungszusammenarbeit behindern?

Beim Beispiel Somalia muss der internationale Druck so erhöht werden, dass der Zugang möglich wird. Unabhängig von Somalia kann es auch notwendig sein, solche Prozesse militärisch abzusichern. Es gibt die Verantwortung zu schützen und mein Eindruck ist, dass - siehe das Verhalten der Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat zu Libyen - mancher in der deutschen Politik das noch lernen muss.

Welche Schwerpunkte muss die deutsche Außen- und Entwicklungspolitik also im zweiten Jahrzehnt nach 9|11 setzen?

Was Afghanistan angeht, ist es das Wichtigste, politische Lösungen zu finden, die Länder der Region in den Prozess einzubeziehen, die Frauenrechte zu erhalten und Respekt für die Verfassung zu schaffen. Über Afghanistan hinaus wird es in den kommenden Jahren darauf ankommen, existierende Konflikte, wie den Nahostkonflikt, so zu lösen, dass es keine Mobilisierbarkeit von Gewalttätern mehr gibt. Deshalb sollte die EU Palästina anerkennen. Außerdem muss sich die internationale Gemeinschaft bemühen, die Globalisierung gerecht zu gestalten, die Millenniumsentwicklungsziele umzusetzen und die Frauen zu stärken. Wir müssen in allen Gesellschaften den Abstand zwischen Arm und Reich verringern, damit sich nicht ganze Generationen von Jugendlichen zurückgelassen fühlen.

Kann Entwicklungszusammenarbeit helfen, die Entstehung islamistischer Strukturen zu vermeiden?

Der stärkste Schlag gegen Al-Qaida waren die Demokratisierungsprozesse in Nordafrika - und die können außen- und entwicklungspolitisch unterstützt werden. Das heißt aber auch: keine doppelten Standards. Es geht nicht, dass Deutschland zurecht die Demokratisierung in Nordafrika unterstützt und gleichzeitig Saudi-Arabien Panzer liefert, die möglicherweise gegen Demonstranten eingesetzt werden. Das Beispiel Türkei zeigt: Islam und Demokratie können Hand in Hand gehen.

(tyh)